Es ist Frühjahr 2011. Seit Monaten laufen die Vorbereitungen des Heim-ESC , der in Düsseldorf stattfinden wird. In Lokstedt ist die dafür eingerichtete Taskforce in einem speziellen Bürotrakt zusammengezogen worden, schon Wochen vor dem Tag X zieht sie nach Düsseldorf, um das größte Fernseh-Musikereignis der Welt vorzubereiten, eine Mammutaufgabe. Ich habe bisher dreizehn Song Contests aus nächster Nähe erlebt und gesehen, welch umfassende Organisation dieser Event erfordert, und das auf vielen Gebieten; Halle, Bühne, Licht- und Soundtechnik, TV -Technik, Logistik, Transport, Unterbringung von über eintausend Teilnehmern aus dreiundvierzig Ländern, Pressezentrum für über zweitausend Journalisten, Gästebetreuung und Aufgabenverteilung für Hunderte von Volunteers, die ihren Urlaub, ihre Freizeit opfern, um zu helfen. Dazu ist der ESC seit 1997 stetig gigantischer geworden, mehr Länder, mehr Teilnehmer, mehr Journalisten und TV -Teams, die Durchführung des Wettbewerbs ist eine Riesenherausforderung, die mir alle Hochachtung für die Kollegen abverlangt. Dagegen ist meine eigene Vorbereitung entspannter, nur die Anzahl der Interviews, die ich im Vorfeld geben muss, nimmt ständig zu, denn das Interesse in Deutschland am heimischen ESC ist immens. Radiosender, Tageszeitungen, Programmzeitschriften, Blogs wollen aber erst einmal vor allem wissen, wie ich die erneute Teilnahme von Lena sehe. Meine Standardantwort lautet, wenn sie das so möchte, sei es gut so, vielleicht wolle sie mit einer zweiten Teilnahme das Thema ESC für sich abrunden und abschließen und dann nach vorne schauen. Für Deutschland sei ihre Teilnahme in jedem Fall positiv.
Meine rechte Hüfte hat wieder angefangen zu schmerzen, Anzeichen, dass sich das künstliche Gelenk erneut zu lockern beginnt. Ärztliche Untersuchungen bestätigen das, man rät mir zur Operation. Ich will aber auf keinen Fall noch einmal einen ESC absagen, einige mich mit dem Arzt auf einen Termin nach dem Sommer unter der Bedingung, dass ich das Bein schone und wenig belaste. Doch wie soll ich in Düsseldorf die weiten Wege rund um die Arena bewältigen? Meine Frau Laura hat die zündende Idee und schenkt mir zum Geburtstag einen Elektroroller mit Sitz, ein ziemlich schweres Gerät, nicht für öffentlichen Verkehr zugelassen, aber es fährt. Der Transporter des NDR holt den Scooter ab, am 6. Mai reise ich nach, hole mein Gefährt bei unserem empathischen Aufnahmeleiter Urs Schilke ab und düse los. Die Düsseldorfer Arena ist ein Fußballstadion für 55000 Zuschauer, allerdings mit verschließbarem Dach, sodass eine riesige Halle entsteht. Für den ESC hat die Stadt Düsseldorf den damaligen Fußball-Drittligisten Fortuna in ein extra errichtetes mobiles Stadion ausgelagert, was allein 2,5 Millionen Euro gekostet haben soll. Die Entfernungen sind groß, ich werde auf der Fahrt vom Pressezentrum zur Arena von manchen Journalisten um meinen Scooter beneidet, mitnehmen geht leider nicht. An der Arena halte ich bei einem Aufzug, fahre hoch in den dritten Stock, cruise mit meinem Roller rund um die Stadiongänge bis zum Aufgang «Commentators». Danach wird es allerdings beschwerlich, die vielen Stufen der Obertribüne hinauf, danach auf einer hölzernen Baustellentreppe hoch zu den Kabinen. Obwohl etwa gleich groß wie das Parken-Stadion in Kopenhagen, wirkt diese Arena nicht überdimensioniert, sondern fast intim, was vielleicht auch an der grandiosen Bühne von Top-Designer Florian Wieder liegt, deren Ausleger weit in den Zuschauerraum hineinreicht. Das verspricht interessante Inszenierungen der dreiundvierzig Songs. Ich checke das Equipment der Box, das mittlerweile standardisiert und vertraut ist, und rolle zufrieden zurück Richtung Pressezentrum, dort darf mein elektrischer Helfer übernachten und seinen Akku aufladen.
Am 7. Mai herrschte dichtes Gedränge am Rheinufer, die Stadt Düsseldorf empfing die Delegationen der dreiundvierzig Teilnehmerländer in der wunderschönen, aber für den Anlass viel zu engen Tonhalle. Auf dem roten Teppich, über den die herausgeputzten ESC -Kandidaten und ihre Begleiter bei schöner Sonne posierten, war die Stimmung entspannt, drinnen entwickelte sich ein hektisches Gewusel auf den Gängen und im Saal, in dem ein klassisches Orchester um Aufmerksamkeit spielte und die holprige Rede des Oberbürgermeisters erst recht kein Gehör fand, etwas weltgewandter hätte es schon sein dürfen. Am Dienstag stand das erste Semifinale an, wegen der Kooperation von ARD und ProSieben wurde es erstmals gemeinsam übertragen. Aus diesem Grund war mir ein ProSieben-Moderator als Co-Kommentator zur Seite gestellt, Steven Gätjen. Ich mochte den sehr sympathischen Steven, fand seine jährlichen Reportagen von der Oscar-Verleihung souverän und großartig, aber für diesen Anlass waren wir nicht die passende Kombination. So brillant Steven im Bereich Film war, Musik und besonders der ESC waren weniger sein Thema. Wir wollten abwechselnd die Kandidaten an- und absagen, mein Assistent Daniel Ronel und ich hatten ihm Infos und Tipps gegeben, aber unsere Doppelmoderation blieb in Wortwahl, Ton und Dynamik unrund und unharmonisch. Und dann brachen nach einer Weile auch noch die Kommentarleitungen zusammen, wir griffen zum Telefon und sprachen darüber weiter, der Telefonhörer wechselte ständig von Steven zu mir. Unsere Kabine hatte wenigstens einen Festnetzanschluss, aber Kollegen aus anderen Ländern hatten darauf verzichtet und wollten nun über Mobiltelefone kommentieren, was nicht funktionierte, weil das Netz überlastet war, eine Katastrophe. Die Panne dauerte und dauerte, der Fehler musste zunächst gefunden und das System wieder hochgefahren werden, während unten in der Arena die Show weiterging. Nach dreißig Minuten packte mich die Ungeduld, die mir leider manchmal zu eigen ist, ich war sauer und nörgelte spontan on air, also auf Sendung: «Wir senden doch nicht aus Kasachstan, wir senden aus Düsseldorf.» Der Einlauf folgte auf dem Fuß, im Hotel stellte mich Thomas Schreiber zur Rede, er hatte entrüstete Reaktionen der NDR -Technik zu meiner Bemerkung erhalten, sicher zu Recht, ich hätte natürlich vertröstende Worte finden müssen. Schon deshalb, weil die NDR -Technikabteilung überhaupt keine Schuld an dem Breakdown hatte, die Fremdfirma, die für die Technik der Kommentatoren-Boxen zuständig war, hatte versäumt, ein Back-up einzurichten, was bei komplizierten digitalen Anlagen zu empfehlen ist. Ich entschuldigte mich schriftlich für meinen wenig souveränen Ausrutscher, mein guter Draht zu den Technik-Kollegen war geflickt. Wie zu erwarten war, ging die Tonpanne und mein genervter Spruch durch die Presse, fast jedes Medium nahm die Geschichte auf, und womöglich hatten einige Zuschauer den Fauxpas als nachvollziehbar, amüsant und menschlich empfunden. Registriert wurde er auch in Berlin in der kasachischen Botschaft, als Krönung ließ diese in einem Brief an den NDR mitteilen, dass die Technik in Kasachstan sehr fortschrittlich und auf dem neuesten Stand sei und man gerne anbiete, den Eurovision Song Contest in Kasachstan zu organisieren. Am nächsten Morgen Kommentatorensitzung in einem fensterlosen tristen Raum der Arena. Als ich durch die Tür kam, lautes Gejohle und Gelächter der internationalen Kollegen, Rufe wie «Bravo, German Technology!». Alle hatten in dem halbstündigen Leitungsloch festgehangen, etwas, was in diesem Ausmaß noch nie bei einem ESC vorgekommen war, mir war das höchst peinlich, und ich war immer noch verärgert. Glücklicherweise waren der Chef der zuständigen Firma und Thomas Schreiber als Executive Producer gekommen, um die Ursachen des Breakdowns zu erläutern und zu versichern, dass Derartiges nicht wieder passieren würde.
Das zweite Semifinale verlief weniger dramatisch, den merkwürdigsten Auftritt lieferte erneut die Sängerin aus Weißrussland, ihr Jubellied aufs Vaterland hieß «I Love Belarus» (Ich liebe Weißrussland). Man stelle sich vor, alle Länder würden mit «Ich liebe Frankreich», «Ich liebe Belgien» oder «Ich liebe Portugal» antreten – wollte man so wirklich einen internationalen gesamteuropäischen Wettstreit gewinnen? Oder wollte man in Weißrussland etwas ganz anderes, von oben verordnet? Es klang mehr wie ein trotziger PR -Song, um Lukaschenkos Geltungssucht zu befriedigen und das Image seines Regimes aufzubessern. Was natürlich nicht funktionierte, die Weißrussen schieden klar und deutlich aus.
Es war Gewohnheit geworden, dass ich am Freitag vor dem Finale den ARD -Radiosendern ein Interview gab, um die Lage nach dem zweiten Semifinale zu besprechen; also tuckerte ich mit meinem Rolli zu den Containern hinter der Arena, in denen die ARD -Hörfunk-Redaktion arbeitete. Ausgerechnet der Kollege, der mich in Moskau vertreten hatte und der vermutlich über meine Rückkehr in Oslo enttäuscht gewesen war, führte das Interview. Alles lief normal, nur gegen Ende stellte er Fragen, die eindeutig persönlich motiviert waren, ob ich mit dreiundsechzig nicht zu alt wäre, um einen jünger werdenden ESC zu kommentieren, und ob ich mich überhaupt mit «jungen» Musikstilen wie R&B und Hip-Hop auskennen würde. Wir schrieben das Jahr 2011, R&B gab es schon ewig, Hip-Hop seit fast dreißig Jahren. Ich musste ihn fassungslos angeschaut haben, er lebte nicht in Nordwestdeutschland und hatte wahrscheinlich nie eine Radiosendung von mir gehört, aber mir Unwissen ausgerechnet bei Schwarzer Musik zuzutrauen, war schon ein Knaller. Die Frage nach dem Alter war natürlich reine Provokation, ich antwortete kühl, wenn über Siebzigjährige amerikanische Präsidenten, Minister oder Papst seien, wäre ich ja wohl in der Lage, eine musikalische Unterhaltungsshow wie den ESC zu kommentieren. Danach war das Gespräch zügig beendet.
