4 London Calling: die Dreifaltigkeit, der neue Messias und das Walross

Mitte September 1966, ich sitze am kleinen Aufklappschreibtisch in meinem Zimmer in der Bonnusstraße 16, es heißt immer noch Kinderzimmer. Ich teile es mit meiner siebenjährigen Schwester Gaby, allerdings durch eine Wand aus Presspappe und eine Tür getrennt, die eingezogen wurde, als wir von Haus Nr. 12 zu Nr. 16 umzogen, schalldicht kann man das nicht nennen. Es ist Zeit, die Unterlagen für die Einschreibung an der Uni zu sammeln, ich muss den Lebenslauf noch fertigstellen, sollen darin die Dinge stehen, die mich wirklich interessieren?

Lange habe ich überlegt, was ich studieren soll, bloß nicht Lehrer wie die ganze Familie, schon aus Prinzip, habe sogar über BWL nachgedacht, aber will ich Diplomkaufmann werden, über Tabellen, Zahlen, Steuergesetzen oder Börsenkursen sitzen? London, England, Shakespeare und die Musik haben so viel in mir ausgelöst, dass die Entscheidung am Ende logisch und leichtfällt, ich will Englisch studieren, das schließt natürlich erst einmal die Laufbahn als Lehrer ein, diese Kröte muss ich schlucken. Meine Eltern haben die Uni im katholischen Münster vorgesehen, ich aber beharre auf Hamburg, das wenigstens einen Hauch von London verspricht, und setze wie so oft meinen Dickkopf durch, allerdings unter der Bedingung, in einem katholischen Studentenheim namens Franziskus-Kolleg zu wohnen. Aber auch da sind freie Plätze rar, unter Katholiken hat persönliche Einflussnahme schon immer nicht geschadet, also hat der Leiter des Studentenheims, ein Franziskanerpater, zwei Briefe erhalten, einen von meinem Vater, dem Schulrat, Kirchenvorstand und CDU -Abgeordneten, den zweiten von unserem promovierten Kaplan und Religionslehrer. Eine Woche später die Antwort, ich habe den Platz.

Weiter mit dem Lebenslauf, unter Hobbys trage ich ein: Musik hören und machen. Meine Gedanken kommen ins Kreisen, so schlecht ist die Schulzeit aber auch nicht gewesen, die denkwürdigen Erlebnisse mit der Schauspielgruppe unter der intensiven Leitung des Deutschlehrers Köster kehren im Kopf zurück, die aufregenden Probewochen weg von der Schule, weg von zu Hause, die umjubelte Premiere des Urfaust, meine Rolle ist klein, einer der Säufer in Auerbachs Keller, ich muss singen und Gitarre spielen, aber ich bin froh, dabei zu sein, Eberhard Haar aus der Parallelklasse brilliert mit einem wahrhaft teuflischen Mephisto, erntet überragende Kritiken, der muss einfach Berufsschauspieler werden, sagen alle, sogar das ZDF kommt und filmt Szenen mit ihm, dem Faust von Hans-Gert Pöttering, später einmal Präsident des Europäischen Parlaments, und dem zerbrechlichen Gretchen, der hübschen Annegret, dann der Spaß, auf Tournee zu sein, wir spielen die Inszenierung überall im Landkreis. Dann die großartige Klassenreise, die uns wirklich zu elf Freunden gemacht hat, genauer zu zehn und einer Freundin, stärker als all die Schuljahre davor. Die Abiturprüfungen scheinen schon weit weg, alles lief glatt, nur der Abi-Ball nicht, die Lehrer boykottierten ihn, weil ein paar ganz Schlaue den BMW Isetta einer Lehrerin entwendet, auf die Eingangstreppe unserer nagelneuen Schule gehoben und dabei eine Stufe zerbrochen haben. Da sind unsere Feiern lustiger gewesen, so klein unsere Klasse auch war, die Woche nach dem Abi wurde grandios. Jeden Tag an einem anderen Ort, in geduldigen Elternhäusern, Wohnzimmern, Kellern, Scheunen, Bauernhöfen, Kneipen. Viel, manchmal zu viel Alkohol, mal sinnlose, mal tiefe, oft komische Gespräche über Lehrer, den drohenden Wehrdienst, das Leben und die Welt. Und eines Nachts vor der Eingangstür eines Bauernhauses der erste Zungenkuss …

Ach ja, die Fußball-WM hat auch stattgefunden, in England. Da hatte ich noch etwas zu klären. Im Mai habe ich an einem Preisausschreiben des Osnabrücker Tageblatts teilgenommen, es gibt einen Flug zur Fußball-WM 1966 in England zu gewinnen. Die Glücksfee hat meine Postkarte gegriffen, kaum von der Klassenreise zurück, hätte ich wieder losfahren sollen, die Abiturprüfungen vor der Tür. Obwohl ich fast genauso fußballverrückt wie musikbesessen bin, lasse ich den Juli verstreichen. Ende August, Deutschland ist Vizeweltmeister, rufe ich die Zeitung an und stoße auf erstaunte Ohren, als ich frage, ob der Preis auch nach der WM noch einlösbar ist. Ich bleibe stur und erreiche nach langen Diskussionen, dass ich meine Gewinnerreise Ende September antreten kann.

***

Da saß ich nun in der KLM -Maschine von Amsterdam nach London-Heathrow, mein erster Flug. Mir rauschte «Eight Miles High» der Byrds in den Kopf, einer der Songs des Jahres, abgehobene Harmoniestimmen und ungezügelte, kakofonische Gitarren, psychedelischer Trip oder gar Free Jazz? Hatten die Beatles, die gleichzeitig ihr Album «Revolver» aufgenommen hatten, den Byrds-Überflieger wahrgenommen? Bestimmt, genau wie «Pet Sounds», das im Mai erschiene Meisterstück der Beach Boys mit einem der schönsten Songs, den ich jemals gehört hatte, «God Only Knows». Ein Paradies aus wunderbaren Chören, traumhaften Melodien und schwelgerischen orchestralen Klängen, meilenweit entfernt von ihrem früheren albernen Fun-Sound für fröhlich feiernde kalifornische Surf Kids. «Pet Sounds» hatte auch die vier im Abbey Road Studio sicher schwer beeindruckt.

Im August war «Revolver» herausgekommen, mit seinem haarigen Cover, das Klaus Voormann, Freund aus Hamburger Zeiten und jetzt Bassist bei Manfred Mann, gezeichnet hatte. Ein weiterer Meilenstein, ihr anspruchsvollstes Werk, das erneut Grenzen verschob. Da wurden Aufnahmespuren von Stimmen und Instrumenten rückwärts abgespielt, was nie gehörte Effekte produzierte, genau wie die Innovationen bei der Aufnahme von Gesang oder Schlagzeug. Klassische Elemente, Bläsersätze und Georges inspirierter Einsatz der Sitar, sein Ausflug in indische Musik, vergrößerten das Spektrum. Ich liebte diese kreativen, mutigen Ideen, die raffinierten Harmoniestimmen und den scheinbar nicht versiegenden Strom faszinierender Melodien. Ich brauchte nur an «For No One» und «Here, There and Everywhere» zu denken, da lief mir das Herz über, oder an «Eleanor Rigby», niemand hatte schöner und zugleich trauriger über die Einsamkeit alter Menschen gesungen. Den weitesten Satz nach vorne hatten die Beatles aber mit «Tomorrow Never Knows» gewagt, Sitar-Klänge wiesen den Weg, ein mächtiger Bass/Drums-Groove legte den Grund, und darüber flossen Lennons Zeilen wie beschwörende tibetanische Gesänge. Aber damit nicht genug, Paul war von den Avantgardekomponisten Karlheinz Stockhausen und John Cage begeistert und hatte aus rückwärts gespielten Bandschnipseln, elektronischen Geräuschen, Möwenschreien und Soundeffekten futuristische Bandschleifen gebastelt, die rein, raus, hin und her flogen und sich mit wilden Gitarrensoli duellierten. Zusammen mit Johns Stimme, die wie durch ein Megafon immer tiefer in den Raum driftete, entstand ein hypnotisierender musikalischer Trancezustand, der nicht nur mir beim ersten Hören die Sprache verschlug.

Immer verständlicher wurde der Entschluss der Band, keine Livekonzerte mehr spielen zu wollen, viele Songs der letzten beiden LP s waren in langen Sessions mit großem musikalischen und technischen Aufwand aufgenommen worden und ließen sich nicht auf der Bühne reproduzieren. Außerdem waren die schrillen hysterischen Nebengeräusche bei Beatles-Auftritten in Hallen und Stadien so vehement, die Lautsprecher- und Monitoranlagen noch so unausgereift, dass allein deswegen Livekonzerte eher eine Qual als ein Vergnügen sein mussten, das hatte ich vor drei Monaten in Essen mit eigenen Ohren erlebt.

«Ladies and gentlemen, fold up your tables, please, we’ll be landing at London-Heathrow in about ten minutes.» Die blecherne Stimme aus dem Bordlautsprecher riss mich raus. Welcome back.

Der Shuttlebus vom Flughafen zum Victoria Air Terminal brauchte ewig, von da zum vom Reisebüro gebuchten ziemlich sterilen Touristenhotel in der Nähe des British Museum per Tube, ich war glücklich, wieder die Londoner U-Bahn-Luft zu riechen. Ich hatte eine Woche, die Zeit drängte. Zunächst wollte ich mein erwachtes Interesse an Soulmusik stillen, die amerikanischen Originale waren gerade nicht auf Tour, doch es gab guten Ersatz. Geno Washington, ein amerikanischer Ex-G.I., war in England hängen geblieben und bot mit seiner Ram Jam Band in den Clubs des West End eine solide Soulshow, die das Tiles im Rahmen einer von Radio London organisierten «Ready Steady Radio Show» mit bekannten DJ s des Senders auf die Füße brachte. Das Tiles war ein modern gestylter Club ohne Pub-Seligkeit, mit klaren Linien und viel Orange, obwohl er in einem Keller lag, direkt an der Oxford Street, der hektischen Haupteinkaufsmeile Londons, damals noch nicht von internationalen Ketten besiedelt, sondern Sitz der traditionellen britischen Kleidungsgeschäfte und Warenhäuser wie Marks & Spencer, John Lewis oder dem Platzhirsch Selfridges sowie Heimat meines Traumladens HMV , des angeblich größten Schallplattengeschäfts der Welt. Zurück zu Hausnummer 79, dem Tiles. Leader und Gitarrist der Ram Jam Band war Pete Gage, der Anfang der 70er dann die Band Vinegar Joe gründen und die famose Soulstimme des damaligen Kunststudenten Robert Palmer entdecken würde.

