«Noch ’n Viertel?» Durch den Nebel aus Rauch und dicker Luft erkenne ich die üppigen Umrisse der resoluten Bedienung, die mich fragend mustert, ich nicke. Die Musik ist zu laut, um Worte zu verstehen. Seit gefühlt zwei Stunden tönt Manuela aus der Musikbox, immer wieder: «Schuld war nur der Bossa Nova» – der Hit der Saison. Es ist Juni 1963, unsere 10. ist auf Klassenfahrt am Rhein, Kaub, Loreley, Rüdesheim und heute Bingen. Nach dem Abendessen sind einige von uns von der Jugendherberge am Hang über den Fluss runter in die Altstadt gewandert, Ziel: das erstbeste Weinlokal. Ich bin 15, sehe aber aus wie 13, habe nur an Feiertagen am Tischwein genippt und dürfte hier gar nicht sein. Meine älteren, in Bahnhofskneipen und auf Schützenfesten sozialisierten Klassenkameraden beruhigen mich, zu Recht, niemand scheint sich um mein Alter zu scheren. Ich bestelle Weißwein, ein Schoppen, werde ich gefragt? Als der riesige Kelch mit dem grünen Fuß eintrifft, mache ich große Augen, ich kenne nur die normalen Gläser bei uns zu Hause, aber hier ist ja fast ein drittel Liter drin. Der Wein schmeckt so wie der meiner Eltern süß, lieblich nennen die das, der Zucker transportiert den Alkohol umso schneller ins Blut. Wir trinken, quatschen, rauchen. Die Laune steigt, mir ist heiß und leicht schwindelig. Nach dem zweiten Viertel wanke ich zur Toilette. Als ich zurückkehre, steht da ein dritter Kelch, irgendein fröhlicher Rheinländer hat ihn dem lustigen jungen Norddeutschen spendiert. Man will ja nicht unhöflich sein, also trinke ich weiter, bis mir der Kopf rotiert, ja, ja, der Bossa Nova, schon wieder das verdammte Lied, zieht denn keiner den Stecker? Jemand bläst zum Aufbruch, die Jugendherberge schließt um zehn die Tür ab, ich schwanke, kann kaum stehen. Starke Artländer Arme schleifen mich aus dem Lokal den Berg hoch. In der Herberge werde ich wie ein Kartoffelsack die Treppen hinaufgeschleppt, zu den Waschräumen im zweiten Stock. Ich muss würgen, schaffe es nicht mehr bis zum Klo. In der Not hängen mich zwei Mitschüler aus dem Fenster, und der gesamte Inhalt des lustigen Abends segelt hinunter in die Nacht, ein Glück, dass ich nicht hinterherfliege. Dann stopfen sie mich in die Duschkabine, drehen das kalte Wasser auf, mein Kopf beginnt aufzuklaren, als laut schreiend unser Klassenlehrer (der Bücherwerfer) herbeitobt: «Urban, was haben Sie getan, das gibt Ärger!» Ich stammele irgendwas von Manuela und stolpere in mein Bett.
Am nächsten Morgen passt mein Schädel kaum durch die Tür. Vor dem Frühstücksraum wartet der Herbergsvater mit Eimer, Lappen, Putzmittel und einer Leiter. Wortlos zeigt er auf die großen Fenster, die normalerweise einen perfekten Blick auf den romantisch im Tal fließenden Rhein erlauben, die nun aber völlig verklebt sind. Mit hochrotem Kopf hole ich mir die Höchststrafe ab, noch schwindelig stehe ich auf der wackeligen Leiter und putze unter den grienenden Gesichtern meiner Klasse und anderer Schüler, die genüsslich in ihre Brötchen beißen. Ich drehe mich um und sehe unten im Fluss die kleine Insel mit dem berühmten Binger Mäuseturm, in dem würde ich mich jetzt gerne verstecken … schuld war doch nur der blöde Bossa Nova, was kann ich dafür?