Am Samstag, das Finale vor 35000 Menschen, die gebannt auf die Bühne blickten und nicht wie in Kopenhagen herumliefen, um Bier zu holen. Der Opener ging in die Geschichte des ESC ein, als die beste Show-Eröffnung aller Zeiten. Ein Feuerwerk, eine stürmische Rock-’n’-Roll- und Rockabilly-Version von «Satellite» mit Anke Engelke, Stefan Raab, einer tanzenden Judith Rakers, einer Bigband und vierzig Lena-Doubles auf der Bühne inklusive der echten. Ich hatte zwar schon die Proben gesehen, aber war beinahe sprachlos, als die Arena nach diesem visuellen und musikalischen Hurricane förmlich explodierte, besser konnte die Show nicht beginnen. Anke setzte ihren Siegeszug als großartige vielsprachige Moderatorin fort, unterstützt von der lockeren, sympathischen Judith, Stefan hielt sich dezent im Hintergrund,
Im Defilee des Wettbewerbs stolzierte Blue, die wiedervereinte britische Ex-Boy-, jetzt Männerband, steif wie die Zinnsoldaten über die Bühne, die serbische Sängerin zeigte, dass man auch in der Landessprache einen Motown-Retro-Soul-Titel überzeugend in Sechzigerjahre-Pop-Art-Kulisse aufführen konnte. Für Österreich brillierte die junge Nadine Beiler mit einer fantastischen Ballade und erntete dafür leider nur den 18. Platz. Eine traurige, aber zugleich anrührende Geschichte erzählte der Beitrag aus Island. Komponist und Sänger Sjonni Brink wollte beim isländischen Vorentscheid antreten, starb aber überraschend kurz vorher im Alter von nur sechsunddreißig Jahren an einem Hirnschlag. Eine Gruppe seiner Musikerfreunde beschloss darauf mit Einverständnis der Witwe, den Song stellvertretend für Sjonni aufzuführen, und so konnten ihn hundertdreißig Millionen Menschen hören.
Die irischen Zwillinge Jedward hatten im Vorfeld mit ihren hochtoupierten Haartollen heftig für Aufregung gesorgt, die jungen Hüpfer flitzten scheinbar unkoordiniert über die Bühne, ihr 80er-Synthie-Poptitel «Lipstick» war der Hit für die vielen neuen jungen ESC -Fans. Mir tat die Mama der beiden leid, als ich sagte, «wie hat sie diese hyperaktiven Flummis jemals eingefangen?». Platz 8. Große Freude herrschte in der gesamten Eurovisionsfamilie, dass 2011 Italien nach vierzehn Jahren Auszeit wieder dabei war. Logischerweise schickte Italien einen Sanremo-Gewinner, den hochtalentierten Jazzsänger und Pianisten Raphael Gualazzi. Der kannte den ESC nicht, als Italien zuletzt dabei war, war er ja gerade erst fünfzehn. Sein Lied war keine normale Grand-Prix-Kost, Italien kehrte mit einem außergewöhnlichen Künstler zurück, der die Tradition des Canzone mit Jazz und Blues vereinte. Mit «The Madness of Love», dem spannendsten und ungewöhnlichsten Song des Contests, erreichte Gualazzi einen sensationellen zweiten Platz. Sieger wurde ziemlich überraschend ein Duo aus Aserbaidschan mit gefälligem harmlosem Mainstream Pop aus schwedischer Produktion, das vielleicht deshalb gewann, weil, außer dem italienischen, herausragende Titel 2011 Mangelware waren.
Und Lena? Was für ein Weg hatte sie seit 2010 hinter sich! Zwei Nummer-1-Alben, Nummer-1-Singles, eine trotz aller Unkenrufe sehr erfolgreiche Tour und nun der Heim-ESC mit einer Woche voller Proben, Presseterminen, Interviews, Fernsehshows. Jahre später sagte sie in einem Interview, dass sie eigentlich auf den Rummel der Titelverteidigung hätte verzichten können. Das fühlte sich 2011 nicht so an, ihr Song «Taken by a Stranger» gehörte tatsächlich zu den überzeugendsten des Abends und war mit dem guten Platz 10 eigentlich zu schlecht bewertet.
In der Gesamtschau von Bild, Sound, Moderation und Opening gehörte die Finalshow von 2011 sicherlich zu den eindrucksvollsten der langen ESC -Geschichte, Auszeichnungen waren die logische Folge, der Deutsche Fernsehpreis, die Goldene Rose von Luzern und der Live Entertainment Award LEA für die beste Show des Jahres 2011. Bei der Verleihung im April 2012 traf ich Lena wieder, sie erzählte mir stolz, dass sie sich vom dominanten Stefan Raab als Produzent und Hauptkomponist getrennt hatte, sie wollte nun eigene Wege gehen, Dinge ausprobieren. Sie kam gerade aus Stockholm zurück, dort hatte sie mit der Indie-Künstlerin Miss Li gearbeitet. Ich konnte ihr nur gratulieren.
Vor der Reise nach Baku war der ESC in Aserbaidschan ein politisches Thema, das Land stand schon länger stark in der Kritik wegen Menschenrechtsverletzungen und der Einschränkung demokratischer Rechte, die ARD berichtete in den Wochen vor dem ESC intensiv über die politische Lage. Weniger laut diskutiert wurde, dass deutsches Know-how und deutsche Firmen in großem Maß an dem Projekt ESC in Baku beteiligt waren. Die nagelneue Crystal Hall war schon 2009 von den deutschen Star-Architekten GMP entworfen worden, wurde aber erst ab 2011 für den ESC in Rekordzeit von acht Monaten von einer bayerischen Firma gebaut. Die Halle für 25000 Menschen entstand auf einer Landzunge in der Bucht von Baku direkt am Kaspischen Meer, für den Bau wurden aber in höchster Eile ohne Vorwarnung Wohnhäuser abgerissen und die Bewohner zwangsweise umgesiedelt, um den Termin zu halten. Präsident Alijew hatte für Baku eine Veranstaltung «auf allerhöchstem Niveau» angeordnet, also holte man Hilfe aus Deutschland, die Produzenten, Bühnenbildner, Lichtdesigner und Techniker, die 2011 den Song Contest in Düsseldorf zum preisgekrönten Ereignis gemacht hatten. Aber da in Aserbaidschan eine einzige Familie regierte, gehörte das letzte Wort immer der Vorsitzenden des Organisationskomitees, die zufällig auch die Frau des Präsidenten war.
Unser Hotel lag direkt am breiten Uferboulevard, nach der Ankunft schaute ich von der Dachterrasse über die Stadt und die weite Bucht, der erste Blick auf Baku war umwerfend. Aserbaidschan war ein beeindruckendes Land und Baku seine faszinierende pulsierende Metropole mit einer von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärten Altstadt. Man spürte den Reichtum, der durch Erdöl und Erdgas erwirtschaftet wurde, Baku wirkte manchmal amerikanisch, manchmal europäisch elegant, manchmal orientalisch. Eine Mischung aus Nizza, Jerusalem und Dubai, deutlich gemacht durch drei angeberische hässliche Hochhaustürme in Flammenform, die Flame Towers. Der Reichtum schien auf den ersten Blick der Allgemeinheit zugute zu kommen, in Form von Museen, Theatern, Konzerthäusern mit spektakulärer Architektur, mit Parks und üppigen Uferpromenaden. Ging man jedoch einige Hundert Meter von der Prachtstraße weg, merkte man, dass bei vielen Gebäuden nur die vordere Fassade schön war, dass den einfacheren Wohnhäusern dahinter der schicke Glanz fehlte. Aserbaidschan wurde autokratisch regiert, von der Großfamilie Alijew, die sicherlich am meisten vom blühenden Öl- und Gasgeschäft profitierte. Auch in meinem Kommentar der Finalshow machte ich die politische Situation im Land zum Thema und sagte: «Wären da nicht die Schatten, die das Bild trüben: Korruptionsvorwürfe, Menschenrechtsverletzungen, Einschränkung von Pressefreiheit, Gängelung der politischen Opposition. … Aserbaidschan möchte sich nach Westen orientieren und ist Mitglied im Europarat geworden, damals hat die Regierung demokratische Reformen versprochen, aber ob diese Reformen nun auch realisiert werden, steht immer noch in den Sternen.»
Unser Vertreter in Baku war der einundzwanzigjährige Roman Lob, ein Sänger aus dem Westerwald, der sich in einer wochenlangen Auswahlshow qualifiziert hatte. Betreut wurde er in Baku von seinem Produzenten Thomas D von den Fantastischen Vier, einem überaus sympathischen ruhigen Zeitgenossen, eine Wohltat in der üblichen ESC -Hektik. Für Roman war ein Spitzensong ausgewählt worden, den der britische Jazzstar Jamie Cullum komponiert hatte, Lob sang ihn im Finale so überzeugend, dass ein guter achter Platz herauskam. Vorher blamierte sich das Vereinigte Königreich mit einem Weltstar, dessen größte Erfolge über 40 Jahre her waren. Hundertfünfzig Millionen Platten hatte er verkauft, aber als die BBC verkündete, Engelbert Humperdinck würde das UK beim Grand Prix vertreten, hielten viele das für einen schlechten Scherz. Der Mann war immerhin sechsundsiebzig Jahre alt und war auch in seiner Hochphase nie richtig hip gewesen, sondern mit seinem Schmalzgesang schon damals eher etwas für Muttis Kaffeekränzchen. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich, zumal Engelbert leider nicht mehr die hohen Töne richtig traf, Vorletzter, Platz 25. Wie es besser geht, zeigte Serbien, das erneut mit seinem bekanntesten Star punktete, mit Zeljko Joksimovic, auf dem gesamten Balkan eine Legende, 2004 schon einmal Zweiter, in Baku mit einem weiteren grandiosen Lied aus seiner Feder Platz 3. Eine Überraschung kam aus Russland, eine lustige, der Chor der Großmütterchen aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Ursprünglich wollten sie nur Geld für den Bau ihrer Dorfkirche sammeln, dann wurden sie zur landesweiten Attraktion. Die kleinste und süßeste der Omas war 86 Jahre alt und damit die älteste Person, die jemals beim ESC auftrat. Die sechs kamen in ihrer Tracht auf die Bühne, buken Plätzchen und sangen ein fröhliches Lied mit ein paar englischen Brocken, wie bei einer Familienfeier zu Hause im Dorf, mitsingen konnte da jeder, falsch klang es sowieso. Platz 2.
Wegen der Zeitverschiebung begann das Finale nach Ortszeit erst um Mitternacht, es war also fast halb vier Uhr morgens, als einer der größten Triumphe der ESC -Geschichte feststand: Loreen gewann für Schweden mit einem Riesenvorsprung. «Euphoria» vereinte alles, was einen überragenden Hit ausmacht, ruhige Spannung am Beginn, dramatisch in Wellen aufsteigende Dance-Beats, große Melodiebögen in Strophe und Refrain, famos von Loreen gesungen, und das bei ihrem physisch fordernden mutigen Bühnenauftritt. Da taumelte sie wie in Trance herum, inspiriert von ihren marokkanischen Wurzeln, so hatte sie erzählt, man konnte auch denken, es wären andere marokkanische Spezialitäten im Spiel gewesen. Aber im Ernst, wir hatten im fernen Baku einen der spektakulärsten Siegersongs aller Zeiten erlebt.