Das BBC Broadcasting House, ein runder Bau, der wie die Aufbauten eines riesigen Ozeandampfers wirkte, thronte in der Nähe des Oxford Circus am Portland Place. Ich hatte dort nachgeforscht, wann und wo die mittäglichen Radio Live Shows stattfanden, nicht im Funkhaus, sondern in BBC -Studiotheatern im Westend. Am nächsten Mittag pilgerte ich in eine kleine Seitenstraße des Strand nahe Trafalgar Square, die Craven Street. Dort befand sich das historische Playhouse Theater, das die BBC in den 50er-Jahren übernommen hatte und dort Comedy Programme wie die Goon Show vor Publikum produzierte. Nun wurden von dort auch Pop Shows übertragen wie an diesem Tag die Joe Loss Show. Start war um 1 p.m., 13 Uhr, ich zahlte zwei Shillings und war drin, das große Theater war fast gefüllt, meist mit Frauen in der Mittagspause. Rotlicht, dann kam der Moderator oder, wie die Briten sagten, der Presenter, der auch mir von der BBC -Langwelle vertraute Tony Hall. Tony sagte Joe Loss an, und dann saß auf der Bühne eine Swing Big Band, dirigiert von dem grau melierten Loss, einem Liebling der Queen, die ihn und sein Orchester gerne in den Palast einlud. Doch es begann keine Swing-Party, das Orchestra spielte aktuelle Pophits, gesungen vom angestellten Sänger der Big Band, Ross McManus. Als Ende der 70er-Jahre der neue britische Star Elvis Costello erzählte, dass sein richtiger Name McManus und sein Vater Bigband-Sänger sei, wusste ich, ich hatte mittags in der BBC Live Show den Dad von Elvis Costello gesehen.

Einen deftigen Mittagslunch für Rockfans gab es aber auch in der Joe Loss Show, die Troggs spielten live und laut, gerade hatten sie mit dem Nachfolger von «Wild Thing» Platz 1 der Charts erreicht, «With a Girl Like You» sorgte für heftiges Kreischen in der Mittagspause.

Mein nächstes Ziel war der HMV -Shop in der Oxford Street, ich wollte mich nach neuen LP s umschauen und prüfen, wie viele davon mein Budget erlaubte. Ich blieb in der Gegend, denn nach einem Stopp in einem Wimpy’s wollte ich abends wieder ins Tiles, derselbe Club, der gleiche Stil mit Chris Farlowe and the Thunderbirds. Farlowe, ein Mann mit kräftiger raspeliger Stimme, hatte im Sommer mit der Stones-Nummer «Out of Time» vier Wochen lang die britischen Single-Charts angeführt. Der Titel stammte vom jüngsten Rolling-Stones-Album «Aftermath», das für die Band einen Quantensprung darstellte. Zwar hatten sie schon früher gute Songs geschrieben, zum Beispiel die klassische Ballade «As Tears Go By» für die damalige Jagger-Freundin Marianne Faithfull, aber «Aftermath» war die erste LP mit ausschließlich eigenen starken Kompositionen von Mick und Keith, vom bissigen Sozialspott in «Mothers Little Helper», der knackigen Machohymne «Under My Thumb» bis zu «Lady Jane», der zarten höfischen Ballade im Renaissance-Stil. Das alles war höchst fantasievoll arrangiert und instrumentiert, denn Brian Jones war ein vielseitiger Musiker, der Mandoline, Dulcimer und Marimba spielen konnte und ebenfalls die Sitar entdeckt hatte. Doch ein spektakuläres Highlight getreu ihrer Tradition als Bluesband gab es auch, die elfminütige R&B-Orgie «Goin’ Home», die mit einem harmlosen Shuffle begann, dann das Tempo zu einem schneller werdenden Beat wechselte, auf dem sich Jagger losgelöst von allen Schranken austobte, stöhnte, stotterte, winselte, schrie und vor Leidenschaft fast platzte. Seine Vorbilder Muddy Waters und John Lee Hooker wären stolz gewesen. Aber auch auf «Aftermath» fehlte wie bei «Rubber Soul» das beste Stück der Sessions, weil es als Single-Hit aufgespart werden sollte. «Paint It Black», eine düstere Vision mit einer orientalischen Melodie und donnernden Drums, die den Sänger und die Band vor sich herjagten wie der Teufel die arme Seele. Ja, die Stones waren mit «Aftermath» und «Paint It Black» endgültig aufs Treppchen gestiegen.

Nun gut, «Out of Time» mit seiner eingängigen Popmelodie hatten die Stones Farlowe geschenkt, dabei passte der Hit genau deswegen gar nicht zum Liveprogramm der Thunderbirds, Chris und seine Band waren eine reine R&B-und-Soul-Band mit hochkarätiger Besetzung, es trommelte Carl Palmer, der später mit Keith Emerson und Greg Lake als ELP König des Classic-Rock werden sollte. Gitarrist war der stille, aber großartige Albert Lee, der später von Kollegen und Kritikern zu einem der Allerbesten seines Faches hochgelobt werden sollte, ein Meister des schnellen Country-Fingerpicking, für das er sogar einen Grammy Award erhielt. Mit dem Organisten Dave Greenslade würde Farlowe in den kommenden Jahrzehnten in der Art-Rock-Jazz-Combo Colosseum Erfolge feiern. Aber im September 1966 glänzten Farlowe and the Thunderbirds mit originalgetreuem Stax-Sound, tight und musikalisch hochklassig. Das mehrheitlich weibliche soulaffine Publikum des Tiles, das ziemlich exakt dem Klischee des schicken «Swinging London» entsprach, hatte seinen Spaß.

Tagsüber liebte ich es, durch die große Stadt zu streifen, schaute in das monumentale British Museum, starrte mit großen Augen auf die opulenten Auslagen der teuren Geschäfte der wundervoll gebogenen Regent Street, saugte wieder das verwirrende Durcheinander von Autos, Bussen, Taxen und Fußgängern zwischen den Leuchtfassaden des Piccadilly Circus auf, erkundete die überraschend hübschen stillen kleinen Plätze und Parks inmitten des eher düsteren engen Soho. Da ich allein unterwegs war, musste ich mich nach niemandem richten, ich fühlte mich wohl auf meinen Wegen, war schon immer ein glücklicher Loner ohne Angst vor Einsamkeit, der aber gerne von seinen Eindrücken und Erlebnissen erzählte, aber wenn keiner da war, redete ich eben mit mir selbst.

Am nächsten Tag also wieder Soho, Wardour Street, 27. September 1966. Die Schlange vor dem Marquee wand sich bis zum Pub an der Ecke. Jeder wollte in dem engen niedrigen Club einen guten Platz ergattern, denn seit zwei Monaten sorgte ein besonderes Trio für Aufsehen: Eric Clapton, Ginger Baker, Jack Bruce – Cream. Nach der bunt gekleideten, aber harmlosen Vorband The Herd mit Teenager-Star Peter Frampton, der zehn Jahre später mit «Frampton Comes Alive» einen Welterfolg feiern sollte, erschütterten plötzlich peitschende Toms den Raum, getrommelt von einem wirr blickenden Rotschopf hinter einem Arsenal von Schlagwerkzeugen, Ginger Baker. Dann setzte ein schmächtiger Mann am stark elektrifizierten Bass ein, mit einem Ton, den man so auf einer Rockbühne noch nicht gehört hatte: mächtig, beherrschend, treibend, aber dennoch melodisch, mit präzisen Phrasen, die auf und ab wanderten. Bis dahin hatten Rock- und Bluesbassisten meist nur die Grundtöne bedient, von den melodischen Ausflügen Paul McCartneys mal abgesehen, aber dieser kleine schüchterne Mann spielte den Bass wie ein Leadinstrument, eher begleitet vom dritten Mann im Bunde, der offene Rhythmussounds an der Gitarre beisteuerte, dann Riffs doppelte, bis er mit strammen Akkordschlägen zu langen singenden, wirbelnden und sägenden Soli abhob, Eric Clapton. Aber davor ging der kleine Mann ans Mikro, und während er intensiv und virtuos weiter seinen Bass griff, begann er zu singen, inbrünstig und mit unbändiger Kraft, als brauchte er kein Mikrofon, in einer Mischung aus Blues-Shouter und keltischem Troubadour, ein Naturwunder, das mich komplett umhaute. Es handelte sich um Jack Bruce, der Song hieß «N.S.U.», der später in der Studioversion nicht annähernd die Power haben sollte, die er auf der Bühne des Marquee entfaltete. Ein Geheimnis der Kompaktheit, Stärke und Ausstrahlung von Cream lag sicher in der unglaublich hohen Bühnen-Frequenz, nämlich fast täglichen Auftritten. Das brachte Routine auch bei komplizierten Arrangements, entwickelte und festigte aber auch die Qualität der langen, abenteuerlichen, exzessiven Solo-Improvisationen.

Im Herbst 66 war der gerade mal einundzwanzig Jahre alte Clapton schon ein Gitarren-Hero mit Stationen bei den Yardbirds und John Mayall: «Clapton is God» stand an den Wänden von Soho und Notting Hill. Jack Bruce war ein in Jazz und Rock erfahrener, virtuoser Musiker und doch erst dreiundzwanzig, er komponierte den Großteil der wichtigen Cream-Songs, voller ungewöhnlicher Riffs und Melodien, Tempo- und Taktwechsel, die für die Popmusik der 60er revolutionär waren.