Meine erste Begegnung mit Popmusik war also eine schmerzhafte, immerhin war Manuelas Hit eine richtig gute, werkgetreue Coverversion des amerikanischen Originals «Blame It on the Bossa Nova», vom amerikanischen Autorenpaar Cynthia Weil und Barry Mann für die dünne Stimme der Sängerin Eydie Gormé verfasst. Weil/Mann waren Auftragskomponisten, die Anfang der 1960er-Jahre mit vielen anderen Teams wie Gerry Goffin/Carole King, Jerry Leiber/Mike Stoller, Doc Pomus/Mort Shuman, Ellie Greenwich/Jeff Barry oder Burt Bacharach/Hal David im New Yorker Brill Building an der Ecke Broadway/49. Street arbeiteten. Dort waren Hunderte von Musikverlagen zu Hause, die miteinander konkurrierenden Lohnschreiber saßen Tür an Tür in winzigen Bürokabinen, komponierten am Fließband und nahmen die Songs danach als Demos auf, Verkaufstrick und Kundenservice zugleich. Cynthia Weil und Barry Mann belieferten sehr unterschiedliche Klienten, aber wenn dabei zeitlose Klassiker vom Band fielen wie «On Broadway» für die Drifters, «Walking in the Rain» für die Ronettes oder «You’ve Lost That Lovin’ Feelin’» für die Righteous Brothers, bewies diese Art der Produktion ihre starken Seiten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatten angestellte Autoren viele Evergreens der populären Musik in den Büros der großen Musikverlage verfasst, die in der Tin Pan Alley, einem kurzen Abschnitt der 28. Straße/Ecke Broadway in New York, angesiedelt waren, ähnlich wie im Zeitalter des Barocks und der Renaissance die klassischen Auftragskomponisten für europäische Fürstenhöfe und Königshäuser. Weil/Mann verhalfen der britischen Band The Animals 1965 sogar zu einer Rockhymne, die fast politische Dimensionen erreichte, «We Gotta Get Out of This Place». US -Soldaten in Vietnam demonstrierten damit ihren Frust über die andauernde Hölle des Krieges.
Aber all das ahnte ich im Sommer 1963 natürlich noch nicht. Die Revolution des Rock ’n’ Roll der 1950er war an mir vorbeigerollt, für die Musik von Bill Haley, Elvis oder Little Richard war ich zu jung. Auch die Stars der folgenden Generation, der raue Eddie Cochran oder der frische Buddy Holly, fanden bei mir zu Hause nicht statt, genauso wenig britische Ersatzspieler wie der pflegeleichte Cliff Richard. Der einzige Sender, der permanent Popmusik spielte, war Radio Luxemburg, aber nicht bei Urbans zu Hause, da liefen ausschließlich Klassik, Nachrichten, Schul- oder Kinderfunk. Als niedersächsischer Knirps hatte ich am Radio gehangen, um den neuesten Geschichten aus dem norddeutschen Waldhagen über Bauer Piepenbrink und sein Dorf zu lauschen oder um Meisterdetektiv Kalle Blomquist auf der Spur zu bleiben.
Ich war schon 14, als nach ewigem Zögern meiner Eltern endlich ein Fernsehgerät angeschafft wurde, natürlich die abschließbare Variante. So eingeschränkt das Angebot mit nur einem Programm damals war, das ZDF sendete erst ab 1963, das Fernsehen öffnete mein Blickfeld, ließ mich fern sehen, manchmal auch spätabends, wenn meine Eltern schliefen und ich mich heimlich ins Wohnzimmer stahl. Allerdings lief selten ein Programm, das nicht als «jugendfrei» durchging, und Sendeschluss war sowieso schon kurz nach Mitternacht. Ich liebte die Fallschirmabenteuer der US -Serie «Sprung aus den Wolken» und besonders den Agenten John Drake der britischen Serie «Danger Man», der sich vor jeder Folge mit «Mein Name ist Drake, John Drake» vorstellte. Kein Wunder, dass dessen charismatischem Darsteller Patrick McGoohan die Rolle des James Bond angeboten wurde, er sie aber angeblich als Katholik aus religiös-moralischen Gründen ablehnte. Sein Markenzeichen liehen sich die Bond-Produzenten jedenfalls ungeniert aus. Ich verschlang Durbridge-Krimis, Sportsendungen und «Einer wird gewinnen», die europäische Spielshow des genialen H.J. Kulenkampff, ein meisterlicher Moderator oder Conférencier, wie man damals sagte, mal flapsig-frech, mal freundlich-charmant.
Aktuelle Musik konnte man im Fernsehen nicht sehen, außer deutsche Schlager von Manuela und Co. – nur ganz selten blitzten kurze Einblicke in eine für uns neue aufregende Musikwelt auf, wenn mein Bruder und ich die Sendungen des American-Folk-Blues-Festivals im kulturellen Grau des Fernsehprogramms entdeckten. Nach einer Idee des SWF -Jazzredakteurs Joachim-Ernst Berendt präsentierten die deutschen Veranstalter Horst Lippmann und Fritz Rau in ihrer wegweisenden Konzertreihe amerikanische Blues- und Folkkünstler auf europäischen Bühnen. Darunter waren viele von jungen Fans und Musikern verehrte Legenden wie Memphis Slim, John Lee Hooker, T-Bone Walker, Muddy Waters, Sonny Terry und Brownie McGhee, die oft zum ersten Mal überhaupt in Europa zu sehen waren. Die direkte, einfache, ehrliche Art dieser afroamerikanischen Künstler zu musizieren, ihre Trauer, Schmerz, Sorgen, Sehnsucht, Einsamkeit, aber auch Freude, Abenteuer und Lebenslust mit Seele und Gefühl, eben mit dem Blues, spontan auszudrücken, schoss mir sofort unter die Haut. Ich war infiziert.