All das beobachteten Autokrat Alijew und seine allgegenwärtige Familie aus seiner speziell umgebauten Loge neben den Boxen der Kommentatoren, von da konnten sie auch zuschauen, was der Schwiegersohn trieb. Der hieß Emin, war Sänger, und da die Familie alles im Griff hatte, durfte der doch tatsächlich als Interval Act auftreten.
2013 also wieder nach Schweden, und da Stockholm 2000 den Gastgeber gespielt hatte, war nun eine andere Stadt dran – Malmö .
Um nach Malmö zu gelangen, musste man zunächst nach Hannover, denn am 14. Februar fand dort der deutsche Vorentscheid statt, «Unser Song für Malmö», moderiert von meiner Lieblingsgastgeberin Anke Engelke. Ich saß mit Tim Bendzko, Roman Lob, Anna Loos und Mary Roos in der Jury, die ein Drittel der Wertung bestimmte. Die geheimen Wertungen der Jurymitglieder wurden addiert und danach die vertraute ESC -Rangfolge von 12, 10, 8, 7 bis 1 Punkten erstellt. Nach den Wertungen der Online-Seiten der Radiosender und nach dem Televoting der Fernsehzuschauer lagen der europaweit erfolgreiche Dance-Act Cascada und die wunderbare bayerische Blaskapelle LaBrassBanda gleichauf, das Juryvotum, das zuletzt verkündet wurde, entschied also. Wir gaben Cascada mit «Glorious» 8 Punkte und «Nackert» von LaBrassBanda nur einen Punkt, die Jury hatte den Schwarzen Peter. Cascada gewann das Ticket, aber nur eine 10- oder 12-Punkte-Wertung der Jury für «Nackert» hätte daran etwas ändern können, und auch wenn wie früher nur das Televoting gegolten hätte, wäre Cascada gefahren. Das zur Vorgeschichte, denn es stellte sich als keine gute Idee heraus, «Glorious» zu wählen, eine Dance-Nummer, die markante Ähnlichkeiten in Arrangement und Teilen der Refrainmelodie mit Loreens «Euphoria», dem genialen Vorjahressieger, aufwies. Nachahmer-Songs hatten in der Regel beim nächsten ESC nie eine Chance. Cascada, das war das Projekt der sympathischen Bonnerin Natalie Horler, Tochter des renommierten britischen Jazzmusikers David Horler, der 1980 zum WDR kam und die WDR Big Band mit aufbaute, sein musikalisches Talent hatte er an seine Tochter weitergegeben. Für ihren Malmö-Auftritt wünschte sich Natalie eine durchsichtige Showtreppe aus Acryl, die wurde gebaut und ging mit auf die Reise.
Mich brachte erneut ein unangenehmes Intermezzo meines Hüftgelenks aus der Bahn. Ende März bekam ich Fieber, das Gelenk schmerzte, bei der Kontrolle waren die Entzündungswerte von normal 4 auf 280 angestiegen, das deutete auf eine Infektion am künstlichen Gelenk hin. Nach zehn Tagen im Krankenhaus und Antibiotika-Infusionen beruhigte sich die Lage, ich musste aber weiter Antibiotika als Tabletten schlucken, das Bein schonen und Gehhilfen benutzen. Aber einen E-Roller konnte ich wohl kaum nach Schweden mitführen. Gut war, dass ich in Malmö wieder einen Assistenten neben mir haben würde, zum ersten Mal war Lukas Heinser dabei, ESC -Experte, als Blogger und Autor aktiv, Mitarbeiter unter anderem beim WDR . Mit Stefan Niggemeier hatte er während der letzten drei Song Contests Blogs geschrieben, Oslog, Duslog und den Bakublog für Spiegel online . Ich traf ihn zum ersten Mal in Baku, als er mich im Pressezentrum interviewte, das neben der Halle lag und wie ein zukünftiges Autohaus wirkte. Ich musste ihm sogar einen Weckruf für seinen Handywecker einsprechen, «Lukas aufstehen!». Es hat gewirkt, Lukas war immer pünktlich. Über die Jahre wurde er für mich eine wichtige Hilfe, organisatorisch, inhaltlich, menschlich, als Ideengeber, Rechercheur, Elektronik-Wizard und Beobachter der «sozialen» Netzwerke.
Das Spannendste an Malmö war eigentlich die Fahrt dorthin. Wir landeten in Kopenhagen und fuhren per Bus über die eindrucksvolle Öresund-Brücke, die seit 2001 Schweden mit Dänemark und dem Rest Europas verband. Besonders Malmö und der Süden Schwedens profitierten von dieser Verbindung, siebzehntausend Pendler nutzten täglich die Brücke, um in Kopenhagen zu arbeiten, die Dänen reisten zum Einkaufen. Malmö, das in den 1970er- und 1980er-Jahren unter dem Niedergang der Schwerindustrie und des Schiffbaus schwer gelitten hatte, erfand sich selbst neu, zog Universitäten und junge Kreativ- und Technologiefirmen an, wandelte sich zur ökologischen Musterstadt und blühte wieder auf.
Die Arena von Malmö entpuppte sich für meine Situation als sehr angenehm und stressfrei, es gab nämlich Aufzüge bis zu den Logen, in denen die Boxen für die Kommentatoren steckten, die Entfernungen, auch zum Pressezentrum, waren überschaubar.
In den Semifinals tauchten auch in Malmö wieder skurrile Beiträge auf, die das ESC -Archiv bereicherten, aber dem Samstagabend-Publikum, das nur das Finale ansah, leider entgingen. Es musste an der Vorweihnachtszeit gelegen haben, dass das Fernsehpublikum in der Schweiz eine Musikgruppe der Heilsarmee zum nationalen ESC -Beitrag erkor. Was nur als Werbegag für die Sozialarbeit der Heilsarmee gedacht war, wurde ernst. Der Organisationsname «Heilsarmee» verstieß aber gegen EBU -Regeln, also nannte sich die Freizeitkapelle «Takasa», kurz für «The act known as salvation army». Wenigstens lieferte man etwas für die ESC -Geschichtsbücher, Emil Ramsauer, der Bassist der Band, schlug die russische Oma und war mit fünfundneunzig Jahren der bei Weitem älteste ESC -Teilnehmer aller Zeiten. Musikalisch war das Ganze höchstens reif für den Weihnachtsmarkt, nicht für das Finale. Dorthin gelangte überraschend der litauische Sänger Andrus, bei dem ich mehr auf die Füße achtete, er trug nämlich zwei verschiedenfarbige Schuhe. Im Kommentar zitierte ich den Text des Refrains: Er singt tatsächlich «Ich habe zwei Schuhe, der eine ist Liebe, der andere Schmerz». Mein nüchternes Fazit, «ich glaube, der Schmerz war stärker».
Bei Rumänien wurde es dramatisch, man erinnerte an die Provinz Transsylvanien mit einem spektakulären Auftritt, der so camp war, dass ihm ein Platz im Grand-Prix-Archiv sicher war. Gesungen wurde auch, und zwar hoch, von einem international bekannten Counter-Tenor, den die Bühnentechnik immer größer werden ließ. Mein Kommentar: «Das hat die Welt gebraucht, Modern Talking, wiedergeboren als jubilierender Graf Dracula, der gerade neue Opfer gefunden hat.» Die Sängerin der Ukraine wurde von einem 2,40 Meter großen Riesen, einem der längsten Menschen der Welt, in verzweifelter Pose auf die Bühne getragen, es schadete dem komplizierten Song nicht, Platz 3.
Das UK blieb bei seinem Konzept von 2012 und präsentierte mit der 61-jährigen Bonnie Tyler einen Alt-Star mit guten Verbindungen, die amerikanische Songschreiberlegende Desmond Child, der schon Hits für Kiss, Bon Jovi oder Robbie Williams geschrieben hatte, zauberte für sie einen Klasse-Song aus dem Hut. Neu war, dass Bonnie gar nicht mehr so rau wie auf ihren früheren Hits klang und dass nicht nur die Stimme geglättet war. Sie wurde dennoch nur Neunzehnte. Sogar zwei Ränge dahinter, auf 21, endete der Ausflug von Natalie Horler und Cascada. Sie meisterte in ihrem hübschen fleischfarbenen Partydress die Treppe, wirkte aber bei einigen hohen Tönen ziemlich verkrampft. Ich stellte mir vor, wie Stefan Dettl und seine Brassbande über diese Bühne getobt wären, turbulent, amüsant und wenigstens originell.
Meine drei Lieblingssongs in Malmö landeten alle in den Top Ten, Ungarns ByeAlex, ein Nerd mit Brille, Wollmütze und Vollbart, rappte eine poetische Liebeserklärung auf einen hypnotischen Beat, Textprobe: «Meine Liebste wurde von Wölfen aufgezogen, sie badet in wunderschönen Meeren und läuft auf Wolken, Winde zerzausen ihre Haare und flechten sie morgens zu Zöpfen …» Mein Kommentar, «welche Frau möchte da nicht in Ungarn leben?», Platz 10. Seit 2004 hatten die Niederlande nicht mehr das Finale erreicht, daher war die Freude riesig, als es endlich wieder klappte, und das mit einer sehr bekannten Sängerin und ihrer ungewöhnlichen Ballade, die ganz und gar nicht nach dem typischen Grand-Prix-Rezept gestrickt war. Anouk war seit den 90er-Jahren auch bei uns erfolgreich gewesen, in Malmö schlug sie ganz zarte, melancholische Töne an, sie sang über sterbende Vögel, die von den Dächern fielen. Außergewöhnlich und außergewöhnlich schön, belohnt mit Platz 9. Sogar auf den vierten Platz kam die modernste Produktion mit Margaret Berger aus Norwegen, Dubstep, Elektro, klare Melodien und ein nordisch-kühler Blondinen-Look, der unter der Oberfläche brodelte. Und wer gewann? Der gemeinsame Nenner, ein eher unauffälliger Song mit der zwanzigjährigen Emmelie de Forest aus adeligen Kreisen, der klug einige essenzielle Zutaten zum Erfolgsrezept zusammenrührte, Flötenschlumpf, Trommeln, keltische Melodien und blanke Füße.
Ich habe mich später einige Male gefragt, was eigentlich aus der schönen Acryltreppe wurde, landete sie in Malmö auf dem Müll, oder fristet sie im Fundus des NDR ihr tristes Dasein?