Der 28. September sollte den Vorbildern und Idolen der neuen britischen Szene Reverenz erweisen, das American Folk Blues Festival gastierte in der Royal Albert Hall, dem spektakulären Schmuckstück des von rot geklinkerten Bauten aus dem 19. Jahrhundert dominierten Kensington. Als ich zum ersten Mal das Kolosseum-artige Rund der Albert Hall an der Südseite der Kensington Gardens betrat, blieb mir vor Staunen der Mund offen, was mir bei grandiosen historischen Gebäuden häufig passierte, es überkam mich dann immer Ehrfurcht bei dem Gedanken, wer diesen wunderbaren Raum schon alles mit Musik erfüllt hatte. Die deutschen Veranstalter Lippmann und Rau hatten für das 66er-Festival eine illustre Gruppe von Blueskünstlerinnen und Künstlern aus den USA eingeflogen, deren Europa-Tournee hier in der Albert Hall begann. Da war der Delta Blues-Sänger und Gitarrist Big Joe Williams, dessen bekanntester Song, «Baby Please Don’t Go» von praktisch jeder britischen R&B-Band nachgespielt wurde, der Boogie-Pianist und Sänger Roosevelt Sykes, vom dem der Klassiker «The Night Time Is the Right Time» stammte, der Sänger und Mundharmonikaspieler Junior Wells, dessen «Messin’ with the Kid» ein Bluesstandard war, der blinde Veteran Sleepy John Estes, Autor des berühmten «Milk Cow Blues» und die legendäre Sängerin und Pianistin Sippie Wallace, die schon in den 20er-Jahren in New Orleans und Chicago mit meinen Jazz-Heroes King Oliver und Louis Armstrong Platten aufgenommen hatte und später mit ihrem Song «Women Be Wise» die junge Studentin Bonnie Raitt dazu inspirieren sollte, selbst den Blues zu singen – doch dazu später mehr.

Für Eric Clapton wäre wahrscheinlich der wichtigste Künstler an diesem Abend eines seiner größten Idole, Otis Rush, gewesen, der Meistergitarrist des Chicago Blues, dessen Stil weiße Star-Gitarristen wie Michael Bloomfield, Peter Green, Clapton oder Stevie Ray Vaughan geprägt hat. Clapton hatte gerade auf dem Bluesbreakers-Album den Otis-Rush-Hit «All Your Love» gecovert, «Double Trouble», ein anderer Rush-Klassiker, sollte von ihm diverse Male aufgenommen werden und gehört bis heute zu seinem Standard-Repertoire.

Da saß ich nun im Parkett der historischen Halle, sah und hörte diese Legenden, die in ihrer amerikanischen Heimat zu wenig Aufmerksamkeit fanden. Ihre beseelten Stimmen, die seufzenden Mundharmonikas, die spielerischen Piano-Fills und Gitarren, die manchmal jauchzten, manchmal litten, stiegen hoch zum runden Dach der Albert Hall in den Blues-Himmel, und ich mittendrin.

Drei Tage später, am 1. Oktober, spielte Cream in einem College, dem Polytechnic in der Upper Regent Street, nördlich des Oxford Circus, dem nicht mehr ganz so edlen Teil der Prachtstraße. Mir gelang es, mich in die erste Reihe an der Bühne zu drängen, das Trio überwältigte mich erneut. Mitten im Set kündigte Eric in seiner typisch leisen vernuschelten Stimme einen Gast an, der gerade neu in Londen sei, dessen Namen ich aber nicht verstand. Ein großer wuschelhaariger Mann mit hellbrauner Haut und Gitarre in der Hand betrat die Bühne, spielte die ersten Phrasen des Bluesklassikers «Killing Floor» von Howlin’ Wolf, sang die ersten Strophen und ließ ein flirrendes Gitarrensolo folgen, das er krönte, indem er die Gitarre an den Mund hob und mit den Zähnen spielte. Clapton, der sich freiwillig in den Hintergrund gestellt hatte, schien von der spektakulären Showeinlage, die das Publikum prompt bejubelte, nicht sehr begeistert, nach einem Song wurde der Gast freundlich, aber bestimmt verabschiedet. Ich hatte keine Ahnung, wessen Debüt ich da erlebt hatte, erst im Januar 67, als ich die grandiose Version von «Hey Joe» im Radio hörte und ein Foto des Sängers erblickte, wurde mir plötzlich klar, dass ich den allerersten Auftritt von Jimi Hendrix auf britischem Boden gesehen hatte. Hendrix’ Entdecker und Manager Chas Chandler hat später oft behauptet, Clapton habe aus Frust die Bühne verlassen – das stimmte definitiv nicht, Eric war zwar offensichtlich not amused, aber immer auf der Bühne, ich kann es bezeugen.

Das Konzert ging weiter mit einem dieser eleganten packenden Gitarrensoli von Clapton, irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste ihn aufmuntern, also klatschte ich nach Ende des Solos, wie bei Jazzkonzerten üblich, laut und deutlich Beifall – er sah mich, verbeugte sich und lächelte – meine gute Tat des Tages. Ich habe Eric 25 Jahre später in einem langen Radio-Interview auf dieses Konzert und Jimi Hendrix angesprochen, er sagte: «Was, du warst da?» Das ist Geschichte, ich hatte noch nie von ihm gehört, wir sprachen über Blues, er fragte, ob er mitspielen könne, das sei sein erster Auftritt in London. Er selbst sei so überrascht und beeindruckt gewesen, «er war unglaublich, dieser Tag hat auch mein Leben verändert …»

Auf dem Weg zum Oxford Circus und in der Central Line zu meinem Hotel zuckten mir die Bilder dieses grandiosen Abends durch den Kopf, aber ahnte ich, dass diese Musiker in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Rockwelt prägen, ja dominieren würden? Niemals, Mit einem besseren Trio hat der damalige Gast Jimi Hendrix in seiner leider nur kurzen Karriere als Megastar sicherlich nicht mehr gespielt – seine Experience- und Trio-Besetzungen kamen an die Qualität von Cream nie heran, bei aller Genialität von Hendrix als Gitarrist, Songschreiber, Klangzauberer und Sänger.

Montagmittag reizte mich wieder mal eine BBC Lunchtime Show, diese im kleineren Paris Theatre in der Lower Regent Street südlich des Piccadilly Circus kurz vor der Straße mit dem historischen von einer Zigarettenmarke missbrauchten Namen Pall Mall. Das frühere Kino wurde von der BBC ebenfalls als Studio für Liveshows mit Publikum genutzt, Presenter war der sehr bekannte Alan Freeman, Stargäste waren die Teenager-Lieblinge Herman’s Hermits mit Sänger Peter Noone, die ihre brandneue Single vorstellten, «No Milk Today», später ein Dauerbrenner der Oldie-Sender, die Band spielte live, die anderen Gäste sangen halb-playback, die schottische Sängerin Lulu und der noch wenig bekannte US -Countrysänger Bobby Goldsboro.

Abends wollte ich im Cambridge Theatre in Covent Garden die Neuinszenierung von Shakespeares «The Winter’s Tale» besuchen. Allerdings war ich weder an der romantischen Komödie interessiert noch am Hauptdarsteller, dem britischen Film- und Theaterstar Laurence Harvey. Mich reizte vielmehr die Vorstellung, die Darstellerin der Perdita live auf der Bühne zu erleben, Jane Asher, Paul McCartneys Langzeitfreundin, oft besungen, oft beschrieben. Die rothaarige Jane erfüllte all meine Erwartungen, spielte zwischen schüchtern und träumerisch, spritzig und charmant. Den gleichen süßen Charme versprühte sie auch nach der Vorstellung am Bühneneingang, als sie lächelnd und geduldig mein Programmheft signierte, bevor sie allein in der Dunkelheit verschwand. Der Beatles-Fan in mir nahm jede Gelegenheit wahr, eine möglichst enge Verbindung zum geliebten Quartett herzustellen, auch über die Freundin. Aber wer weiß, vielleicht hätte ich mir ihre Unterschrift auch geholt, wenn sie nicht der Grund für «And I Love Her» gewesen wäre.

Schnell war die Woche um, ich hatte sehr viel großartige Musik erlebt und gesehen, wie man in England live Shows im Radio präsentiert, ich hatte fantastische Konzertsäle und Theater, interessante neue Clubs gesehen, hatte neue Seiten und unbekannte Ecken dieser für mich überwältigenden Stadt erforscht. Mein Hunger war nicht kleiner geworden, ich hatte Appetit auf mehr.

***

Ohne Gitarrenhelden und Shakespeareprinzessinnen sah meine Welt nach der Rückkehr ziemlich nüchtern aus, mein Umzug nach Hamburg stand bevor.

Das Franziskus-Kolleg, ein internationales, vom Franziskaner-Orden geführtes Studentenheim, lag in der Sedanstraße, einer kleinen Seitenstraße der Grindelallee im Viertel Rotherbaum, das damals noch die «feine» Postadresse «Hamburg 13» trug. Allerdings konnte die Hauptverkehrsader Grindelallee mit ihren Zweckbauten der Nachkriegszeit mit der Eleganz der Patrizierhäuser im schönen Teil des Viertels in der Hochallee, an der Rothenbaumchaussee oder am Mittelweg kaum mithalten. Die Uni war in knapp zehn Minuten zu Fuß zu erreichen, die City in gut zehn mit der Straßenbahnlinie 2, die 1978 als letzte Hamburger Straßenbahn von Bussen ersetzt wurde. Als ich vor der Eingangstür des Franziskus stand, fiel mir spontan das alte katholische Krankenhaus in Quakenbrück ein, in dem ich manchmal als Schüler morgens Blut gespendet hatte, wofür es als Belohnung in der Krankenhausküche ein deftiges Frühstück gab. Mein Eindruck verstärkte sich, als ich eintrat. Nonnen liefen herum, Teller klapperten, das Kolleg bot auf Wunsch auch Mahlzeiten an. Ich blickte in einen langen Flur, von dem Zimmertüren abgingen, es roch nach Bohnerwachs, Putzmitteln und dem Mief, den man aus Schulen oder Altersheimen kannte. Ich klingelte, eine Klappe öffnete sich, dahinter erschien das runde freundliche Gesicht eines älteren Mönchs, der sich als «Bruder Elpidius» vorstellte, er sei Pförtner, Concierge, Mädchen für alles. Kurz danach erschien der Heimleiter, ein mächtiger Franziskaner mit wulstigen Lippen, ein ständiges Grinsen im Gesicht, und erklärte mir die Regeln. Sie seien ein internationales Haus mit 2/3 ausländischer Studenten, im ersten Halbjahr müsse ich ein Doppelzimmer beziehen. Duschen und Damenbesuche bis 22 Uhr, keine Zimmerpartys, am Sonntag heilige Messe in der Kapelle im ersten Stock. Schlagartig kamen achtzehn Jahre katholischer Vergangenheit in mir hoch, von der ich mich eigentlich befreit gefühlt hatte. Ein älterer Student mit schütterem rotem Haar ging vorbei und murmelte, sodass jeder es hören konnte: «Wie, nehmen wir hier jetzt auch Schüler auf?» Er meinte mich, nette Begrüßung. Mir wurde flau. Wenigstens stellte sich mein Mitbewohner James, ein Gaststudent aus den USA , als freundlicher und ruhiger Zeitgenosse heraus. Und wie der Prophet geraten hatte «dont think twice, it’s alright», oft liefen die Dinge längst nicht so schlecht wie befürchtet. Nach zwei Wochen gab es sogar ein nachträgliches Willkommensgeschenk, ein Konzert im Speisesaal mit der bekanntesten deutschen Folkloregruppe, den City Preachers. Deren Sängerin mit braunen langen Haaren und einem Pony, der fast die Augen bedeckte, berührte mich schon damals mit ihrer eindringlichen Bluesstimme, die mich mein Leben lang begleiten würde, sie gehörte der damals zwanzigjährigen Inga Rumpf. Im Laufe der Zeit traf ich im Kolleg sehr interessante und ungewöhnliche Menschen aus vielen Ländern, fand gute Freunde vor allem unter nord- und südamerikanischen Gaststudenten, hatte viel Spaß beim regelmäßigen Samstagvormittags-Kicken und bei nächtlichen Skatrunden.