In England strömten junge Bands wie die Rolling Stones, die Pretty Things oder die Yardbirds mit Eric Clapton und Jimmy Page in die American Folk-Blues-Konzerte, um die Musiker live zu erleben, deren Songs sie bisher nur von Importplatten kannten. Anschließend spielten sie die Songs nach. Einige wollten ihren Helden besonders nah sein. Der Konzertveranstalter Fritz Rau erzählte mir 2006, wie Mick Jagger 1970 bei einer von ihm organisierten Stones-Tournee in schnippischem Ton zu ihm sagte: «Du hast uns vor acht Jahren in Manchester aus der Garderobe geschmissen!» Tatsächlich hatte Fritz 1962 beim Folk-Blues-Festival-Konzert in Manchester drei schmale blasse junge Engländer, die unbedingt die amerikanischen Bluesstars treffen wollten, aus der Künstlergarderobe entfernt, ohne zu ahnen, wer die drei waren: Mick Jagger, 19, Keith Richards, 18 und Brian Jones, 20, Mitglieder einer aufstrebenden Londoner Bluesband, die sich nach einem Song ihres Idols Muddy Waters genannt hatten: «Rollin’ Stone».
In Quakenbrück versuchten sich indes die beiden Urban Brothers an einer wieder in Mode gekommenen Stilart, Skiffle. Ursprünglich in den 1920er- und 1930er-Jahren als Kombination aus Folk, Blues, Jazz, Country und Bluegrass entstanden, wurde Skiffle-Musik mit einfachen, oft improvisierten und selbst gebauten Instrumenten gespielt und in Bars, Tanzlokalen und auf Festen aufgeführt. In den 50er-Jahren wurde Skiffle-Musik vor allem in Großbritannien wiederbelebt, populäre Oldtime-Jazzbands wie die von Ken Colyer und Chris Barber begannen, in kleiner Besetzung beliebte Folksongs und Blues zu verjazzen. Besonders erfolgreich darin war Barbers Banjospieler Lonnie Donegan, dessen beschleunigte Version von «Rock Island Line», ursprünglich ein Song des Folkblues-Veteranen Lead Belly, ein Top-Hit wurde und im ganzen Land eine Welle von Skiffle-Combos auslöste – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum späteren Durchbruch britischer Beatmusik.
Diese Welle erreichte irgendwann auch die niedersächsische Provinz, mein Bruder Klaus hatte sich neben der Gitarre ein Banjo zugelegt, der Bass wurde aus einer Holzkiste, einem Besenstiel und einer Wäscheleine zusammengebastelt, ich lieh mir Mutters Waschbrett aus und klopfte mit Metallfingerhüten aus dem Nähkasten den Beat. Dazu sangen wir in unsere Version des Kazoo, meist eine Kirmeströte in Saxofonform, mit der wir unsere Stimmen verfremdeten und vorgetäuschte Trompeten- oder Sax-Soli bliesen. Unser Repertoire: bekannte amerikanische Folk- und Jazzsongs, von «When the Saints» zu «Take This Hammer» oder «John Henry», viele davon fanden wir in unserer speziellen Schatzkiste, einem dicken blauen Liederbuch mit Spirituals, Work Songs und Blues. Aus diesem Wunderwerk lernte ich die Akkorde der Songs am Klavier, brachte mir Harmoniezirkel und dessen Varianten und Verknüpfungen bei, begann endlich, Spaß an diesem Instrument zu entwickeln, zu improvisieren und frei mit den Tasten zu spielen. Zum sparsamen Skiffle-Sound passte Klavier allerdings nicht so recht, und die dazu erforderlichen Techniken des Barrelhouse, Ragtime oder Boogie-Woogie gaben meine Finger noch nicht her.