Nachdem ich noch aus Malmö im strömenden Regen am Sonntagmittag im ZDF -Fernsehgarten versucht hatte, die deutsche Platzierung zu erklären, überquerten wir wieder diese unglaubliche Brücke, ich musste an die großartige TV -Serie denken, in der sie die Hauptrolle spielte. Zu Hause schlug ich mein Leib- und Magenblatt auf, die Süddeutsche Zeitung , in der Wochenendausgabe blickte mich auf der Meinungsseite mein Foto an, darunter ein überaus schmeichelhaftes Porträt, geschrieben von Hans Hoff. Anke Engelke wurde zitiert, ich sei ihr Reisebegleiter, «er kommentiert, erklärt und unterhält zugleich», und der notorische ESC -Kritiker Hoff resümierte über die «Bombastshow»: «Durch Urbans Ironie ist sie ein Ereignis …» Mein Sonntag war gerettet.
2014, seit über fünf Jahren leitete Thomas Schreiber nun schon das Projekt ESC , er hatte die Kooperation mit ProSieben und Stefan Raab eingefädelt, die mitgeholfen hatte, große Erfolge in den Jahren 2010 bis 2012 zu erzielen. Thomas wurde von manchen gefürchtet, er ginge angeblich hart mit seinen Mitarbeitern um, würde einsame Entscheidungen treffen. Ich konnte das überhaupt nicht bestätigen, ganz im Gegenteil, ich erlebte ihn kommunikativ und informativ, er war sorgfältig, genau, plante vorausschauend und bezog alle Beteiligten in die Vorbereitungen des Vorentscheids und des ESC -Finales mit ein. Seine regelmäßigen Jour-fixe-Treffen in den Monaten vor dem Contest waren offene Informations- und Diskussionsrunden, die alle Bereiche wie Technik, Aufnahmeleitung, Produktion, Online, Presse, Redaktion, Delegation, Jurybetreuung und Kommentar auf den aktuellen Stand brachten. Ich genoss diese Treffen sehr, sie waren effektiv, räumten Missverständnisse und Unklarheiten aus und schufen innerhalb des großen Teams eine menschliche, harmonische, gemeinschaftliche Atmosphäre, die ich in keiner anderen Abteilung derart positiv, produktiv und unterstützend erfahren hatte. Mit den Mitarbeitern des ESC -Teams zusammenzuarbeiten, machte ganz einfach Spaß.
Kopenhagen hatte ein Problem, die Metropole war für ihre klassischen Bauten bekannt, aber besonders für ihre moderne Architektur, die Nationalbibliothek und die neue Oper. Nur hatte man leider keine passende zeitgemäße Halle für ein Großereignis wie den ESC . Also fand man eine Notlösung, eine riesige, seit Jahren verlassene Werfthalle auf einer heruntergekommenen Hafeninsel, die etwas hochtrabend jetzt Eurovision Island genannt wurde. Als ich aus dem kleinen Fenster meines Zimmers im Hotel Admiral, einem früheren Hafenspeicher, über das Wasser schaute, lag die Insel und die alte Werft vor mir, etwa einen Kilometer entfernt. Das dänische Fernsehen hatte mit Riesenaufwand eine hochmoderne Showarena in die abgetakelte Halle gebaut, die bei Bühne und Technik State of the Art war. Drinnen war alles tipptopp, aber drum herum herrschte der Charme einer öden abgewrackten Industriebrache, da war bei Journalisten und Besuchern aus ganz Europa schon eine Menge guten Willens notwendig. Vielleicht war bei dem gigantischen Aufwand für Technik und Bühne in der Halle kein Geld mehr da, um auch draußen für akzeptable Zustände zu sorgen. Die Insel konnte nur über eine schmale zweispurige Straße erreicht werden, was natürlich für riesige Staus sorgte, eigentlich war auch der Transport über Wasser möglich, der Weg vom Anleger zur Halle entpuppte sich aber als weit und beschwerlich, zumal es die gesamte ESC -Woche über regnete. Die Wege auf der Insel und auf der alten Werft waren matschig, von Pfützen übersät, der Gang zum Pressezentrum war für mich ein Abenteuer, ich lief nach zwei Operationen im Herbst 2013 noch mit Gehhilfen. In der Halle wurde es nicht leichter, man hatte die Kommentatoren-Boxen auf den Oberrang der provisorischen Tribünen in fünfundzwanzig Meter Höhe gesetzt, der Aufstieg erfolgte über eine wackelige Konstruktion mit acht Baustellentreppen, die immer stärker schwankte, je höher man kam. Oben wogte es etwa einen halben Meter hin und her. Ich sah Kolleginnen oder den schwergewichtigen spanischen Kommentator José Maria, die sich beim Hochsteigen an das Geländer klammerten, weil sie Angst hatten abzustürzen oder ihnen wegen der Höhe schwindelig wurde. Schwindelfrei war ich, aber nach jeder Treppe musste ich eine Pause einlegen, Lukas war so lieb, meine Krücken hochzutragen, eigentlich war die Kletterei eine gute Reha-Übung. Wenn man oben war, tauchte das nächste Problem auf, an das die Organisatoren auch nicht gedacht hatten: Wie geht man auf die Toilette? Der Auf- und Abstieg und der Weg zu den WC -Containern außerhalb der Halle dauerte viel zu lang für die während der Show möglichen Zeitfenster wie Recap oder Pausen-Act. Nach Beschwerden baute man in luftiger Höhe ein Chemie-WC ein, ob das je genutzt wurde, entzog sich meiner Kenntnis.
Die beim ESC 2014 von der ultramodernen TV -Technik produzierten Bilder waren allerdings Weltklasse, Videoeinspielungen an Seiten und Rückwänden waren ja schon Standard, aber hier wurde der gesamte Bühnenboden bespielt, Performer konnte auf den Boden projizierte Straßen entlanglaufen, die sich mitbewegten, oder auf Wiesen, Feldern Wellen oder Wolken tanzen, ein spektakuläres Novum in der TV -Geschichte. Moderiert wurden die drei Shows von einem Trio, zu dem einer der bekanntesten Schauspieler Dänemarks gehörte, Pilou Âsbek, einer der Hauptakteure der brillanten dänischen Polit-Serie «Borgen». Wo er in der Serie düster, ehrgeizig und mysteriös agierte, zeigte er nun seine komische und höchst unterhaltende Seite.
Über dem gesamten Song Contest schwebten jedoch der russische Überfall auf die Krim drei Monate zuvor und der eskalierende russisch-ukrainische Konflikt. Die russische Delegation verweigerte jegliche Äußerung zu diesem Thema, was sollten die russischen Sängerinnen, zwei siebzehnjährige Schwestern, schon dazu sagen? Beim Eröffnungsempfang im Kopenhagener Rathaus trug die Delegation der Ukraine schwarze Trauerschleifen im Gedenken an die Opfer der Auseinandersetzungen, Sängerin Marija sagte, sie singe für sechsundvierzig Millionen Landsleute in Ost und West und versprühte Hoffnung, «Konflikte enden, Musik lebt». Leider hat sie sich geirrt. Im Wettbewerb lagen die beiden Länder am Ende eng beieinander, die Ukraine auf Platz 6, Russland auf Platz 7, was aber bedeutete ein ESC -Ergebnis schon, angesichts des politischen und militärischen Angriffs auf ein Nachbarland.
Deutschland wurde von Elaiza vertreten, einem Trio aus Berlin mit einer aus der Ukraine stammenden Sängerin, Elaizas Lied «Is It Right» war eingängig, freundlich, harmonisch, stimmungsvoll, aber ihr Auftritt für diese grandiose Kulisse etwas zu bescheiden und zu wenig auffällig. Leider nur Platz 18. Die frühere deutsche ESC -Ikone Ralph Siegel war trotz aller Abschiede noch immer ehrgeizig und aktiv, zum dritten Mal hintereinander versuchte Siegel für das kleine San Marino das Finale zu erreichen, und in Kopenhagen gelang es, ich habe ihn selten so glücklich erlebt. Siegel saß sogar mit auf der Bühne, am Flügel wie 1982, allerdings reichte es dann im Finale nur zum 24. Rang.
Absolut hingerissen war ich vom niederländischen Song, einem meiner All-Time-Favoriten, «Calm After the Storm» von Common Linnets, deutsch die Finken. Dahinter steckte eine der erfolgreichsten Sängerinnen der Niederlande, die 36-jährige Ilse DeLange, und ihr Duettpartner Waylon, zusammen hatten sie unter dem Namen Common Linnets in Nashville ein Album aufgenommen und präsentierten wunderschön entspannten ehrlichen Country-Pop aus Holland. Ergebnis Platz 2 und in den Monaten nach dem ESC ein europaweiter Hit mit größerem kommerziellem Erfolg als der Siegersong. Der kam nach achtundvierzig Jahren mal wieder aus Österreich, mit einem Auftritt, der vorher stark polarisiert hatte. Der fünfundzwanzigjährige Tom Neuwirth träumte immer vom Showbusiness, von Glitzer und glamourösen Kleidern. So erschuf er sich eine Kunstfigur, Conchita Wurst, eine Dragqueen, die auch noch einen Bart trug, als vollkommene Provokation. Da war der ESC die perfekte Bühne, der sei, so Conchita, eine Veranstaltung ohne Vorurteile, Hass und Diskriminierung. Dann kam diese unglaublich fulminante Performance, eine fantastisch gesungene James-Bond-Ballade vor einer in Flammen stehenden Kulisse. Ich konnte nur sagen: «Aufgestiegen aus der Asche, in der Österreich beim Song Contest seit Ewigkeiten festsaß, ob Mann oder Frau, mit oder ohne Bart, bei Conchitas flammendem Auftritt ist der Rest doch eh Wurscht.» Der Sieg war überlegen und verdient, Stimmen aus allen Teilen Europas, auch aus Ländern im Osten und Südosten, in denen Homosexuelle noch diskriminiert wurden, ein Zeichen des Aufbruchs, ein Sieg der Toleranz und der Menschlichkeit.
Für uns Kommentatoren da oben in fünfundzwanzig Metern Höhe hatten unsere lieben Dänen noch eine kleine Überraschung. Mitten in der Show, vor dem ersten Recap, schalteten die Moderatoren zu Graham Norton von der BBC , ein paar Boxen neben der unseren. Nach einer Minute Small Talk hieß es, wir haben noch ein kleines Geschenk für euch. In dem Moment explodierte mit lautem Knall ein Feuerwerk direkt vor unseren Kabinenfenstern, ich war zu Tode erschrocken, dachte sofort an einen Anschlag, und als ich den schlechten Witz erkannte, fluchte ich laut ins offene Mikrofon: «F****** Hell, wollt ihr uns umbringen?» Ich glaube, keiner der Kommentatoren fand die Aktion komisch, die Dänen und ihr Humor …
Die Geschichte des ESC 2015 in Wien begann gleich mit einem Drama, dem Drama von Hannover. Im Vorentscheid war alles so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hatte, der stärkste Song, der stärkste Sänger Andreas Kümmert hatte mit 79 Prozent der Zuschauerstimmen die Fahrkarte nach Wien gewonnen, ich freute mich schon. Da nuschelte Kümmert auf der Bühne etwas zu Moderatorin Barbara Schöneberger, ich verstand nicht, was er meinte. Die Botschaft war: Er verzichtet. Kurz geschockt, holte Barbara Luft und sagte zur zweitplatzierten Ann Sophie: «Dann fährst eben du.»