Bevor ich mich ins erste Semester stürzen und Hamburg intensiver kennenlernen konnte, musste noch das Bundeswehr-Problem von der Agenda. Meine Musterung stand an, und da ich jünger als meine Klassenkollegen war, wurde ich erst jetzt vorgeladen, hier an meinem Studienort. An einem trüben Novembermorgen lief ich auf wackeligen Beinen quer durch Rotherbaum zur Sophienterrasse in Harvestehude, ich hatte mir von zwei Ärzten in der Heimat Atteste besorgt. An Hausnummer 14 thronte in der Nähe der Außenalster ein monumentales Gebäude mit einem gigantischen Eingangsportal. Das Monstrum war in der Nazizeit erbaut worden und hatte als Generalkommando der Wehrmacht gedient, von der Bundeswehr wurde es als Standortkommando und als Kreiswehramt genutzt. An diesem Ort mit so viel negativer Energie sollte sich nun meine nähere Zukunft entscheiden? Bloß nicht den Helden markieren, aber auch nicht gespielt zu schwächlich wirken. Durch die fünfzehn Meter hohe Halle zu den Musterungsräumen, ausziehen, warten. Ich legte meine Bescheinigungen vor, was nur mildes Interesse der Ärzte fand, allerdings notierten sie meinen chronischen Heuschnupfen. Auf dem linken Ohr hörte ich schon damals schlechter, beim Hörtest übertrieb ich kräftig und offenbar überzeugend. Beim Rausgehen hörte ich wieder normal, der eine Arzt flüsterte zum anderen: «Nach zwei Wochen landet der sowieso im Lazarett, das hat keinen Sinn …» Und so lautete der Musterungsbescheid T2, nur bedingt tauglich wegen geringer Körpergröße, Hörschaden und Heuschnupfen. Ich täuschte ein leises Bedauern vor und verließ innerlich jubelnd den alten Nazipalast.

Erleichtert konnte ich nun meine Hamburger Entdeckungsreisen beginnen, vor allem zog es mich ins Kino. In manchen Wochen besuchte ich drei bis vier Kinos in allen Stadtteilen, das Holi ganz in der Nähe, die Lupe in Othmarschen, das Streit’s am Jungfernstieg, das Urania nah der Binnenalster, die Passage in der Mönckebergstraße oder das Thalia um die Ecke in der Grindelallee, manchmal sogar zweimal am Tag, um Filme der französischen Nouvelle Vague von Truffault, Godard, Resnais, Malle oder Chabrol aufzusaugen, ihre gebrochene radikale Sicht auf Bürgertum, Liebe, Erotik und Moral, ich liebte das Schräge, Schroffe, Unerwartete, Mutige, aber manchmal sehnte ich mich nach dem versöhnlichen Ende eines romantischen Films von Lelouch. Auch die übrigen Meister des internationalen Autorenfilms standen auf dem Plan und weiteten meinen Blick, Rossellini, Bergman, Antonioni, Buñuel. Mein Studium bot hingegen nicht nur Erfreuliches, die Kurse für Alt- und Mittelenglisch waren äußerst trocken, Chaucers amüsante «Canterbury Tales» hätten eigentlich unterhaltsam werden können, aber nicht bei unserer verknöcherten Dozentin. Mein Nebenfach Soziologie entpuppte sich als langweiliges Grauen, die Seminare und Vorlesungen quollen über mit gewagten empirischen Theorien, seelenloser Statistik und mir völlig fremdem Fachchinesisch. Vielleicht fehlten mir Ausdauer oder einfach Interesse, ich nahm Reißaus und wechselte im zweiten Semester zur Abteilung Geschichte. Mir ging es nur darum, ein passendes und nicht zu aufwendiges Nebenfach zu finden, mein Hauptgewicht lag eindeutig auf englischer und amerikanischer Literatur. An Geschichte reizte mich im Gegensatz zu Soziologie, konkrete Ereignisse, Fakten, Entwicklungen und deren Protagonisten zu untersuchen, beschreiben und bewerten, ohne aufgrund vager Erkenntnisse und Informationen spekulieren zu müssen.

Trotz meiner Neugier auf Hamburg zog es mich in den ersten Semestern an den Wochenenden oft nach Quakenbrück, es gab viele Gründe, Heimweh, fehlende enge Freunde in der Großstadt, Mutters Küche, der Wäschesack und BFBS , den ich in Hamburg nicht empfangen konnte, der Sender strahlte nur bis Bremen. Dabei war die Fahrerei eine Tortur, die völlig veraltete, ruppige A1 zwischen Hamburg und Bremen schüttelte alle Glieder durch, vor allem in den Käfern, bei denen ich mitfuhr, zudem war die Autobahn damals erst bis Wildeshausen ausgebaut. Für meine ersten Semesterferien besorgte ich mir in Quakenbrück einen Job beim Finanzamt, Akten aus den Regalen holen, Bescheide einheften, «ablegen». Nicht spannend, aber es brachte Geld, das ich mir für eine erneute Englandreise ansparen wollte. Kurz vor den Ferien hatte ich es noch geschafft, mein Dreigestirn Cream im Star Club in der Großen Freiheit zu sehen, es hatte nichts von seiner Power verloren. Den nächsten Höhepunkt verpasste ich, weil ich in der Amtsstube des Finanzamts saß: Jimi Hendrix und seine Experience gastierten im Star Club, am Nachmittag des 18. März fuhr das Trio für ein kurzes Gastspiel zum NDR Funkhaus an der Rothenbaumchaussee, um live in der Sendung «Twen Club» aufzutreten, 17 Minuten lang, fünf Songs: «Foxy Lady», «Hey Joe», «Stone Free», «Fire» und «Purple Haze», der geballte Hendrix.

Klaus Wellershaus, mein späterer Mentor, Radiokollege und Freund, der die Sendung als Producer betreute, erzählte mir Jahre später, was davor passierte. Hendrix kam für die Probe ins ehrwürdige NDR -Studio 1, 1930 als modernster Sendesaal Europas gebaut, steckte sein Gitarrenkabel in den Verstärker, drehte den Volume-Regler voll auf und ließ einen seiner typischen Töne herausfliegen. Blitzschnell rauschte der NDR -Toningenieur am verblüfften Hendrix vorbei an den Amp, drehte den Regler herunter und verkündete: «Das verzerrt doch!» Und auf Englisch legte er nach: «Distortion, distortion!» In seiner Ausbildung hatte er gelernt, im Rundfunk seien keine übersteuerten, nur «saubere» Signale erlaubt. Hendrix schüttelte nur den Kopf, grinste und drehte die Lautstärke zurück auf voll. «That’s how it should be», sagte er und sägte mit seiner verzerrten rückkoppelnden Gitarre in das Intro von «Foxy Lady». Der gute Tonmann hatte lange an diesem Schock zu knabbern.

Dass Hendrix damals live in einer NDR -Sendung auftrat, war ungewöhnlich. Der NDR -Hörfunk hatte bis dahin die neue Popmusik nur in kleinen Häppchen angeboten. Die Sendung «Musik für junge Leute» stellte seit Ende 1965 dreimal in der Woche jeweils zweimal 25 Minuten lang neue Bands vor. Allerdings kam es 1966 zum Streit zwischen ARD und der Plattenindustrie, die höhere Gebühren für die Rundfunkausstrahlung ihrer Produkte verlangte. Daraufhin lief in den ARD -Sendern monatelang keine Musik der «Industrie», man füllte die Lücke mit eigenen Produktionen. Sehr viel üppiger wurde die Sendezeit für Pop auch nach Ende des Boykotts nicht, die «Musik für junge Leute» sendete ab 1967 täglich am frühen Nachmittag «nach der Schule» und später auch morgens «vor der Schule». Die Musik, die meist Klaus Wellershaus selbst aussuchte und von Schallplatten auf Band kopieren ließ, wurde bis Anfang der 70er von Tonbändern abgespielt und von den routinemäßigen Programmsprechern angesagt, die oft von Musik wenig wussten und manchen Künstler oder Titel auch noch falsch aussprachen. Im Glücksfall hatte ein Sprecher wie der großartige Henning Venske Dienst, der bissig, ironisch und informiert Musik und Zeitgeschehen kommentierte. Dazu gab es einige Spezialsendungen wie «Schallplatten für Kenner», in der Wellershaus beispielsweise Pop, Rock, Jazz und Klassik mischte. Erst Ende 1969 sollte man mit dem «Fünf-Uhr-Club» ein Programm einführen, das eine Stunde lang Popmusik mit «jungen» Themen kombinierte. Andere Sender in der ARD , die auch damals schon regional aufgeteilt war, präsentierten eigene Pop-Programme, auch bei der Hansawelle von Radio Bremen konnte man nachmittags Sendungen mit Rock und Pop finden.

Mir war das damals als Hörer alles zu zerstückelt und zufällig, wer hatte schon zu den verschiedenen Sendeterminen gerade Zeit? Die Radiosituation in Deutschland konnte mein Bedürfnis, ausführlich über die Musik und ihre Kultur, die seit vier Jahren die Welt eroberte, informiert zu werden, nicht erfüllen. Und so blieb ich bei meinen vertrauten Wellen, BFBS , BBC und Pirat Radio London, am besten mit den unaufgeregten, subjektiven, intimen, persönlichen, detailverliebten, wenig analysierenden Moderationen des John Peel in meiner Lieblingssendung «Perfumed Garden», es war weniger die Moderation, sondern mehr die spannende, vielfältige, innovative und oft überraschende Auswahl der Musik, die mich faszinierte.