Für den Hausgebrauch brachte mein Bruder mir ein paar Gitarrenakkorde bei, was sich als sehr hilfreich bei der nächsten Freizeitaktivität, den katholischen Pfadfindern, erwies. Die trafen sich in einem eigenen Pfadfinderheim, das einsam unter großen Buchen auf einer Insel zwischen zwei Hase-Armen lag, ein idealer Platz, um unter sich zu sein, Musik zu machen, und allerlei Unfug anzustellen. An den traditionellen Ritualen und Regeln der Pfadfinder, an der Kluft mit Halstuch und Lederknoten, an Disziplin und Vereinsleben hatte ich kein Interesse, ich lavierte mich so durch. Umso erstaunlicher war es, dass ich zu einer Art Leitwolf, zum «Truppführer» bestimmt und später sogar zum örtlichen Häuptling, dem «Stammesführer» gewählt wurde – definitiv der erste in der Geschichte der Quakenbrücker St. Georg-Pfadfinder, der nicht imstande war, einen einzigen der für den Pfadfinder-Mythos «lebenswichtigen» Knoten zu knüpfen. Dafür konnte ich einige einfache Lieder auf der Gitarre begleiten, eine für die Stimmung am Lagerfeuer nicht zu unterschätzende Fähigkeit. Da wurden die Fahrten-Klassiker aus der obligatorischen «Mundorgel» in die Glut geschmettert, aber viel knisternder und spannender war die neue Art «Volksmusik», die wir nach und nach entdeckten, traditionelle amerikanische Folksongs und Spirituals wie «Michael Row the Boat Ashore» oder «500 Miles», wiederbelebt von Pionieren wie Woody Guthrie und Pete Seeger. Besonders ein Song wurde 1963 zu unserer Lieblingshymne, einfach, anklagend und poetisch zugleich, ein Lied gegen Krieg und Unterdrückung, für Freiheit, Gerechtigkeit und Respekt – ein neuer Song von einem 22-jährigen Sänger mit näselnder Stimme namens Bob Dylan aus der Folkszene New Yorks. Aber nicht dessen eigene spröde Fassung kam uns als erste zu Ohren, sondern die harmonisch-hübsche Hit-Version des Trios Peter, Paul and Mary. «Blowin’ in the Wind» war im Pfadfinderheim an der Hase ein Instant-Klassiker, er reflektierte wie kein anderer Song, den ich bis dahin gehört hatte, die Stimmung in der Hochphase des Kalten Krieges, die Furcht vor atomarer Gewalt, vor sozialer Ungleichheit, vor dem Verlust von Freiheit – und man konnte ihn gemeinsam mit Herz und Gefühl an jedem Lagerfeuer der Welt singen.
Dylan hatte das Lied 1962 geschrieben, nach der Kuba-Krise, die im August die Welt aufgerüttelt hatte. Obwohl die Karibik weit weg war, waren wir in unserer westdeutschen Nachkriegsidylle betroffen, fühlten die Angst vor einem Atomkrieg, die auch ein Jahr später noch nicht verflogen war. Dazu kam, dass die konservative Regierung in Westdeutschland uns keine Visionen und Ideen anzubieten hatte und kaum positive Signale aussandte. Da wurde zwar der verknöcherte Kanzler Adenauer, der auch in den Augen eines 15-Jährigen schon ewig regiert hatte, gegen den glanzlosen, trägen «Wirtschaftswunder-Minister» Erhard ausgetauscht, aber ein mutiges Zeichen des Aufbruchs war das nicht. Das wurde uns besonders deutlich bewusst, weil in den USA seit zwei Jahren eine charismatische Lichtgestalt als Präsident im Amt war. John F. Kennedy verkörperte alles, was wir in der deutschen Politik vermissten, Ideale, Engagement, Optimismus, Charme, mitreißende Ansprache, Witz, Ausstrahlung und den Glamour eines Filmstars – ja, JFK war mein Hero. Dann kam der 22. November 1963, ich sah gerade die Tagesschau, als die Eilmeldung des Attentats von Dallas eintraf. Ich konnte es nicht glauben, war wie erschlagen. Danach die Hoffnung, er könne überleben, und schließlich die bittere Todesnachricht. Nicht nur ich, das ganze Land war im Schock. Ich fühlte mich, als sei ein enger Freund oder Verwandter umgebracht worden, war emotional aufgewühlt, als wäre die Brücke zu einer gerechteren Welt zusammengebrochen, unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft zerstört.