Der Rückzug von Andreas Kümmert war deswegen ein Drama, weil ihm und Deutschland eine große Chance aus der Hand glitt, mit Kümmerts Stimme und seinem ausgezeichneten Song wäre er in Wien unter die ersten fünf gekommen, da war ich mir sehr sicher. Man wusste doch von Kümmerts Ängsten, war da kein Betreuer der Plattenfirma, kein Manager, der beruhigend auf ihn einwirken konnte? Denn den Stress, den ein ESC -Künstler vor und während des Song Contests durchstehen muss, hätte man eventuell steuern oder minimieren können, er hätte in Wien nicht jeden Pressetermin mitnehmen, nicht jede Verpflichtung erfüllen müssen, sondern sich auf die Musik konzentrieren können. Ich empfand seinen Abgang schmerzlich für alle, dazu voreilig und unnötig, so albern es klang, wahrscheinlich hatte man sich nicht genug um ihn und seine Sorgen gekümmert.
Ich hatte die opulente und gleichzeitig morbide Schönheit Wiens länger nicht genossen, der Blick aus meinem großen Zimmerfenster unseres ungewöhnlichen Hotels auf das Museumsviertel stimmte mich ein, die Fahrt über den Ring an Staatsoper, Hofburg, Volksgarten, Burgtheater vorbei zum Eröffnungsempfang im Rathaus holte mich in den Wiener Zauber zurück, auch das hatte ich dem Song Contest zu verdanken.
Die Wiener Stadthalle war ein Bau aus den späten 50er-Jahren. Österreichs größte Halle, aber nicht riesig, sondern manchmal verwinkelt und eng, aber beinahe gemütlich, besonders in den Gastronomieräumen, die den Charme von altmodischen Kantinen versprühten. Nichts war weitläufig, nichts großkotzig. Es war der 60. Grand Prix, und zum Jubiläum hatte die EBU den treuen australischen Sender, der seit Langem den ESC «Down Under» übertrug, selbst zum Wettbewerb eingeladen, sogar mit einem garantierten Finalplatz.
Ebenfalls gemütlich ging das Finale los, eine Reise durchs schöne Österreich, Erinnerungen an Udo Jürgens und an Conchitas Auferstehung, die Wiener Sängerknaben, ein Kinderchor, der Rapper Leftboy, dazu das Radio-Symphonieorchester, drei eloquente Moderatorinnen, der seit 2013 übliche und hier besonders pompöse Einmarsch der vierzig Kandidaten, schon waren über zwanzig Minuten vergangen, bevor der erste Starter die Bühne betrat. Tanzstimmung kam mit Israels Lied auf. Wie bei einem pubertären Teenager wechselte auch «Golden Boy» spontan die Stimmung, es begann mit einer Trauerklage, der Boy heulte sich bei der Mama aus, weil er Liebeskummer hatte, Mamas Lösung «Tanzen gehen», und dann folgte ein fröhlicher Trip durch die Clubs von Tel Aviv zu einer mitreißenden Melodie und unglaublich ansteckenden orientalischen Tanzbeats. Nur Platz 9, leider. Der Abend war voller hochklassiger Songs, der spannendste landete am Ende auf Platz 8, eine Bowie-ähnliche Ballade des norwegischen Sängers und Songschreibers Kjetil Mörland und seiner Duettpartnerin Debrah Scarlett, welch passender Künstlername. Das Thema von «A Monster Like Me» war eigen, es ging um einen in der Kindheit begangenen Mord und das andauernde Gefühl von Schuld und Angst, das jede Liebe zerstörte. Geheimnisvoll und gruselig kribbelnd, aber auch schön und zart, eine mörderische Liebesballade, die unter die Haut ging. Ähnlichen Effekt hatte Lettlands Sängerin Aminata Savadogo mit einer hypnotischen modernen Elektronummer, belohnt mit einem tollen 6. Platz.
Zur heiß erwarteten Premiere Australiens kam einer der beliebtesten Sänger des fünften Kontinents, Guy Sebastian. Guy kannte große Auftritte, er hatte schon vor dem Papst und der Queen gesungen, aber bei der größten Show der Welt anzutreten, war auch für ihn etwas Besonderes. Er war professionell und erfolgreich, aus dem Stand Rang 5.
Davor auf Platz 4 der junge Belgier Loic Nottet mit hoher R&B-Stimme und abgehackten Tanzbewegungen, ein cooler moderner Auftritt in Schwarz-Weiß, auch wenn er aussah wie ein bockiger Gymnasiast.
Friedenslieder hatten beim ESC schon immer Konjunktur, doch in Wien waren es gleich drei. Eines kam, gut ein Jahr nach der Besetzung der Krim, aus – man glaubte es kaum – Russland. Doch vielleicht war die Auswahlkommission des russischen Fernsehens gar nicht Kreml-gesteuert und meldete den Song als subversive Friedensbotschaft? Die arme Sängerin Polina Gagarina konnte einem leidtun, sie hatte ja nun nicht die Krim okkupiert, wurde aber permanent ausgebuht. Dabei sang der russische Superstar die Ballade «A Million Voices» absolut brillant, ich notierte: «Großes Kino, besser kann man einen solchen Song nicht singen, aber ihr Friedensappell bitte in Gottes, Pardon, Putins Ohr.» Platz 2. Ich fürchte, in den letzten Jahren war der Song nicht mehr im Repertoire russischer Radiosender.
Der Sieg ging an Schweden, dort war Mans Zelmerlöw schon seit fast zehn Jahren ein Star. Sein Song war gut, aber nicht unbedingt Weltklasse, dafür waren die visuellen Tricks mit einem gezeichneten Strichmännchen, das neben dem Sänger agierte, sensationell und brachten letztlich den Erfolg.
Deutschland belegte den letzten Platz, Ann Sophie erhielt genau wie die Gastgeber aus Österreich null Punkte, das hatte es seit fünfzig Jahren nicht mehr gegeben. Nach der Show stand ich wieder vor den Kameras und suchte nach Erklärungen, die fingen beim antiquierten Bewertungssystem des ESC an. Bei siebenundzwanzig Startern im Finale litt die untere Hälfte des Tableaus natürlich umso stärker, denn von jeder einzelnen Länderjury, von jedem nationalen Televoting erhielten nur die zehn Top-Platzierten jeder Wertung Punkte, die restlichen siebzehn bekamen null Punkte. Und wenn man nie bei einer Jury oder bei einem Televoting unter die Top Ten kam, blieb es bei null, das klang kompliziert, war aber ganz einfach. Das Wertungssystem des ESC gehörte längst grundlegend geändert, alle siebenundzwanzig oder sechsundzwanzig Teilnehmer des Finales sollten von jeder Jury, jedem Televoting in der jeweiligen Rangfolge mit siebenundzwanzig Punkten hinunter bis zu einem Punkt bewertet werden, dann entstünde eine exaktere Rangfolge und mehr Gerechtigkeit. Allerdings wäre auch in einem anderen Voting-System Ann Sophie Letzte gewesen, allerdings mit Punkten. Ihr Lied war in diesem Angebot von Klasse-Songs nicht konkurrenzfähig und war untergegangen. Ich dachte nur wehmütig an Andreas Kümmert. Aber ich hatte mir angewöhnt, den ESC losgelöst vom deutschen Ergebnis zu bewerten, denn für mich war die Wiener Ausgabe ein sehr sympathischer schöner Song Contest und, ja, ein sehr gemütlicher, das Finale dauerte exakt vier Stunden, ein bis dahin einsamer Rekord.
2016 also wieder Stockholm , davor die Vorentscheidungsshow bei Brainpool in Köln-Mühlheim mit zehn sehr unterschiedlichen Kandidaten von Hardrock, Pop, Singer-Songwriter, Gregorianischen Gesängen bis zu Schlager. Ich war als Off-Kommentator beteiligt, Barbara Schöneberger hatte die Bühne im Griff. Es siegte Jaimie-Lee Kriewitz, eine junge schüchterne Sängerin aus Springe bei Hannover, die den Vorteil hatte, schon «The Voice of Germany» gewonnen und mit dem ESC -Kandidatensong «Ghost» einen Top-Ten-Hit gehabt zu haben, also eigentlich perfekte Voraussetzungen für eine gute Rolle in Stockholm hatte. Nachher ist man immer schlauer, aber wenn man sich den zauberhaft schwebenden Song des Berliner Duos Keoma noch einmal anhörte, der sehr modern nach Portishead oder Air klang, hätte man beim immer fortschrittlicheren ESC sicher bessere Chancen gehabt. Doch so war nun einmal das Prinzip: Das TV -Publikum der ARD entschied nach seinen Vorlieben, die offensichtlich selten mit denen des internationalen Publikums übereinstimmten.
Stockholm zeigte sich im Mai 2016 von der besten Seite, Sonne und glitzerndes Wasser, über das ich von meinem Hotelzimmer direkt auf das wunderschöne Rathaus, das Stadshuset, schaute. In dessen eindrucksvoller Kulisse fand der Eröffnungsempfang statt, mit den früheren schwedischen Siegerinnen Loreen und Carola und mit Björn von ABBA , der eine brillante Rede über Politik, Gesellschaft und Musik hielt, es war eine der stilvollsten Feiern meiner ESC -Karriere. Davor noch ein Ausflug per Boot durch die Inseln nach Djurgarden, das roch nach Urlaub, doch meine ESC -Realität begann spätestens am Montag –
Treffen der Kommentatoren, Start der Semifinalproben bis zum Samstag, Finaltag, wieder mal. Nach kurzer Nacht ein spätes Frühstück. Im Fahrstuhl ein Mann mit Sonnenbrille im langen Mantel, sah aus wie Bryan Ferry. Es war Ferry, der abends im Saal des Hotels ein Konzert geben würde. In der Lobby wartete die deutsche Delegation auf die Abfahrt zur letzten Probe, ich wünschte der deutschen Sängerin viel Glück. Mit ehrlicher Absicht, sie würde jede Unterstützung brauchen. Später die letzten Korrekturen am Text, stimmten die Vergleiche, biss die Ironie oder plätscherte sie zu nett? War ich zu frech oder flapsig oder gar ungerecht? Nach acht Tagen voller Proben drehte sich auch das dünnste Lied als Wurm im Ohr, man hörte Enten wie Englein singen. Melodien und Meinungen schwirrten umher, wer war Favorit, wer Außenseiter, wer chancenlos? Wie würden Millionen in ganz Europa abstimmen?