Denn der Strom riss nicht ab, er wurde im Lauf des Jahre 1967 noch breiter und vielfarbiger. Die Stones überraschten mit einer sensationellen Single mit zwei A-Seiten, der mächtig rockenden simplen Einladung «Let’s Spend the Night Together» und dem wunderschön melancholischen Abschiedsgruß an die freiheitsliebende Freundin «Ruby Tuesday», für den Brian Jones die gute alte Blockflöte hervorgezaubert hatte. Ende März hatten sie beide Songs live auf der Bühne der Bremer Stadthalle gespielt, zusammen mit ihren besten Titeln von «The Last Time» und «Satisfaction» bis zu meinem Liebling «Paint It Black». Ich war während meiner Finanzamtsferien von Quakenbrück mit einer organisierten Busreise nach Bremen gefahren, die Stones waren laut, druckvoll und dynamisch, besonders beim lang gezogenen, immer schneller stampfenden «Goin’ Home», bei dem Jagger demonstrierte, dass er seine Bluesmundharmonika beherrschte. Überhaupt war Jagger mit seinen rasenden Lauf- und Tanzschritten und den wilden Armverrenkungen das Highlight der Show, auch wenn er sich diverse Bewegungen von James Brown und anderen Soulkünstlern abgeschaut hatte.

Bald darauf verwandelten Procol Harum Bachs «Air» mit getragenen Orgeltönen, seelenvoller Stimme und dunklen Traumbildern in eine bewegende, schrecklich-schöne Endzeitballade, Pink Floyd, eine Gruppe von Ex-Studenten aus Cambridge um den schillernden Jungpoeten Syd Barrett hoben mit «Arnold Layne» und «See Emily Play» auf avantgardistischen Soundteppichen zu neuen Ufern ab. Aus Kalifornien schwappte eine kräftige Welle aufregender Bands herüber, die keine Kopien britischer Bands waren und frische Marken setzten. Die Doors aus L.A. und ihr charismatischer Sänger-Poet Jim Morrison bliesen förmlich zum Aufbruch mit «Break on Through (To the Other Side)» und «Light My Fire», Organist Ray Manzarek fegte durch das phänomenale Intro und die Soli, dass ich vor Neid erblasste, Morrisons Bariton rangelte sich vom intensiven Säuseln zum überwältigenden Schrei. Fast genauso außergewöhnlich klang eine andere Band aus L.A. namens Love um den dynamischen Arthur Lee, der bei «7 and 7 Is» wie ein Gewitter einschlug, auf anderen Songs des Albums «Da Capo» aber spielerische leichte Töne fand. Love blieben ein Geheimtipp, auch ihr episches drittes Werk «Forever Changes», ein Meilenstein, der im Herbst erschien, konnte das nicht ändern.

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Wunderliches wurde hingegen aus San Francisco berichtet, wo Hippies, die aus der bürgerlichen Welt ihrer Eltern ausbrachen, eine Gegenkultur suchten, aber auch den politischen Protest gegen das immer stärker werdende militärische Engagement der USA in Vietnam äußerten. Der Traum vom Leben in Harmonie, Gleichheit und Frieden, die Faszination des sogenannten «Summer of Love» mit Blumen im Haar, angeblich freier Liebe und maßlosem Verzehr psychedelischer Drogen wie LSD , wirkten auf mich aus der Ferne damals naiv, realitätsfern, dubios und auch gefährlich für Kopf und Körper, offenbar war ich noch nicht so weit, mein bürgerliches Spießerhemd abzulegen. Ich hielt den Slogan «Summer of Love» eher für den gelungenen Marketingcoup eines Geheimkartells aus Coca-Cola, Unterhaltungsindustrie und Drogenmafia.

Doch die musikalischen Botschafter aus San Francisco rannten bei mir weit offene Türen ein, allen voran die unendlich spielfreudige Musikerkommune Grateful Dead, die auf vielen Feldern zu Hause war, Country, Rock, Folk, Bluegrass, Swing und Jazz, und Jefferson Airplane mit der heißen Chefpilotin Grace Slick, deren zweites Album «Surrealistic Pillow» den Soundtrack für den Sommer schrieb. Ihr dramatischer Gesang in der Hymne «Somebody to Love», die exzessiven Gitarrensoli und das hypnotische «White Rabbit», das Lewis Carrolls Alice in ein nicht nur glückliches Drogenwunderland entführte, lockten auch mich sofort an Bord. Wobei der Sommer der Liebe in Hamburg, geschweige denn in den Quakenbrücker Ferien kaum zu spüren war, er war in Deutschland eher ein mediales Ereignis. Magazine berichteten, weniger mit Worten als mit exotischen Bildern, das Fernsehen sendete Beiträge im «Weltspiegel». Hippie-Mode wurde schick, die wichtigen Songs liefen in einigen wenigen Clubs oder eben privat zu Haue. Im norddeutschen Radio waren die Bands aus Kalifornien und ihre Kollegen von der Insel höchstens in der «Musik für junge Leute» zu hören oder in den anderen Sendungen von Klaus Wellershaus in der Rolle des einsamen Propheten.

Selbst Eric Burdon, der toughe Bluesshouter aus Newcastle, war von der Hippie-Szene in San Francisco so hingerissen, dass er für seine Animals eine hübsche, ehrlich klingende Ode an die Stadt aufnahm, «San Franciscan Nights». Als regelrecht unerträglich empfand ich allerdings die schlagerartigen Pop-Produkte, die den Hype um den Hippie-Sommer kommerziell ausnutzten, der US -Sänger Scott McKenzie warb in «San Francisco» für die obligatorischen Blumen im Haar und die britischen Flower Pot Men – was für ein Name! – legten mit «Let’s Go to San Francisco» nach. Doch die Tantiemen klingelten.

Damals machte sich der Begriff «psychedelisch» breit, eigentlich ein Ausdruck für die Wirkung halluzinativer Drogen, nun wurde er auch für Musik benutzt, allerdings viel zu pauschal und undifferenziert. Jede Band aus San Francisco war nun psychedelisch, auch wenn sie eigentlich Country-Rock spielte. Ich fragte mich, was eigentlich damit gemeint sein sollte, die langen Gitarrensoli, die Nähe zu außerhalb der klassischen Dur- und Moll-Leitern liegenden modalen Tonskalen, zu Jazz oder zu orientalischer Musik? Der pulsierende Rhythmus, oder nur das Image der Bands samt wild verlaufenen Farben und Schriften auf Covern, Postern und T-Shirts? Wann war der psychedelische «Tatbestand» erfüllt, wann begann ein Zustand von Trance, konnte man das definieren? Hatte nicht jeder Musiker und jeder Konsument eine unterschiedliche Wahrnehmung? Mir erschien der Begriff als weiteres Beispiel für den weitverbreiteten Glauben an Schubladen, die nie wirklich passen und dann ständig klappern.

Auf eine leider kurzlebige Band aus Los Angeles, die Wurzeln in Folk, Rock und Country hatte und zu den Pionieren der Folkrock wurde, traf der Begriff jedenfalls eindeutig nicht zu, Buffalo Springfield, bestehend aus den überragenden Talenten Neil Young, Stephen Stills und Richie Furay. Stills schrieb ihren großen Hit, der Anfang 67 die Ohren und Augen öffnete, «For What It’s Worth», der Untertitel «Stop, Hey What’s That Sound» erklärte besser, dass der Song eine Reaktion auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen auf dem Sunset Strip war, schon bald gewann er aber größere Bedeutung bei Vietnam-Demonstrationen als ein populärer Antikriegssong. Auch die Byrds kehrten 1967 mit ihrer einflussreichen Mixtur aus feinen Harmoniestimmen, Folkmelodien, Rockgitarren und Country-Picking zurück, auf dem Album «Younger Than Yesterday» klangen sie genauso frisch, wie der Titel ankündigte.

Doch mein stärkstes Urerlebnis dieser Zeit erwischte mich aus einer ganz anderen Ecke. Anfang März hörte ich in einem meiner Spezialsender ein paar E-Piano-Akkorde, dann eine Frauenstimme, aufgebracht, emotional, scharf, «You’re no good, heartbreaker, a liar and a cheat …» Die Stimme klagte an, beschwor ihre fatale Abhängigkeit, «I never loved a man, the way I love you», und das mit einer unglaublichen Intensität, immer drängender, fordernder wie eine Gospelsängerin, die mit aller Inbrunst um Erlösung bittet. Ich hatte noch nie eine derart bewegende, aufrüttelnde Sängerin gehört – Aretha Franklin. Einige Monate danach die kaum vorstellbare Steigerung, ihre Version von Otis Reddings «Respect». Klang das Original mehr wie die Bitte eines beleidigten Liebhabers oder Familienvaters um mehr Beachtung, verwandelte Aretha den Song zu einem jubelnden, ekstatischen Aufschrei nach Respekt für alle Frauen, ja sogar zu einem flammenden Appell für gleiche Rechte von Afroamerikanern, egal ob Frau oder Mann. 1967 hatte sie schon eine lange, oft harte Vergangenheit als Wunderkind im Gospelchor ihres Vaters hinter sich, dann eine wenig erfolgreiche Zeit bei Columbia Records, wo man sie mit weichgespülten Arrangements zu einem Nightclub- und Entertainment-Star stylen wollte. Erst bei Atlantic Records unter der Obhut des Produzenten Jerry Wexler in den Studios in Alabama, in denen auch die besten Aufnahmen von Otis Redding entstanden waren, konnte sie ihrem überragenden Talent, ihrer emotionalen Kraft freien Lauf lassen und zur größten Soulsängerin aller Zeiten werden.