In dieser turbulenten Zeit startete ein musikalisches Projekt, bei dem meine frisch erwachte Zuneigung zum guten alten Piano nützlich wurde. Uli, mit dem ich im ersten Jahr in Quakenbrück die Schulbank geteilt hatte, bevor er den Französischzweig und ich Latein wählte, fragte mich, ob ich Lust hätte, in einer Jazzband mitzumachen. Wulf und Ulis Bruder Hans-Jürgen, ehemalige AGQ -Schüler, die jetzt in Hamburg studierten, waren von der dortigen Jazzszene so fasziniert, dass sie eine eigene Band gründen wollten, und zwar in der Jazz-Diaspora Quakenbrück. Vielleicht auch, weil hier der hochtalentierte Uli wartete, der mit seinen 15 Jahren schon herausragend Klarinette spielte. Sein älterer Bruder war Posaunist und trat sogar mit Hamburger Kapellen auf, Wulf, der Antreiber und Organisator, zupfte ein solides Banjo. Ich fühlte mich geehrt, fragte mich jedoch, ob ich gut genug war. Ich kannte Oldtime Jazz in der populären britischen Version, Bands wie die von Chris Barber und Monty Sunshine waren auch in Deutschland angesagt. Doch deren verwässerter Dixieland, der zwar erfolgreich war, aber oft nur schlagerähnliche Melodien verjazzte und für uns wie Hintergrundmusik für Autohauseröffnungen und Volksfeste klang, war bei puristischen Jazz-Jüngern wie uns verpönt. Wir wollten den ursprünglichen Jazz wiederbeleben, so wie er seit etwa 1915 von afroamerikanischen und kreolischen Musikern in den Bars und Bordellen der schwarzen Viertel von New Orleans gespielt worden war. Für mich hieß das, die Platten der Originale hören und davon lernen, Musik von King Oliver’s Creole Jazz Band und von seinem Zauberlehrling, dem genialen Louis Armstrong, der schon als 17-Jähriger bei Oliver geglänzt hatte und der in den 20er-Jahren mit seinen Hot Five und Hot Seven Geschichte schrieb.
Damals waren die wichtigsten Jazzmusiker aus ökonomischen Gründen wegen fehlender Auftrittsmöglichkeiten von Louisiana nach Norden in die Metropole Chicago weitergezogen. Ausgerechnet eine Band weißer Musiker aus Chicago, die den Jazz aus dem Süden nachspielte, stand Pate bei der Namensgebung unseres ehrgeizigen Vorhabens. Ich bin nicht mehr sicher, ob das aus Absicht geschah oder nur, weil es gut klang: aus New Orleans Rhythm Kings wurden die Quaktown Rhythm Kings, und die wurden vervollständigt durch Dieter, der das Kornett blies, eine zusammengestauchte Trompete, und unseren Mitschüler Andreas, genannt Dicki, am Kontrabass, der mehr geschlagen als gezupft wurde, also der Bass. Das Kornett spielte die Hauptmelodien, Klarinette und Posaune phrasierten dazu und darüber, füllten die Zwischenräume, warfen sich Fragen und Antworten zu, improvisierten die Soli. Das Rhythmus-Trio von Banjo, Bass und Piano hatte schwer zu kämpfen, um sich gegen die lauten Bläser durchzusetzen und den Beat zu halten, zumal wir ganz traditionell auf Schlagzeug verzichteten. Verstärkung durch PA -Systeme steckte noch in den Babyschuhen, also hackte ich mit aller Kraft die Akkorde und Basstöne in die Tasten, die wir uns von den Platten abgehört hatten und die ich in ein graues Ringbuch schrieb. Beim Pianospielen waren die Tonarten mit vielen weißen Tasten die angenehmeren, also C-Dur, G-Dur, D-Dur mit Dominanten, Subdominanten und ihre Moll-Parallelen – für mich jedenfalls. Dummerweise waren die Instrumente unserer Bläser in B-Lagen gestimmt, ich musste daher viele Akkorde in B, Es oder As-Dur drücken, inklusive der ungeliebten schwarzen Tasten, eine weitere Hürde. Auf jeden Fall muss es ziemlich lustig ausgesehen haben, wie der kleine Junge mit dicken Wälzern unter dem Hintern besessen auf ein Klavier eindrosch und dabei sicher mal danebengriff, weil er sich kaum hörte.