Nachmittags stand eine andere Entscheidung an, verzweifelt versuchte ich, mit wackeligem Internetstream die Bundesligareportagen zu verfolgen. Warum musste der letzte Spieltag auch immer auf das Datum des ESC -Finales fallen? Allerdings war Bayern schon Meister, der HSV im sicheren Mittelfeld. Das entspannte die Lage etwas. Das Manuskript schickte ich zum Gegenlesen an meinen Assistenten Lukas Heinser, ich durfte den Stick zum Ausdrucken nicht vergessen. Unser Wagen wartete schon, nach sieben gleißenden Sonnentagen lag Stockholm heute in diesigem Grau. Die Fahrt führte am Wasser entlang Richtung Globen, dem futuristischen Riesenei im Süden der Stadt. Langsam kroch kribbelnde Unruhe in mir hoch, pendelte zwischen Anspannung und Vorfreude. Der Weg zu den Sprecherkabinen war diesmal höchst komfortabel, keine Klettertouren über schwankende Baustellentreppen und geländerlose Tribünenaufgänge. Durch die überfüllte Lobby des angeschlossenen Hotels, mit dem Fahrtstuhl zum Restaurant, an Küche und speisenden Gästen vorbei direkt zu den Logenrängen des Globen. Dort reihten sich die Boxen der Kommentatoren aneinander wie Adlernester, belohnten uns mit einem grandiosen Blick von der Spitze des Globus in die Halle, daran hatte sich seit 2000 wenig geändert. Kurze Small Talks in der Kommentatoren-Lounge, aufmunternde Wünsche der befreundeten Kollegen in den Gängen, die Briten schleppten schon wieder den Champagner heran, sie würden aber wahrscheinlich nichts zu feiern haben. Dann ab in die Kabine, Check mit der Regie in Hamburg, standen die Internetverbindungen, wie klang die Stimme? Hörte ich mich gut? Unten auf der Bühne rumorte schon der unsägliche Anheizer, fütterte aufgeregte Fans mit dem Leierkasten nimmermüder Eurovisionsklassiker. Das Fahnenmeer wogte, die Uhr tickte, einmal Räuspern, ein Schluck Wasser, einmal Durchatmen. Punkt neun die Eurovisionshymne, Mikro an, rotes Licht: «Guten Abend in Deutschland, hier ist der Eurovision Song Contest aus Stockholm!» Und wieder lief ein Finale, zu Beginn schrill und aktuell, schwedische DJ -Sounds für den Catwalk der Teilnehmer von den Top-Acts der schwedischen Dance-Szene: Avicii, Swedish House Mafia, Alesso und Galantis, der Globen mit über zehntausend Menschen rockte. Zweiundvierzig Länder hatten gemeldet, sechsundzwanzig durften im Finale antreten, über fünfzig Nationen schauten live zu, auch China und zum ersten Mal die USA .
Die sahen viele Highlights, darunter einen Song, den die lettische Vorjahressechste Aminata nach ähnlichem Muster komponiert hatte, ihre Elektrobeats funktionieren auch mit männlicher Stimme für den vom Liebesschmerz getroffenen Sänger, mein mitfühlender Kommentar: «Die Leiden des jungen Letten – es zerreißt ihn ja fast!» Der einzige nur auf Französisch gesungene Titel bei diesem Grand Prix stammte nicht aus Frankreich, sondern von Zoe aus Österreich, eine charmante Überraschung auf Platz 13. Schweden trat diesmal ganz cool, undramatisch und erfrischend auf, mit dem siebzehnjährigen Frans, dessen Song «If I Were Sorry» ein Dauerbrenner in den Charts und im Radio wurde, in Stockholm aber nur Rang 5 erreichte. Die neunundzwanzigjährige Poli Genova aus Sofia vertrat Bulgarien, ihr war mit «If Love Was a Crime» ein richtig guter zeitloser Rocksong gelungen, Platz 4.
Für den russischen Beitrag wurde wieder mal geklotzt, der größte Star des Landes, der dreiunddreißigjährige Sergeij Lazarow, langweilte mit einer durchschnittlichen Euro-Hymne, aber dann kamen die teuersten Video- und Bühnendesigner ins Spiel, um einen spektakulären Auftritt zu kreieren, das hatte im vergangenen Jahr mit den Strichmännchen ja auch funktioniert. Es wurde gnadenlos alles herausgeholt, was Videotechnik so hergab, bis dem Sänger Flügel wuchsen und er schwerelos durchs All flog, willkommen beim Eurovision Video Contest. Rang 3. Das Lied der Australierin Dami Im hatte das Zeug zum Welthit und wurde von der zierlichen Sängerin mit koreanischen Wurzeln so überragend und einfühlsam gesungen, dass sie in jedem anderen Jahr gewonnen hätte, Platz 2.
Dann trat die ukrainische Sängerin Jamala mit einer modernen Elektro-Nummer auf und erzählte in dem Song «1944» die Geschichte ihrer Urgroßmutter, die von Stalins Geheimpolizei mit Hunderttausenden anderer Tataren von der Halbinsel Krim nach Zentralasien verschleppt wurde. «Es geht um meine Familie und meine Wurzeln, nicht um aktuelle Politik», meinte die Sängerin zu dem Vorwurf, mit ihrem Song auf die russische Annexion der Krim 2014 anzuspielen. Jamalas Lied war eine bewegende und intensive Geschichtsstunde voller Trauer, Schmerz und Gefühl. Das europäische Publikum fühlte mit und wählte sie auf Rang 1. Aber niemand hätte gedacht, der Song könnte wieder aktuelle Bedeutung bekommen. Anfang März 2022 musste Jamala vor dem brutalen russischen Angriff mit ihren zwei Kindern aus ihrer Heimatstadt Kiew fliehen, ihr Mann blieb dort.
Zurück zum Jahr 2016, Jamie-Lee mit koreanisch-japanischem Decora-Kopfschmuck gab ihr Bestes, aber sie erreichte mit ihrem Song weder die Herzen noch die Aufmerksamkeit der 200 Millionen, Deutschland blieb wie im Vorjahr weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.
Vor dieser Nachricht erlebten wir jedoch einen der spektakulärsten Interval-Acts aller Zeiten. Es wurden schwedische Musiker, Produzenten und Komponisten gefeiert, Leute wie Max Martin, der Dutzende von Welthits geschrieben hatte, auch für den Stargast des ESC in Stockholm, Sänger, Schauspieler und einer der größten Stars der internationalen Musikszene, Justin Timberlake mit einer groovenden Liveband und der Premiere eines Dance-Klassikers «Can’t Stop the Feeling». Die Halle und alle Teilnehmer tanzten, das runde Dach zitterte, wirklich jeder hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, Musik ging in Herzen und Beine und schuf etwas Einfaches und Schönes: gemeinsamen Spaß. Den boten danach auch noch die beiden Hosts Petra Mede und Mons Zelmerlöw, als großartige Comedy präsentierten sie den gemeinsamen Faden aller sechzig Siegersongs der ESC -Geschichte, «wissenschaftlich geprüft», ihr Erfolgsrezept hieß «Love Love, Peace Peace» als äußerst lustiges All-Time-Winner-Mini-Musical.
Stockholm 2016 gehört sicherlich zu meinen All-Time-Favoriten, ein rundum perfekter ESC , wenn ich Show, Präsentation, Interval-Act, Spannung, die Qualität der Songs oder Comedy betrachtete, auch als Kommentator fühlte ich mich in meiner kugeligen Lieblingshalle sehr wohl. Wäre da nicht wieder das schwache deutsche Abschneiden gewesen, das das Kommentieren in der Voting-Phase kompliziert machte. Da wünschte ich mir manchmal, zu Hause in Deutschland würde der ESC als das genommen, was er sein sollte, ein Spiel, eine Unterhaltungsshow, die Spaß machen sollte. Er war keine Abstimmung zur Europawahl, sondern ein internationales Vergnügen an vielfältiger Musik, modernen, verrückten, traditionellen, klischeebeladenen oder originellen Sounds, an spektakulären Bildern und Inszenierungen, an schönen, geschmacklosen oder riskanten Outfits. Kurz gesagt, man sollte die Sache nicht so ernst nehmen, sich zurücklehnen, nicht nur auf den eigenen Vertreter schauen, sondern das gesamte bunte Treiben genießen. Wenn Deutschland dann einen guten Platz erzielte, war es ja umso schöner, wenn nicht, ging die Welt auch nicht unter.
2017 war die Ukraine und Kiew zum zweiten Mal nach 2005 Gastgeber für das Mega-Ereignis ESC , in krisengeschüttelten Zeiten, geprägt von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten des Landes und dem Konflikt um die von Russland besetzte Krim. Wir hatten miterlebt, wie ein Land seine Freiheit und Unabhängigkeit in der Orangen Revolution erstritten und dann genutzt hatte, um eine selbstbewusste, moderne, vorwärtsschauende, demokratische Nation zu werden, einen Weg, den es mit den Maidan-Protesten 2013/2014 verteidigen konnte und auf den prompt 2014 die russische Annexion der Krim und der von Russland geschürte Bürgerkrieg im Osten des Landes folgten. Auch für mich war es der zweite Besuch, diesmal wohnten wir im Zentrum, fünf Minuten vom Maidan entfernt, in einer Altstadtgegend mit vielen kleinen interessanten Geschäften, Restaurants, Kunstcafés. Von den politischen Problemen spürte man oberflächlich kaum etwas in der lebendigen Metropole Kiew, die im Vergleich zu 2005 aufgeblüht war. Ich sah renovierte Straßen und Gebäude, goldglänzende Kirchenkuppeln, moderne Hochhäuser, belebte Plätze wie den zentralen Maidan, voll mit Menschen. Wir besuchten eines der interessantesten Restaurants in Kiew, das Ostannya Barycada, die letzte Barrikade, ein Lokal voller Erinnerungen und Reliquien des Freiheitskampfes. Es lag direkt unter dem Unabhängigkeitsplatz Maidan und kochte nur mit Lebensmitteln aus der Ukraine, servierte ausgezeichnetes Essen und sensationellen ukrainischen Wodka. Bei Gesprächen spürte man, wie groß die Angst der Ukrainer vor der Übermacht des russischen Nachbarn war, aber auch wie groß ihr Stolz und ihr Wille, sich zu verteidigen. Wir Westler dachten, eine übertriebene unnötige Befürchtung … Die deutsche ESC -Delegation erinnerte sich aber auch an die Gräueltaten der Nazis, es war ein sehr bewegender Besuch der Holocaust-Gedenkstätte und der Schlucht Babyn Jar, in der 1941 innerhalb von sechsunddreißig Stunden über dreiunddreißigtausend Kiewer Juden, Männer, Frauen und Kinder, von SS und Wehrmacht ermordet worden waren.
Der russisch-ukrainische Konflikt verschonte auch den ESC nicht, Russland nominierte provozierend eine Sängerin, die von der Ukraine mit einem Einreiseverbot belegt worden war, das Ergebnis dieser unnötigen Streitereien: Russland zog sich von diesem Contest zurück, so nahmen zweiundvierzig Nationen an einem außergewöhnlichen Song Contest teil, der jenseits des Dnepr auf dem Messegelände im tiefer gelegenen modernen Teil Kiews organisiert wurde. In der neu gestalteten deutschen Vorauswahl hatte sich die Sängerin Levina mit dem Song «Perfect Life» qualifiziert.