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Ja, die «Class of 67» war nach der Euphorie der Jahre 65/66 eine weitere Offenbarung für mich, und nicht ganz überraschend hatten die unermüdlichen Beatles in der Abbey Road an einem besonders opulenten Geschenk gebastelt. Zunächst erschien im Februar wie gehabt auf Wunsch der Plattenfirma eine Single mit zwei A-Seiten, die erste Seite hörte ich zum ersten Mal bei John Peel, der Songtitel verwirrte mich, es ging um Erdbeerfelder, und das für die Ewigkeit? Dann verfremdete Flötentöne, später las ich, dass sie von einem Mellotron erzeugt wurden, einer relativ neuen britischen Erfindung, bei der eine Pianotastatur aufgenommene Tonbandschleifen mit verschiedenen Klangfarben startete und einen schwebenden Effekt erzielte. Lennons näselnde Stimme begann eine komplizierte Melodie, begleitet von mächtigen Drums mit wilden Tom-Fills und Kaskaden von ein- und ausdriftenden Sounds, Folkgitarren, rückwärts abgespielte Instrumentalparts und Stimmfetzen, hawaiianische Steelgitarren, indische Zither, gestrichene Kontrabässe und Celli, traditionelle Bläser und elektronische Effekte, ein dahintreibender Strom, mit Erinnerungsblitzen an seine Liverpooler Kindheit angefüllt. Strawberry Fields hieß ein Kinderheim der Heilsarmee in dem Viertel, in dem Lennon aufgewachsen war, erfuhr man schließlich. Ein Song ohne echten Refrain, aber darum ging es nicht, hier wurde die Tür zu einer neuen musikalischen Dimension aufgestoßen, unter Bedingungen, die durch die Vier-Spur-Technik stark eingeschränkt waren, denn wie konnten all diese Puzzleteile zusammengefügt werden? Durch unendlich viele Schneide- und Vormischaktionen, mit denen fertige Parts auf eine oder zwei Spuren überspielt wurden, damit die beiden übrigen wieder frei für neue Aufnahmen waren, und wenn diese im Kasten waren, wurde wieder zusammengemischt und so weiter. Aufwendige Kleinstarbeit.

Die andere Seite der Single erinnerte ebenfalls an Liverpool, Pauls Rückkehr in die «Penny Lane» mit realistischen und fiktiven Szenen und Bildern. Ein fast perfekter Popsong, süß, rund, harmonisch, klassisch aufgebaut und verziert von einem brillanten Barock-Trompetensolo, «Penny Lane» strahlte von Anfang bis Ende. «Strawberry Fields» und «Penny Lane» waren eigentlich als Teil des nächsten Albums geplant, nun stelle man sich vor, «Sgt. Pepper», das im Mai erschien, wäre auch noch durch diese beiden Schmuckstücke veredelt worden. Die Frage nach dem besten Album aller Zeiten hätte sich dann wahrscheinlich erledigt. Doch auch so war «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» ein leuchtendes Ereignis, unvergessen das Gefühl, als ich das Doppelcover in den Händen hielt, die Figuren auf der Front studierte, die Texte verschlang, die sozialrealistischen wie «She’s Leaving Home», die ironischen wie «When I’m Sixty Four» und die symbolisch-poetischen wie «Lucy in the Sky with Diamonds» und «A Day in the Life», und wenn man dann die Platte auf den Teller legte, ein heiliger Moment. Wie clever, sich als Klammer eine Figur wie den Sgt. Pepper auszudenken, einen fiktiven Army-Sergeant, der den einsamen Herzen ein wenig Spaß bringen will, und selbst für Ringo hatten sie sich diesmal einen sehr hübschen Song ausgedacht. Es war alles da, die Faszination der Melodien, der klassischen wie der ungewöhnlichen Instrumente und Klänge, die Illusion des großen Raums bei «Lucy», die rotierenden Spiralen der Zirkusklänge in «Benefit for Mr. Kite!», die in einem wirbelnden Walzertakt entfliehen, und ein Finale, von dem man gleich spürte, es würde Geschichte schreiben. «A Day in the Life», eine zweiteilige Traumreise mit realen und surrealen Skizzen und Assoziationen, gebrochen und beendet durch ein erschütterndes ungezügeltes kakofonisches Crescendo eines riesigen Sinfonieorchesters, diverser Pianos und ungezählter menschlicher Stimmen und Geräusche, bis zu einem fast unerträglichen Siedepunkt, der urplötzlich abriss und durch einen ruhigen tiefen ewig lang ausklingenden Klavierakkord erlöst wurde. Ich glaube, ich war nicht der Einzige, der nach «A Day in the Life» erst einmal durchatmen musste.

Am 25. Juni musste ich fernsehen, genau ein Jahr nach dem Konzert in Essen und fünf Wochen, nachdem «Sgt. Pepper» Fans, Kritiker und sogar Feuilletonredakteure beeindruckt hatte, sollte man die Beatles während einer Aufnahme im EMI Studio live im Fernsehen erleben können. Der Anlass hieß «Our World», es war die erste direkte Satellitenübertragung mit Livebeiträgen aus aller Welt, die auf allen Kontinenten gleichzeitig empfangen werden konnte. Die Band, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, war von der BBC gebeten worden, den britischen Beitrag zu gestalten, und entschied, einen neuen John Lennon-Song zu präsentieren, der eine einfache, universelle Botschaft hatte: «All You Need Is Love». Der plakative Slogan passte natürlich auch perfekt in den «Summer of Love», bezog sich aber, so war mein Eindruck, auch auf die aktuelle allgemeine Friedenssehnsucht zwei Wochen nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. In der spektakulären Show, die um die Welt ging, spielten und sangen die Beatles live mit Streichern und Blechbläsern zu einigen vorproduzierten Tonspuren, im Abbey-Road-Studio von einem prominenten Chor unterstützt, in dem sich die Creme der Londoner Szene vergnügte, Mick Jagger, Keith Richards, Marianne Faithfull, Eric Clapton, Jane Asher, Patti Boyd, Graham Nash, Keith Moon, die Small Faces und andere, die ich so schnell nicht erkannte. «All You Need Is Love» klang beim ersten Hören erst mal simpel und eingängig mit seinem animierenden Mitmach-Refrain. Als ich mich aber zu dem Lied am Klavier begleiten wollte, stutzte ich. Da wechselten sich in der Strophe drei Sieben-Viertel-Takte mit einem Acht-Viertel-Takt ab, im Refrain folgte nach drei Acht-Viertel-Takten einer mit sechs Vierteln, das brachte jeden Gesangsverein durcheinander. Wieder einmal hatten die Beatles eine komplizierte Struktur einfach klingen lassen und dazu ihre bunte Friedenstaube mit schon üblichen Zitaten und Anspielungen verziert, der Marseillaise, Glenn Millers «In The Mood», «Greensleeves», Johann Sebastian Bach und den eigenen Werken «She Loves You» und «Yesterday». Ohne den Wert der restlichen Sendung schmälern zu wollen, die Beatles, live aus den heiligen Hallen an der Abbey Road, waren natürlich der Knüller des TV -Abends.

Die Chance, in Hamburg Konzerte meiner Lieblingskünstler zu sehen, bot sich selten. Als Ersatz pilgerte ich mehrmals in der Woche, manchmal an fünf bis sechs Abenden auf den Kiez, denn nur dort existierten Clubs, in denen Livebands, vor allem britische, auftraten. Die Reeperbahn und ihre Seitenstraßen waren noch nicht das breit gefächerte Vergnügungsviertel für Musical- oder Revuebesucher, Touristen, Tanzwütige und allgemeines Partyvolk, sondern lagen fest in der Hand des Rotlicht-Geschäfts in Stripclubs, Animierbars, kleinen Puffs und großen Bordellen. Mir war es schon ein wenig unangenehm, über die von unzähligen Leuchtreklamen schrill erhellte Reeperbahn vorbei an Türstehern, aufdringlichen Koberern und Prostituierten durch Reihen von betrunkenen Kiezgängern zu laufen, der Hinweg war meist harmlos, unangenehmer wurde gelegentlich der Heimweg nachts um zwei oder drei. Mein Ziel war vorzugsweise der Top Ten Club direkt an der Reeperbahn, in dem auch die Beatles auf dem Weg zum Weltruhm zwischen April und Juli 1961 fast einhundert Mal Station gemacht hatten. Sechs Jahre danach waren die Bedingungen für die engagierten englischen Bands nicht leichter geworden, zwischen 20 und 3 Uhr mussten sie laufend Halbstunden-Sets spielen, dazwischen fünfzehn bis zwanzig Minuten Pause, eine Tortur. Und dennoch lieferten sie oft höchste Qualität ab, Musiker noch ohne bekannten Namen, die aber nicht selten eine große Zukunft vor sich hatten. Ihre Bands spielten meist keine eigenen Stücke, schlicht kopierende Coverbands waren sie aber nicht. Mit der Zeit wandelte sich das Repertoire, die Zahl der R&B- und Rock-’n’-Roll-Klassiker nahm ab, immer mehr eigene Versionen von Songs der neuen amerikanischen Bands wie Love oder Buffalo Springfield belebten das Programm.

Mir kribbelte es zunehmend auch wieder selbst in den Fingern, es reichte nicht, ab und an auf dem Klavier im Speisesaal des Franziskus-Kollegs herumzuklimpern. Ich freute mich deshalb sehr, als Wolfgang, ein Medizinstudent aus Cloppenburg, der zu Hause Gitarrist einer Band war, eines Tages fragte, ob ich nicht Lust hätte einzusteigen, sie bräuchten einen Keyboarder. Die Combo nannte sich wenig originell «Moody Section» und war eine der vielen engagierten Amateurbands, die in Proberäumen und Kellern mit Herzblut und Ausdauer die Musik ihrer Vorbilder nachspielen wollten, was mal besser, mal schlechter gelang. Wolfgangs Gruppe war da schon weiter, hatte schon auf der Bühne gestanden, das Repertoire bestand hauptsächlich aus R&B-Nummern und aktuellen Rock-Hits. Ich lieh mir eine Farfisa Orgel oder ein Hohner Pianet, und die Proben begannen, meist an den Wochenenden. Aber ich wollte ein eigenes Spielzeug, und wo konnte man das günstiger besorgen als dort, wo die Musik gemacht wurde. Ein England-Trip war sowieso geplant, mit dem Ferienjob hatte ich genug verdient, das würde auch noch für ein Keyboard reichen.

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Gegen Ende der Semesterferien nahm ich dann die günstigste Verbindung mit der Fähre von Bremerhaven nach Harwich. Mir gefiel der Name des Schiffes, «Prins Hamlet», zwei Jahre später übernahm der Prinz die Direktroute von Hamburg aus. Über 16 Stunden dauerte die teilweise recht wackelige Passage, es war ja schon gegen Ende September. Das Schwierigste war, die Nacht zu überstehen, ohne Kabine, zusammengekrümmt auf einem Sessel oder einer Bank, am nächsten Tag war ich völlig erledigt.