Übungskeller mit Piano gab es nicht, und Bandproben in privaten Musikzimmern überforderten bald die Geduld noch so toleranter Eltern. Eher zufällig ergab sich die Chance, auf der Bühne des kaum genutzten Saals einer Gaststätte zu proben. Um auf die Bühne zu gelangen, musste man den schweren alten, muffigen Samtvorhang beiseitehieven, falls die Schnüre korrekt zogen. Dem reichlich verstimmten Klavier fehlten ein paar Hämmer, die Elektrik des Ladens musste aus Vorkriegszeiten stammen. Einmal griff ich auf der Suche nach dem Schalter für die Bühnenbeleuchtung daneben und landete im Sicherungskasten, der mit Blitz und lautem Knall explodierte. Der Stromschlag warf mich drei Meter zurück direkt auf den Klavierhocker. Meine Finger spielten die gesamte Probe Tremolo. Doch der Klang des alten holzgetäfelten Saals passte perfekt zum erdigen New-Orleans-Sound, so gut, dass wir mit einem Revox-Tonbandgerät einige Titel mitschnitten und davon eine eigene Schellackplatte pressen ließen.
Aber irgendwann wollten wir auch vor die Leute, die sollten hören und sehen, was da im Verborgenen köchelte. Es musste etwas Auffälliges her. Die beiden Studenten hatten oft einer der beliebtesten Hamburger Oldtime-Kapellen zugesehen, den Jailhouse Jazzmen in ihren gestreiften Sing-Sing-Hemden, die aber eigentlich einfache Fischer-Kittel waren. Die Idee wurde geklaut, ich tauschte Messdienergewand und Pfadfinderkluft gegen ein blau-weiß gestreiftes Hamburger Fischerhemd mit Stehkragen, für Quakenbrück ein exotischer Look. Zur öffentlichen Premiere der Band blieben wir gleich in der Gaststätte «Mauermann», in der wir probten, allerdings nicht im großen Saal. In unserer Lokalzeitung wurde per Anzeige verkündet, man beachte die fortschrittliche Kleinschreibung: «die neuen quaktown rhythm kings stellen sich vor mit einem tanztee, am sonntag, 1. märz 1964 bei e.mauermann im cafe, 17 uhr, eintritt frei».
Die Resonanz war groß, das Publikum überrascht und begeistert, ob getanzt wurde, entging meiner Aufmerksamkeit, so konzentriert starrte ich auf mein Akkord-Büchlein. Außerdem kamen mir bei dem Wort «Tanztee» schlagartig die traumatischen Erlebnisse meines Tanzkurses wieder hoch – die für den kleinen 14-jährigen Pit, ja, das war mein Spitzname, viel zu großen Tanzpartnerinnen, bei einem Fehltritt rauschte ich ständig mit der Nase gegen knallharte Büstenhalter, in den 60ern waren die Dinger offenbar noch aus Metall. Oder die Einsamkeit auf der Bank, wenn man bei der Damenwahl wieder mal als Letzter sitzen blieb. Oder das schallende Gelächter des gesamten Abtanzballs, als ich bei der offiziellen Vorstellung neben meiner einen Kopf größeren peinlich berührten Dame statt einer Verbeugung wie sie zu einem Knicks ansetzte und schnell noch den hochroten Kopf senkte, was dann wie eine Mischung aus Kratzfuß und Diener aussah.
Da tat der Erfolg der Rhythm Kings dem Selbstbewusstsein gut, als absolute Neulinge hatten wir uns für den bekanntesten Jazzwettbewerb im Nordwesten, dem Jazz Jamboree in Osnabrück, qualifiziert und erspielten uns dort nur einen Monat nach unserer Premiere völlig überraschend den zweiten Platz. Die Presse berichtete sehr positiv, und im Laufe des Jahres mehrten sich unsere Auftritte in der näheren und weiteren Umgebung in Jazzclubs, bei Festivals und Jazz-Tanzabenden, in Kneipen und Lokalen, an Schulen und Hochschulen, verbunden mit einer Einführung in die Geschichte des Jazz. Manchmal kam ich von Fahrten zu Konzerten erst weit nach Mitternacht nach Hause, argwöhnisch beäugt von meinen Eltern, die mich aber gewähren ließen, auch weil Bandleader Wulf für mein Wohlergehen bürgte, er studierte Pädagogik, was meinem Vater gefiel. Dennoch waren sie vielleicht froh, dass die Kings Zuwachs bekamen. Es hatte sich gezeigt, dass ein Kontrabass alleine der Band zu wenig Halt bot, es mangelte an Tiefe und Rückgrat. Im New Orleans Jazz übernahmen oft wie bei den traditionellen Brass Bands Tuba oder Sousafon diese Funktion. Das bot die Gelegenheit für meinen Bruder Klaus, der sich damals mit einem C schrieb und ebenfalls Pädagogik studierte, einzusteigen. Der Stuhl des Banjospielers war von Wulf besetzt, also brachte er sich innerhalb weniger Wochen das Tuba-Spielen bei, wurde viertes Bein der Rhythmus-Section, gab der Band den vermissten Wumms und meinen Eltern die Beruhigung, dass, wenn nötig, der ältere auf den jüngeren Bruder aufpasste.