Bei der letzten Sitzung der Kommentatoren am Freitag wurde mir eine süße Überraschung serviert, eine Torte zu meinem zwanzigsten ESC -Jubiläum, überreicht von ESC -Boss Jan Ola Sand und organisiert von unserem unersetzlichen Betreuer Ivor Lyttle, die EBU nannte ihn «Verbindungsoffizier». Ivor hatten wir auch die Commentators’ Lounge zu verdanken, ein Ruhe- und Arbeitsbereich in der Hektik zwischen Proben und Shows. Beim Tortenessen mit Marty aus Irland, Ole aus Dänemark, Gisli aus Island, Sven und Jean-Marc aus der Schweiz, Andi aus Österreich, Edward aus Schweden, Olav aus Norwegen, Andrej aus Slowenien oder Cornald aus den Niederlanden wurde eines klargestellt. Obwohl ich seit zwanzig Jahren aktiv war, gehörte der Hut des Alterspräsidenten Jean-Marc Richard, dem Kommentator des französischsprachigen Schweizer Senders RTS , der seit 1991 bei jedem ESC entweder für Radio oder TV kommentiert hatte.
Die erste Überraschung des Finales lieferte Weißrussland, denn da gab es freundlich-fröhlichen amerikanischen Folkrock original auf Weißrussisch zu hören. Den letzten Sieg beim ESC hatte Norwegen 2009 mit Alexander Rybak erlebt, 2017 vollzog Norwegen einen Sprung in die aktuelle Popszene mit einer richtig attraktiven DJ -Nummer, Platz 10.
Das Motto des Song Contests in Kiew war «Celebrate Diversity – feiert die Vielfalt», und das erfüllte keiner besser als der Beitrag aus Ungarn. Zum ersten Mal kürte das ungarische Fernsehpublikum einen Künstler aus der Volksgruppe der Roma und Sinti. Der war sich seiner wichtigen Rolle als Repräsentant einer ethnischen Minderheit bewusst: «Ich glaube, das ist ein Durchbruch: Ich bin der erste Roma, der Ungarn stolz beim europäischen Wettbewerb vertreten wird.» Joci Papai tat das mit hypnotischen Gypsy-Klängen und schnellen Wortkaskaden, dass man denken konnte, Rappen sei in Ungarn erfunden worden. Platz 8. Der lange Zeit hoch favorisierte Francesco Gabbani aus der Toskana war einer der prominentesten und auffälligsten Künstler dieses ESC . Gabbani hatte das Sanremo-Festival gewonnen und war momentan der erfolgreichste Sänger Italiens, sein rhythmischer, aber gleichzeitig tiefsinniger Song «Occidentali’s Karma» war europaweit ein Hit, dennoch nur Rang 6. Erfolgreicher sang die siebzehnjährige Schülerin Blanche aus Brüssel mit tiefer Stimme von den Lichtern der Großstadt, «City Lights», das war dunkel und geheimnisvoll, eine coole Indie-Nummer, Platz 4. Die Geschichte des Sunstroke Project aus Moldau klang verrückt: 2007 lernten sie sich beim Armeeorchester kennen und gingen als Tanzband auf Tournee, schon 2010 vertraten sie ihr Land in Oslo mit einem eigenwilligen Mix aus Dance-Beats, Geige, Saxofon, wurden aber nur 22. Doch das Saxofon-Solo erreichte im Internet Weltruhm. Unter dem Namen Epic Sax Guy wurden vier Takte zu einem Zehn-Stunden-Loop zusammengeschnitten und über dreißig Millionen Mal angeklickt. 2017 waren die drei wieder dabei und trieben ihren Spaß bis auf Rang 3. Beeindruckend reif sang der siebzehnjährige bulgarische Sänger Kristian Kostov seine dramatische Ballade «Beautiful Mess» und erklomm Rang 2.
Doch der überraschendste und erfolgreichste Beitrag des Jahres kam aus Portugal, es war der allererste Sieg des Landes nach achtundvierzig Teilnahmen. Der siebenundzwanzigjährige Salvador Sobral stammte aus einer Adelsfamilie, studierte Psychologie, gab aber bald seiner wahren Liebe nach und begann ein Jazzstudium in Barcelona. Beeinflusst war Salvador von Bossa-Nova, Chanson, portugiesischem Fado, aber besonders von Jazztrompeter und Sänger Chet Baker. Seine ältere Schwester Luisa, eine Jazzmusikerin, schrieb ihrem Bruder einen passenden wunderschönen Song, den sie in Vertretung bei den Proben auch selbst singen musste, weil ihr herzkranker Bruder erst zum Semifinale anreisen konnte. Bei den Finalproben improvisierte er ständig unterschiedliche Versionen, mal sang er, mal scattete er, mal ahmte er eine Trompete nach, ein freier Geist. Es war eine Sensation, ein portugiesischer Jazzsänger gewann den ESC mit ungewöhnlich leisen Tönen und einem zarten, intimen und berührenden Lied. Salvador Sobrals «Amar Pelos Dois», ein denkwürdiger unvergesslicher Moment in der Geschichte des Song Contests. Ich freute mich unendlich, war es doch der ultimative Beweis, dass der Eurovision Song Contest sich grundlegend gewandelt hatte und offen war für vielfältige aufregende Musik, weg von alten ESC -Klischees und konturloser Fließbandware.
Das Schicksal meinte es weniger gut mit Deutschlands Beitrag, Levinas Auftritt wirkte kühl in einem langen silbergrauen Rock vor weiß-grauer Kulisse, dabei handelte ihr Song vom perfekten Leben, da wäre ein wenig mehr Farbe schön gewesen. Die erste Strophe sang Levina auf dem Rücken liegend, was Stimme und Timbre nicht guttat, erst im Stehen erreichte sie normale Stimmkraft. In der Rückschau war auch das musikalische Arrangement des eigentlich soliden Songs zu konventionell und undynamisch, um gegen die Qualitäten der Konkurrenz eine Chance zu haben. Da hätte auch die genialste Inszenierung nicht helfen können, wenn die musikalische Grundlage nicht genügte. Auch dieser deutsche Auftritt berührte nicht die Herzen, Seelen oder Gefühle der Zuschauer und litt dazu, wie schon oben erwähnt, am störrischen Voting-System des ESC . Das Ergebnis der 25., vorletzte Platz mit sechs Punkten, einem Pünktchen vor Spanien. Die Bestürzung war natürlich groß, jetzt würde wieder aus allen Ecken Kritik vor allem auf den NDR als verantwortlichem Sender niederprasseln. Dabei arbeitete auch nach Stefan Raabs Abschied vom ESC 2012 der NDR sehr eng mit Raabs Produktionsfirmen Brainpool und RaabTV bei den Vorentscheiden und bei der Kandidaten- und Songakquise zusammen. Bei Konzept, Inhalt, Auswahl und Organisation spielten die Raab-Firmen eine bedeutende Rolle bei der Findung der deutschen Beiträge seit 2010, zunächst mit großem Erfolg, später mit weniger. Das Problem war, dass bei der sehr schwierigen Aufgabe einer Vorauswahl eine gute Basis von Kandidaten, Songs und Alternativen vorhanden sein musste, um eine gute Wahl zu treffen. Schon früher hatten die Plattenfirmen mit ihren Angeboten diese Basis zu selten liefern können, später garantierten Kandidaten, die sich über Webseiten und YouTube beworben hatten, ebenfalls nicht immer ein solides Potenzial, Glück war ein notwendiger, aber nie planbarer Faktor. Vor allem: Woher sollte man außerordentliche, überragende Songs nehmen, gut reichte nämlich nicht aus, es brauchte diesen besonderen Kick, dieses spezielle Etwas, das einen normalen durchschnittlichen Song zu einem erfolgreichen machte und die Fähigkeit besaß, die Menschen in Europa zu erreichen.
Der Nachtclub im obersten Stockwerk unseres Hotels erlebte dann aber doch noch eine ausgelassene After-Show-Party der deutschen Delegation, die sich den Frust aus den Beinen tanzte. Mir wurde noch eine besonders nette Geste zuteil, nachdem die großartigen Steffi Stradmann und Nina Straube schon meine Kabine mit Girlanden, Ballons und einer großen «20» geschmückt hatten, wurde nachts um halb fünf ein wunderschöner kleiner Jubiläumsfilm vorgeführt, den Lukas Heinser gefertigt hatte, mit guten Wünschen und lustigen Grüßen von meinen liebsten Kommentatoren-Kollegen, vom früheren Head of Delegation Torsten Amarell, vom 2017er-Team und mit einem lieben Handy-Videogruß von Lena.
Auf nach Lissabon , endlich wieder in den Süden!
Für 2018 wurde die Zusammenarbeit mit Brainpool und RaabTV beendet und nach vielen Diskussionen und Überlegungen ein neues Auswahlsystem eingeführt, mit zwei Jurys, einem hundertköpfigen Panel von ESC -Fans und einer internationalen Fachjury mit etwa zwanzig Mitgliedern, die aus erfahrenen Juroren ihrer Länder zusammengesetzt war. Diese Gremien suchten per Audio- und Videoanalyse sechs Kandidaten für den Vorentscheid, der im Februar in Berlin-Adlershof organisiert wurde, außer den beiden Jurys sollte auch das Voting des TV -Publikums in die Entscheidung einfließen. Linda Zervakis und Elton moderierten, ich war wieder als Livekommentator aktiv. Zuvor war als wichtige Neuerung ein Songwriter-Camp veranstaltet worden, bei dem erfolgreiche Autoren mit den Kandidaten an deren Songs arbeiteten. Das Ergebnis war höchst erfreulich, Michael Schulte wurde von allen drei Gremien am besten bewertet und siegte überlegen mit seinem Lied «You Let Me Walk Alone». Ursprünglich hatte Michael zuvor auch über einen schnelleren Song nachgedacht, der neue ESC -Redakteur Christoph Pellander spielte mir die beiden Alternativen vor, auch mein Votum ging eindeutig an die bewegende Ballade «You Let Me Walk Alone», in der Michael zu einer feinen Melodie den frühen Verlust seines Vaters in persönlichen Worten thematisierte.
Vom Fenster unseres Hotels am Parque Eduardo VII hatte ich einen herrlichen offenen Blick über die portugiesische Hauptstadt, eine wahre Perle. Der Eröffnungsempfang wurde in Belèm direkt am Meer auf einem blauen Teppich zelebriert. Die schöne Arena mit einem hölzernen Dach, das Pavilhao Atlantico, lag ebenfalls am Wasser, an der Bucht, in der sich der Fluss Tejo ins Meer ergießt. Die Sonne, der weite blaue Himmel, die wunderbare Luft, das glitzernde Wasser, die Gerüche des einfachen Außenrestaurants am Hafenbecken entfalteten eine entspannte Atmosphäre, wie ich sie bei kaum einem Song Contest zuvor erfahren hatte. Für mich hörte die Entspanntheit aber beim Weg in die Halle und zu den Kabinen auf, es ging durch die Zuschauertribünen etwa vierzig Treppenstufen ohne Geländer steil nach oben, die Regelungen in Europa für Sicherheit schienen trotz EU doch wohl weit auseinanderzuklaffen. Der Blick aus der Box auf die nahe Bühne entschädigte dann aber für vieles. Nuno, der überaus sympathische Kommentator Portugals, begrüßte uns, er war auch für die Künstlersuche in Portugal zuständig, er hatte den famosen Salvador Sobral für den ESC gefunden, ihm hatten wir also eigentlich den Trip nach Lissabon zu verdanken. Zur Entspannung trug die sehr unaufdringliche, aber effektiv und schnell operierende portugiesische Polizei bei, die das Hotel absicherte und jeden Bustransport von rasenden Motorradpolizisten begleiten ließ, die uns durch den dichten Verkehr manövrierten, Kreuzungen freihielten, rote Ampeln überfuhren und Autos zur Seite drängten, ich fühlte mich an Dublin erinnert.