Für die ersten Nächte hatte ich mir eine billige Pension in Paddington gebucht, in der Nähe des großen Bahnhofs für alle Verbindungen nach Westen lag in der Straße Sussex Gardens eine günstige Unterkunft neben der anderen. Nach einer fetten Mütze Schlaf begann ich meine Erkundungsgänge. Es hatten sich neue Veranstaltungsorte etabliert, in Camden wurde das Roundhouse, ein ehemaliger kreisrunder Lokschuppen, nun für Theateraufführungen und Konzerte genutzt. In der Tottenham Court Road hatte ein halbes Jahr lang der angesagte Underground-Club UFO mit seinen Avantgarde-Konzerten, Lightshows und Installationen für Aufsehen gesorgt, bis der Gründer John Hopkins wegen Cannabis-Besitzes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde und der Club die Lizenz verlor. Hopkins war Fotograf und mit dem Autor und McCartney-Freund Barry Miles Mitbegründer der Underground-Zeitschrift International Times ( IT ), die von Paul finanziell unterstützt wurde und sich alternativer Literatur, Musik, Kunst und Politik, den Philosophien, Visionen und Erfahrungen einer Gegenkultur widmete, ja ihr Londoner Sprachrohr war. Nach dem Ende des UFO hatte ein Club in einem Souterrain in der King Street im Marktviertel Covent Garden dessen Rolle übernommen, «Middle Earth» hieß er nach dem Kontinent aus Tolkiens Fantasy-Romanen, die sich gerade ungeheurer Beliebtheit erfreuten. Ich fragte mich, ob der Autor, Literaturprofessor in Oxford, diese Variante der Mittelerde mögen würde? Man stieg die Treppen hinunter in einen relativ niedrigen Raum, an den weißen Wänden Lichtprojektionen aus Farben und zerlaufenem Öl, «Liquid Lightshows», man fühlte sich tatsächlich in einem bunten Fantasy-Traum, der ständig um dich herumwaberte wie in einer lebendigen Höhle, einem vielfarbigen Mutterleib. Die Luft war stickig, es roch intensiv nach Nebelmaschinen und Weihrauchstäbchen, vielleicht, um die Marihuana-Düfte zu verschleiern. Musik fand auch statt, allerdings verschwanden die Musiker häufig hinter den Schwaden und den changierenden Lichtern und Farben. Die erste Band, die ich im Middle Earth erlebte, wirkte in dieser Umgebung etwas fremd, Fairport Convention, die Band des Gitarristen und Sängers Richard Thompson, verband traditionelle britische Folkmusik mit Rock, erzählte Fabeln und reale Geschichten in neuen Versionen, man wollte zuhören und nicht in einem Licht- und Soundozean ertrinken. Da passte die nächste Band schon besser, Soft Machine aus Canterbury, offensichtlich inspiriert von William S. Burroughs’ Roman. Soft Machine boten eine avantgardistische Mixtur aus vielen Zutaten, die mich verwirren, aber auch anfassen konnten, wechselnde Rhythmen, Breaks, lange freie Improvisationen der schwirrenden Orgel des Keyboarders Mike Ratledge, aufgelockert durch den fast lyrischen Falsettgesang des Drummers Robert Wyatt oder das ironische Brummen des Bassisten Kevin Ayers. Musikalisch und physisch benebelt verließ ich die Mittelerde.

Ich war immer noch nicht sehr kontaktfreudig, war gerne alleine unterwegs. Tagsüber pirschte ich durch Plattenläden, kaufte das erste Pink-Floyd-Album «The Piper at the Gates of Dawn», war neugierig auf «Velvet Underground & Nico» aus New York, von denen ich bis dahin nur die packende Junkie-Beichte «I’m Waiting for the Man» kannte, und auf John Mayalls «A Hard Road» mit Peter Green. Ich stöberte in Buchläden, besaß nun endlich die Penguin-Gesamtausgabe der beiden wunderbaren Nonsense-Bücher John Lennons In His Own Write und A Spaniard in the Works . Lennon hatte den ersten seiner beiden Bände schon 1964 veröffentlicht, eine Sammlung brillanter Gedichte, Texte und Zeichnungen, komisch, satirisch, beißend oder ganz einfach unsinnig, in der Tradition der großen englischen Nonsense-Poeten Edward Lear und Lewis Carroll, aber auch sicherlich beeinflusst von der beliebtesten Radio-Comedy der 50er-Jahre, «The Goon Show». John hatte in Interviews erzählt, wie sehr er als Jugendlicher die BBC -Serie des schrillen Spike Milligan genossen hatte, in der auch andere Spitzenkomiker der Insel wie Peter Sellers ihren Unsinn trieben.

Es lag nicht nur an Lennons «eigener Schreibe», dass ich am nächsten Tag die Idee hatte, mir die Studios in der Abbey Road wenigstens von außen anzusehen, ich wollte endlich mal den Ort erkunden, an dem meine Lieblingsmusik kreiert wurde. Es war der 29. September, ein Freitag, ich brauchte nur am Oxford Circus in den Bus 159 Richtung West Hampstead steigen und ihn bei der Tube Station St. John’s Wood verlassen, dann fünf Minuten die Grove End Road hinunter, schon stand ich an dem Zebrastreifen, der zwei Jahre später weltberühmt werden sollte, aber damals völlig durchschnittlich wirkte. Ich ging hinüber und sah zwanzig Meter weiter an einer flachen Mauer mit Eisengittern vor Abbey Road Nummer 3 etwa zehn bis zwölf Fans stehen, fast alle Mädchen, die auf die Ankunft der vier warteten. Es war bekannt, dass sie nach dem plötzlichen Tod ihres Managers Brian Epstein am 27. August an einem Seminar des Gurus Maharishi Mahesh Yogi in Wales teilgenommen hatten und nun an den Songs für ihr kommendes Projekt «Magical Mystery Tour» arbeiteten. Aber wann, täglich? Die weiblichen Fans, zum Großteil Amerikanerinnen, schienen mehr zu wissen. Plötzlich öffneten sich die Zufahrtstore zum kleinen Parkplatz vor dem unauffälligen zweigeschossigen weißen Gebäude, ein roter, mit vielen Blumen bemalter Mini Cooper bog ein und parkte. George Harrison stieg aus, sein Beifahrer Ringo Starr ebenfalls, beide grüßten kurz, eilten die Eingangstreppe hinauf und verschwanden hinter der braunen Holztür. Ungestört konnte ich den Parkplatz betreten und ging zu einem Morris, aus dessen Kofferraum Mal Evans, der langjährige Assistent, Roadie und Freund der Band ein hellbraunes Keyboard hievte. Ich kannte das Instrument aus Deutschland, eine Art elektrisches Cembalo, stellte mich aber dumm, um leichter ins Gespräch zu kommen. Mal sagte auf meine Frage «it’s a Hohner, a new instrument called Clavinet», und als ich wissen wollte, wofür das gebraucht werde, ganz freundlich «for one of Paul’s new songs for the new project». Plötzlich hörte ich aufgeregtes Geschnatter, Paul stand am Fuß der Treppe, wie er hergekommen war, hatte ich nicht gesehen, vielleicht sogar per pedes, er wohnte ja nur fünf Minuten entfernt in der Cavendish Avenue. Paul, immer gut im Small Talk, scherzte mit den Fans und schrieb Autogramme. Schnell hielt ich ihm meine Mitgliedskarte des Middle-Earth-Clubs hin, er unterschrieb, «thanks» und «good luck», fort war er. Fehlte nur noch einer. Einige Minuten später rollte der berühmte wild bemalte Rolls-Royce Phantom heran. Heraus trat ein gut gelaunter John Lennon mit den mittlerweile typischen runden Brillengläsern und verteilte ein paar flapsige Bemerkungen. Ich reichte ihm die Middle-Earth-Karte mit der Unterschrift seines Partners, er lachte, drehte sie um, nuschelte «I’ll take the back» und signierte die Rückseite. Dann laut in die Runde: «We’ve got to work, bye, see you …» Ich war perplex, was für ein Glück hatte ich gehabt, meine beiden größten Idole anzutreffen, wenn auch nur kurz. Ich ließ die noch immer ziemlich hysterischen Mädchen, die sich ereiferten, wer denn nun der Süßeste sei, hinter mir und marschierte zufrieden über den Zebrastreifen davon.

Als im Dezember 67 «Magical Mystery Tour» als EP mit sechs Songs erschien, traf mich «The Fool on the Hill» direkt in Herz und Seele, und ich konnte dabei deutlich das herbeigeschleppte Clavinet heraushören. Ebenfalls grandios fand ich das Lennon-Epos «I Am the Walrus», inspiriert von Lewis Carrolls Gedicht «The Walrus and the Carpenter», dem wundersamen Gedicht aus «Alice Through the Looking Glass» vom Treffen der beiden Hauptfiguren am Strand, um Austern aufmarschieren zu lassen und sie danach zu essen. Lennon türmte mit schneidender Stimme wirre Wortgebilde, Nonsens-Zeilen, bissige Metaphern, Stab- und Binnenreime fast im Stakkato aufeinander, von einer bedrohlich anschwellenden Welle aus Keyboards, Mellotron, echten Streichern und Bläsern getragen, nein getrieben. Im Finale, in dem sich alle Stimmen, Chöre, Schreie und Geräusche fast überschlugen, tauchten Fetzen einer gesprochenen Szene auf, die schon während des Songs bruchstückhaft zu hören gewesen waren und deren Text mir irgendwie bekannt vorkam. Hier zeigte sich der wahre Wert des Anglistik-Studiums, in einer Vorlesung war gerade King Lear Thema, ich durchforstete die Tragödie um den alten König und seine Töchter und wurde im vierten Akt fündig. Aber warum im Himmel hatte Lennon diese von Schauspielern gesprochenen Shakespearezitate in sein Walross-Drama eingebaut?

Später las ich in einer BBC -Programmzeitung, der Radio Times , die ich mir in London gekauft hatte, dass die BBC  3 am Abend des 29. September, also am Abend meines Ausflugs in die Abbey Road, King Lear in einer Radiofassung gesendet hatte, Lennon muss das zufällig im Studio mitgehört haben, so, wie die Einblendungen klangen, auf einem einfachen Mittelwellenempfänger, und sich gedacht haben, das schneiden wir mit und mischen es als zusätzlichen Überraschungseffekt noch dazu. Meine kriminalistische These sollte viele Jahre später von einer Reihe «Beatles-Forschern» bestätigt werden, die sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, jede Aufnahme, jeden Mix, jeden Tag, den die vier gemeinsam oder einzeln im Studio verbrachten, unter die Lupe zu nehmen und aufzuschlüsseln.