Der weiteste Trip der QRK s führte nach Hamburg, unsere beiden «Senioren» hatten mit Geschick einen Auftritt im legendären Jazzlokal Riverkasematten in der St. Pauli-Hafenstraße direkt am Wasser der Elbe arrangiert. Als wir in Wulfs VW Cabrio über die Elbbrücken in die City fuhren und ich zum ersten Mal die Außenalster erblickte, in der Sonne glitzernd, mit Hunderten von Segelbooten übersät, war es um mich geschehen. Hier musste ich hin, egal wie.
Die Hamburg-Connection funktionierte auch in umgekehrter Richtung. Im Dezember 64 eröffneten wir in einem brach liegenden Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg unseren eigenen Jazzkeller. Quakenbrück war im Krieg Standort eines wichtigen Militärflugplatzes gewesen, der dazugehörende Bunker musste mit großem Aufwand entrümpelt, renoviert, gestrichen und eingerichtet werden. Nun trug er als plakativer Kontrapunkt zu seiner Nazi-Vergangenheit den Namen einer legendären afrokaribischen Bordellwirtin, die in der viel besungenen Basin Street von New Orleans ein berühmt-berüchtigtes Etablissement geführt hatte. Dort waren es Jazzgrößen wie Jelly Roll Morton, die als Hauspianisten die Kunden unterhielten: «Miss Lulu White’s Jazz Saloon». Lustigerweise kündigte die Lokalzeitung in ihrer Überschrift eine «Miss Lulu Wheite» an. Zur Einweihung der Quakenbrücker Filiale reiste einer der bekanntesten Trompeter des Nordens an, Abbi Hübner mit seiner neuen Band «Low Down Wizards». Der Laden war randgefüllt, die Luft feucht und stickig, die Bunkerdecke tropfte, meine Finger glitschten über die Tasten. Ob der neue Hotspot des Hot Jazz ohne Rotlicht dem historischen Vorbild bei post-musikalischen Jamsessions irgendwie nahekam, entzog sich meiner jugendlichen Kenntnis oder eher naiver Unkenntnis. Ich «ging» in dem Jahr ein paar Monate mit meiner ersten Freundin Marianne, wir trafen uns zu langen Spaziergängen mit scheuen Berührungen und Küsschen, aber nie mit Zunge. Ich blieb verbal forsch, doch hinter der großen Klappe unendlich schüchtern.
Die Transferstrecke Hamburg–Quakenbrück lief bald wie drei Dekaden später die Spielerakquise des Bundesliga-Basketballtopteams der Artland Dragons, das damals als Teil des Quakenbrücker Turn- und Sportvereins noch in der Embryophase schlummerte. Für besondere Anlässe besorgten wir uns in Hamburg Verstärkung, Wilm, den Schlagzeuger der Low Down Wizards und der Jailhouse Jazzmen, und den Kornettisten John Rosolowski, einen eigenwilligen Typ mit US -Army Crew Cut, der mit Mitte 20 nur feine graue Anzüge trug. «Kid John», so nannte man ihn, war ein blendender Musiker und holte aus seinem Horn vibrierende emotionale Töne, dazu konnte er mit seiner kehligen Stimme singen und scatten, als sei der Geist von «Satchmo» Armstrong in ihn gefahren.
Mit diesen beiden «Aushilfen» fuhren die vergrößerten Rhythm Kings am 25. April 1965 wieder zum Nordwestdeutschen Jazz Jamboree in Osnabrück. Wir waren zwar keine Neulinge mehr, galten aber immer noch als Außenseiter unter den erfahrenen Combos aus Nord- und Westdeutschland, ja sogar aus Holland. Ich war nervös, wagte gar nicht, ins Publikum der über 500 Zuschauer im voll besetzten Haus der Jugend zu schauen, und stierte starr auf meine Tasten. Der Beifall war stürmisch, aber was würde die Jury sagen? Am Ende eines langen Tages dann die Sensation. Sieger waren die Quaktown Rhythm Kings aus der Kleinstadt! Zudem wurde der immer noch sechzehnjährige Uli als bester Klarinettist ausgezeichnet, Wulf als bester Banjospieler. Kid John erhielt lobende Erwähnung und ich überraschenderweise den Preis des zweitbesten Pianisten. Über fünfzig Jahre danach erzählte mir ein Drummer aus Gronau in Westfalen, dass er drei Jahre vor unserem Triumph als Fünfzehnjähriger beim gleichen Jazz Jamboree in Osnabrück zum besten Schlagzeuger gewählt worden war. Es war derselbe Drummer, der in den 70ern in unserem späteren Hamburger Stammlokal Onkel Pö bei Auftritten oder Sessions meiner Band gerne mal als Panikpirat die Bühne enterte – Udo Lindenberg. Ich schaute in die alten Programmflyer des NW -Jazz Jamboree, die ich aufgehoben hatte, und tatsächlich, in der Ausgabe 1964 wurde er mit einer Fotoreihe vorgestellt, als «jüngster prämierter Schlagzeuger der Welt», Udo schon damals als Jazzer ein kleiner Star. 1964 mit 17 und 1965 bei unserem Sieg war er auch dabei, allerdings nicht im Wettbewerb, ich erinnerte ihn nur als den sehr jungen und verdammt guten Schlagzeuger eines Modern-Jazz-Quintetts aus Münster, als wir Quakenbrücker auf die Siegerehrung warteten.
In Quakenbrück waren wir endgültig die Local Heroes, das «Bersenbrücker Kreisblatt» titelte «Bombenerfolg beim Nordwestdeutschen Jazz Jamboree – Gesiegt: Quaktown Rhythm Kings». Der frische Ruhm brachte neue Einladungen zu Gastspielen, sogar das Angebot, bei einem großen Jazz-Festival im holländischen Hengelo aufzutreten. Bald darauf rief die nächste «battle», der offizielle Landeswettbewerb für Amateur-Jazz-Bands mit zahlreichen Bands aus ganz Niedersachsen und den anliegenden Bundesländern. Der Schauplatz der Veranstaltung war für mich persönlich heiliger Boden, der holzgetäfelte Große Sendesaal des NDR -Funkhauses Hannover, der Ort, an dem der legendäre Kuli sein EWG -Quiz zelebrierte, und ich durfte auf dessen Bühne den mächtigen Flügel bedienen, mehr ging nicht. Die Träume der erfolgsverwöhnten Rhythm Kings flogen zwar nicht auf den höchsten Gipfel, aber am Ende war der dritte Platz für uns ein Topergebnis, die heimatliche Presse, die uns vehement unterstützte, zweifelte allerdings das Urteil der Fachjury an und witterte Betrug, das Publikum im Sendesaal hätte eindeutig uns als Sieger gesehen.
Aber die Quakenbrücker Kings währten natürlich nicht ewig. 1966 gewannen wir noch einmal das Jazz Jamboree, doch nach 1967 liefen unsere Wege in viele Richtungen auseinander: Dieter «Pinko» Dietrich musste zum Bund und blieb danach in Quakenbrück, Dicki Tölle wurde Zahnarzt in Düsseldorf, Klaus Urban wurde Professor für Hochbegabtenpädagogik in Hannover und danach ein sehr erfolgreicher Poetry-Slammer, Hans-Jürgen Wittmann wurde Oberstudienrat in Hamburg und spielte lange beim «Ballroom Orchestra», Kid John Rosolowski blies 2022 auch mit über 80 in Hamburg und Umgebung die Trompete bei den «Fidgety Feetwarmers», Wulf Wallrabenstein wurde Professor für Didaktik der deutschen Sprache an der Hamburger Uni, Uli Wittmann studierte Anglistik, Romanistik und Ethnologie, war Dozent in Nigeria und an der Sorbonne. Vor etwa 15 Jahren sah ich dann einen TV -Bericht über Michel Houellebecqs Roman Möglichkeiten einer Insel , da saß Uli neben dem Autor, er hatte die ersten großen Houellebecq-Erfolge ins Deutsche übersetzt. Noch wichtiger war seine Arbeit als Übersetzer der zahlreichen Romane des französisch-mauritischen Autors J.M.G. Le Clézio, der 2008 den Literaturnobelpreis erhielt.
Und ich? Als ich den Rhythm Kings im Juni 1966 erklärte, ich könne beim Auftritt in Cloppenburg am 25. des Monats nicht mitspielen, weil ich zum Beatles-Konzert nach Essen fahren wollte, blickte ich in ungläubige, entsetzte Gesichter. Anscheinend hatten die Kollegen nicht mitbekommen, dass mein musikalisches Herz seit über einem Jahr bereits woanders schlug. Verbunden mit einer blasierten Arroganz dem Phänomen der neuen Popmusik gegenüber, die man sich noch nicht einmal angehört hatte, mündeten die Reaktionen der lieben Jazzer in blankem Unverständnis und kopfschüttelnder Ablehnung.
Egal, ich fuhr.