Zurück in den Londoner September, mittlerweile wohnte ich in einem reichlich abgewrackten Hostel in der Drury Lane in der Nähe der Covent-Garden-Markthallen, damals noch der zentrale Großmarkt für Lebensmittel, Obst, Blumen und Gemüse. In den Straßen und Gassen rund um die großen Hallen drängten sich Händler und Marktstände, dazwischen Lieferwagen und Karren, die Waren transportierten, es herrschte ein unglaubliches Gewimmel von Menschen und Stimmen, ein Dunst aus intensiven Gerüchen von altem Fleisch, fauligem Obst und verdorbenem Gemüse. So musste es dort schon Anfang des 20. Jahrhunderts ausgesehen haben, vor allem gerochen haben. Direkt daneben thronte in krassem Kontrast das pompöse Royal Opera House an der Bow Street, Heimat für die bekanntesten Opern- und Ballettstars der Welt, aber vielleicht fühlte sich London gerade wegen dieser Gegensätze so lebendig an. Zur Drury Lane war es nur eine Ecke weiter, das Youth Hostel belegte Erdgeschoss und Keller eines alten Gebäudes, die Räume boten Platz für vier bis sechs männliche Gäste, ein paar Stockbetten und dünne Schaumstoffmatratzen auf dem Boden. Man zahlte zehn Schillinge beim unfreundlichen Hausmeister, suchte sich einen Platz für die Nacht, tagsüber wurde das Gepäck eingeschlossen, am nächsten Abend «the same procedure». Schön war’s nicht, aber preiswert, praktisch und sehr zentral. Nicht weit entfernt lag die Denmark Street, eine nur gut 100 Meter lange Seitenstraße der Charing Cross Road, sie galt als die «Tin Pan Alley» Londons, seit den 50er-Jahren drängten sich hier Musikverlage, die Büros der Musikblätter Melody Maker und NME , Studios, in denen in den 60ern die Stones, Small Faces oder David Bowie aufnahmen, dazu Musikalienhändler und Instrumentenshops.

Ich war immer noch auf der Suche nach einem eigenen Keyboard, inspizierte einen Laden nach dem anderen und wurde in der Denmark Street fündig. Für 80 Pfund, damals etwa 880 DM , ergatterte ich ein sehr gut erhaltenes Wunschgerät, eine original Continental Orgel der britischen Firma Vox. Das rote Instrument war besonders schick, weil die großen Tasten schwarz und die kleinen weiß waren, außerdem hatten berühmte Musiker die Vox Continental auf erfolgreichen Platten eingesetzt, Alan Price bei den Hits der Animals, Ray Manzarek von den Doors bei «Light My Fire» oder der Them-Sänger Van Morrison auf seiner ersten Solo-Single «Brown Eyed Girl». Wichtig war, dass man die Beine abschrauben und die Orgel einigermaßen leicht transportieren konnte. Mit einem Taxi brachte ich das verpackte Schmuckstück zu einem Post Office und ließ es per Schiffspost nach Hamburg schicken. Es kam tatsächlich an, selbst der Zoll war gnädig.

Von der Denmark Street waren es nur drei Minuten bis zu einem der schönsten Art-déco-Theater des West Ends, dem 1931 fertiggestellten Saville Theatre in der Shaftesbury Avenue. Brian Epstein, Manager der Beatles, hatte es 1965 übernommen und veranstaltete dort neben Theateraufführungen auch Konzerte, z.B. in der Reihe Sundays at The Saville. Zwei dieser Sonntage standen vor der Abreise noch auf meinem Plan, am 1. Oktober wollte ich miterleben, wie Pink Floyd den Sprung aus den Underground-Clubs auf die Konzertbühnen bewältigen würden. Ihr Debütalbum war sechs Wochen vorher erschienen und gerade hoch in den Charts, fast alle Songs waren im manchmal leicht verwirrten Kopf ihres Frontmanns Syd Barrett entstanden, er war Gesicht und Herz der Band, allerdings ein ziemlich wankelmütiges. Geschichten von Drogenexzessen und verpassten Auftritten machten die Runde. Aber als Floyd im Flackerlicht ihrer Lightshow zu den piependen Funkgeräuschen aus dem Weltraum in ihren Opener «Astronomy Domine» abflogen, dann in die spröden Melodien und eigentümlichen Akkordfolgen von «Lucifer Sam» stürmten, wirkte alles sehr souverän und gar nicht wackelig. Am klarsten glänzte das Genie des Syd Barrett bei zerbrechlichen ätherischen Songs, «Flaming», «Matilda Mother» und «Scarecrow», sanft an den hohen Theaterhimmel getupft, bevor das Quartett mit dem Finale des instrumentalen «Interstellar Overdrive» wieder ungestüm und geräuschvoll in den Orbit startete. Pink Floyd hatte gleich mit ihrem Debüt eine ganz neue, experimentelle, mutige Seite im schon recht dicken Wälzer des Pop beschrieben und bestätigten das in diesem Konzert fulminant. Doch nicht nur Pink Floyd machten diesen Sonntag im Saville zu einem besonderen Tag, als «support», in Deutsch gern geringschätzig als «Vorprogramm» abgetan, brachten Robin Williamson und Mike Heron ihre sensiblen Lieder auf die Bühne und machten ihrem Namen jede Ehre. Das schottische Folk-Duo nannte sich treffend «The Incredible String Band», ich hatte bei John Peel einige der versponnenen poetischen Songs gehört und mir ihr Album bestellt. «5000 Spirits or the Layers of the Onion» war ein Zauberkasten wundervoller akustischer Musik, gefüllt von schottischer und irischer Folklore, amerikanischer Folk- und Countrymusik, sogar indischen und arabischen Klängen. Das Album, das Paul McCartney später zur besten Platte des Jahres erklärte, versprühte feinsinnig Fantasie, Tiefe, Witz, Ironie, Geist, Liebe und Lebenslust.

Der Headliner am folgenden «Sunday at the Saville» war der Mann des Jahres mit seinem Trio, The Jimi Hendrix Experience. Ein Jahr war nun schon vergangen, seitdem ich zufällig Jimis allerersten Auftritt in Europa erlebt hatte. In dieser Zeit hatte Hendrix sein Trio mit Mitch Mitchell und Noel Redding formiert und mit den großartigen Singles «Hey Joe» und «Purple Haze» den Weg zum sensationellen Debütalbum «Are You Experienced» geebnet, das wochenlang an der Spitze der britischen LP -Charts auf Platz 2 stand, weil Sergeant Pepper ihm den Platz an der Sonne versperrte. Gleichzeitig war Hendrix seit Ende 1966 neben den Plattenaufnahmen fast täglich zu Auftritten unterwegs gewesen, im UK , in Europa und in den USA , eine extreme physische und psychische Belastung. Hendrix war bekannt dafür, dass er von Konzert zu Konzert das Programm variierte, vielleicht wollte er bei der täglichen Auftrittsroutine die Spannung hochhalten und auf diese Art Langeweile vermeiden. An diesem Sonntag im Saville war auch die Pop-Prominenz in großer Zahl angetreten, um den spektakulärsten Rock-Act seiner Zeit zu begutachten, ich entdeckte die Mamas & Papas, Jeff Beck, die Bee Gees, Scott Walker, Graham Nash und Cat Stevens. Hendrix begann untypisch zurückgezogen mit zwei ruhigen Songs, die beide nicht auf dem «Experienced»-Album enthalten waren, dabei war «The Wind Cries Mary» vielleicht sein bester Song, zeigte eine lyrische sentimentale Seite. Auch der zweite Titel «Burning of the Midnight Lamp» entsprach wohltuend wenig dem Image des «wild man of rock», das vor allem sein Management gerne propagierte. Diesem Ruf machte er aber später alle Ehre, als er durch rasante Coverversionen von «Hound Dog» und einer Dylan-Nummer ratterte und mit den knallharten Riffs von «Purple Haze» und «Foxy Lady» das Theater erschüttern ließ. Hendrix war als Gitarrist und Sänger ein genialer Performer, ließ sich aber gerne zu Ausrastern auf der Bühne hinreißen, die wenig mit seiner Musik zu tun hatten und oft seine einzigartige Kreativität und Virtuosität überdeckten. So auch hier, bei der Schlussnummer «Wild Thing», einem Hit der Troggs, zerstörte er Gitarren und Verstärker, wälzte sich unmotiviert auf dem Boden. Beim Monterey Festival zwei Monate zuvor hatte Jimi auf Initiative seiner Manager, die einen besonders spektakulären Auftritt verlangten, seine Gitarre mit brennbarer Flüssigkeit übergossen und in Flammen aufgehen lassen. Die Rechnung ging auf, Hendrix, der in den USA noch nicht den Durchbruch geschafft hatte, war in allen Zeitungen und Nachrichtenshows. Wahrscheinlich verhinderten nur die Brandschutzbestimmungen des historischen Theaters, dass er diese Aktion nicht auch im Saville wiederholte, mir war es recht.

Nach dem Hendrix-Konzert am 8. Oktober ging es schnell zurück nach Deutschland, das Wintersemester nahte und die Vox Continental musste eingespielt werden. Außer Platten, Büchern und Konzerteindrücken nahm ich noch ein paar weitere Andenken an den verblühenden Londoner «Summer of Love» mit nach Hause, hellbraune Stiefeletten mit großen Absätzen, um das Selbstbewusstsein zu erhöhen, eine dunkelrote Bell-Bottom-Hose aus Samt, genauer aus «crushed velvet», diverse Batik-Shirts mit zerfließenden Farben, Halsketten aus kleinen Muscheln und indische Weihrauchstäbchen. Als ich dieses Outfit meiner Mutter in Quakenbrück vorführte, war sie entsetzt, als Erstes entfuhr ihr «lass das bloß nicht die Nachbarn sehen», ihre Hauptsorge. Einige Tage danach, ich wollte gerade nach Hamburg abreisen, vermisste ich die Räucherstäbchen. Die hatten, das musste ich zugeben, in der nikotinfreien sterilen Luft unserer Schulratswohnung für gehöriges Aufsehen oder eher Aufriechen gesorgt, obwohl die gesamte Familie ein Leben lang den Weihrauchdampf katholischer Hochämter inhaliert hatte. Meine Mutter hatte sie heimlich im Müll entsorgt, sie dachte, es sei Rauschgift.