Beim Finale geschah zunächst etwas Sensationelles für die portugiesische Musikszene, die berühmtesten Fado-Sängerinnen des Landes, Anna Moura und Mariza, die sich nicht gerade grün waren, standen zum ersten Mal gemeinsam auf einer Bühne. Dazu erlebte das Finale die Rückkehr des Salvador Sobral, fünf Monate zuvor war dem kranken Sänger ein Herz transplantiert worden, beim Heim-ESC nun der erste Auftritt seit dem Eingriff – zusammen mit der brasilianischen Ikone Caetano Veloso, ein stiller bewegender Moment, vom Publikum bejubelt.
Ein Comeback im Wettbewerb versuchte der norwegische Champion von 2009 Alexander Rybak. Der setzte auf den gleichen Charme wie früher, kam aber mit einem schwachen Song nur auf Rang 15. Frischer Wind blies aus Tschechien mit dem hochbegabten Sänger, Rapper und Tänzer Mikolas Josef, Platz 6.
Michael Schultes Lied fand schon vor dem Finale bei Journalisten und meinen Kommentar-Kollegen große Beachtung, da hatten sie die großartige Bühneninszenierung des Songs noch nicht gesehen. Nach einem Aufruf hatten Fans aus aller Welt, die ein ähnliches Schicksal wie Michael erfahren hatten, Fotos hochgeladen. Michael stand zunächst auf einer schwarzen Bühne, dann erschienen auf einer Videowand hinter ihm Kernworte aus dem Songtext, One Love, Two Hearts, Three Kids, Home oder Shelter from the Storm, dazu die Fotos auf dem schwarzen Hintergrund. Dann breitete Michael bei der Stelle, an der der Refrain dramaturgisch gesteigert wurde, die Arme aus, die Bewegung wurde von der Grafik aufgenommen, multipliziert und wandelte sich auf der halbkreisförmigen Videowand zu einer rotierenden Scheibe in Weiß, Rot und Schwarz, aus der noch einmal die Kernworte hervorschossen, ein unglaublicher Effekt, der am Ende wieder im tiefen Schwarz aufging, in dem Michael die letzten ruhigen Zeilen sang. Stille, und dann riesiger Jubel. Es war eine der besten Inszenierungen, die ich je beim ESC gesehen hatte, aber nicht ohne diesen großen Song denkbar, sie deckte das Lied nicht zu, sondern komplementierte und steigerte die Dramaturgie und die Botschaft der Musik und der Worte. Um diesen Geniestreich zu ermöglichen, musste allerdings zunächst ein großes Problem gelöst werden, denn in Lissabon gab es zum ersten Mal seit vielen Jahren keine LED - oder Videowand auf der Bühne, also brachte das deutsche Team eine aufblasbare Videowand in Halbkreisform mit, auf die Bilder und Grafik projiziert werden konnten. Und diese riesige Luftmatratze wurde tatsächlich innerhalb von dreißig Sekunden aufgeblasen und nach dem Song in derselben Zeit wieder entleert, allein das ein Meisterstück. Der britische Kommentator Graham Norton, der in der Box neben uns saß, sagte mir nach der Show, wie sensationell die Inszenierung des deutschen Songs gewesen sei und dass sein Erfolg hochverdient sei. Als ich ihn auf die britische Sängerin Surie ansprach, deren Auftritt von einem politischen Wirrkopf gestört worden war, indem er ihr das Mikrofon entrissen hatte, antwortete Graham nur lakonisch mit englischem Humor: «Vielleicht hat es ihr ja sogar geholfen.» Surie wurde 24., Drittletzte.
Michael Schulte lag schon nach der Juryabstimmung auf Rang 4, den er auch halten konnte, als die Publikumspunkte verkündet wurden, er kam sogar bis auf zwei kleine Punkte an den Dritten, den Österreicher Cesar Sampson, heran, die beste deutsche Platzierung seit Oslo. Der neue Modus hatte funktioniert, auch durch das Glück, einen tollen Sänger mit einem berührenden Song und einer kongenialen Performance gefunden zu haben.
Austrias Cesar, früher Sänger bei den DJ -Päpsten Kruder und Dorfmeister, Produzent und Personal Trainer gleichzeitig, lag bei den Jurys auf dem Platz 2, rutschte noch mit dem athletischen Vortrag seines starken Songs auf Platz 3. Eleni Foureira brannte für Zypern ein Flammengewitter ab, bei dem man froh sein konnte, dass das schöne Holzdach der Halle nicht abgefackelt wurde. Ihr Latin-Disco-Kracher «Fuego» hätte in anderen Jahren sicher für den Sieg gereicht, in Lissabon wurde sie von der bekennenden israelischen LGBT -Sängerin Netta daran gehindert. Deren schriller wie cleverer Song «Toy», bei dem sie ihre Stimme mit einer Loop-Station auf der Bühne vervielfachte, war seit März weltweit durch die Decke gegangen. Zeilen wie «ich bin nicht dein Spielzeug, du dummer Junge» kamen natürlich in der MeToo-Debatte genau richtig. Nettas Auftritt war bunt, wild und stolz und gewann den 63. Song Contest für Israel. Übrigens, die Portugiesen schafften das Finale in unglaublichen drei Stunden und elf Minuten.
Schon 2019 zeigte es sich, dass auch das beste Auswahlsystem seine Schwächen hatte, denn es konnte trotz der Beteiligung einer internationalen Fachjury, deren Mitglieder in ihren Ländern auf die richtigen Sieger gesetzt hatten, keinen dauerhaften Erfolg garantieren. Gewählt wurde beim deutschen Vorentscheid das frisch geformte Duo S!sters mit dem Schwestern-Song «Sister», und zwar mit Höchstpunkten von Fachjury und TV -Publikum, während das ESC -Fan-Panel nur sechs Punkte beisteuerte. Das Publikum hatte das mutigste Lied des Abends, «Surprise» der Würzburgerin Lilly Amon Clouds, mit der zweitbesten Wertung und zehn Punkten belohnt; wären die beiden Jurys dem gefolgt, hätte die etwas spröde, aber außergewöhnliche Lilly eine Chance auf den Sieg gehabt. Es war zwar müßig zu spekulieren, aber mit der anrührenden, intimen und besonderen Stimmung der Lilly-Ballade wäre Deutschland weitaus näher an der aktuellen musikalischen Entwicklung des ESC gewesen als mit einer unspektakulären trägen Mainstream-Nummer im Medium-Tempo, die es nicht einmal in die Playlisten des Mainstream-Radios schaffte. Ich fühlte mich an Keoma 2016 erinnert, aber was konnte ich kritisieren? «Sister» war gemäß der Regeln korrekt und deutlich gewählt worden. Nun hoffte ich, dass die Dauernörgler nach einem Misserfolg ihre Häme nicht wieder nur über dem NDR -Team ausschütten würden, denn mit dem neuen Modus der zwei Jurys war die Entscheidungsgewalt auf mehrere Schultern verteilt.
Die Reise nach Tel Aviv war ein Traum, das Hotel lag direkt am Mittelmeer, das war in der israelischen Metropole fast normal, der breite Küstenboulevard war endlos lang. Vom Balkon meines Zimmers im 22. Stock schaute ich den schon sehr belebten Strand entlang, das Wetter war mild, die Sonne schien intensiv. Allerdings verbrachte ich das Gros des Tages in einer dunklen Halle oder vor dem Laptop am Schreibtisch. Zur ESC -Halle musste man rund vierzig Minuten in den Norden der Stadt fahren, zum Convention Center. Dort hatte das israelische Fernsehen für die Finalshow Weltstars aufgeboten, es moderierte Topmodel Bar Refaeli, Wonder Woman Gal Gadot führte uns die Essenz von Tel Aviv vor, als Interval-Act wollte Madonna die Gelegenheit nutzen, vor zweihundert Millionen Menschen ihr nächstes Album zu promoten, angeblich ließ sie sich dafür von einem israelischen Geschäftsmann fürstlich entlohnen. Ab Freitag wurde die Halle für die Proben des Superstars mehrfach geräumt, damit niemand zuschauen konnte. Man hatte nur vergessen, dass die Hallenwände an mehreren Seiten offen waren, dazu versäumte man, das PA -System auszuschalten, so konnten wir, ob wir wollten oder nicht, der Lady bei der Probe zuhören. Und das klang nicht gut, sie traf die Tonlage des Playbacks nicht, doch ich dachte, die überprofessionellen Amerikaner würden das schon regeln, zur Not könnte sie ja auch zum Vollplayback mimen, wie sie es manchmal bei Livekonzerten zu tun pflegte.
Vor dem Finale musste ich zunächst die Nachricht verdauen, dass der von mir hochgelobte österreichische Song von Paenda ausgeschieden war. Das war Pop-Avantgarde, sparsam, reduziert, intensiv, aber für das Halbfinale zu schwere Kost, da werteten nämlich nicht alle Länder mit, sondern nur die beteiligten plus zwei der Big Five, nach Italiens Rückkehr gehörten auch die Italiener zu den fünf fest Qualifizierten.
Eine krachende Performance aus Island hatte es allerdings ins Finale geschafft, da konnte ich nur warnen: «Hier nähert sich die isländische Band Hatari, und jetzt wird’s laut und schrill, schicken Sie vielleicht die Kinder zum Getränkeholen – Hatari wollen mit ihrer krassen Performance Populismus, Diktaturen und Auswüchse der Konsumgesellschaft kritisieren.» Der Song hieß «Hatrið mun sigra – Hass wird siegen, wenn wir nicht Liebe dagegenstellen», und das 2019 mit Rammstein-Gewalt in die Welt geschrien.
Mein privates Plädoyer für künstlerische Klasse einer ungewöhnlichen Sängerin wie Lilly Among Clouds fühlte sich durch den wagemutigen Beitrag Australiens bestätigt. Die ausgebildete Opernsängerin Kate Miller-Heidke war gleichzeitig eine der renommiertesten Popkünstlerinnen Australiens mit zahlreichen Hits, sie sang am Royal Opera House in London und an der Met in New York. Ihr ESC -Song erinnerte an Kate Bush, und sie nahm den Songtitel wörtlich: «Zero Gravity» – null Schwerkraft. Wir erlebten das fünfte Element vom fünften Kontinent, ein atemberaubendes Bild, fliegende Frauen im Weltraum, und es war kein Bildtrick, wir sahen es ja von unserem Kabinenfenster genau. Die australische Gesangsqueen saß auf einer schaukelnden fünf Meter langen Stange und jubilierte dabei in den höchsten Tönen, es war ein Wahnsinn, der Kate auf Rang 9 trug.
Für die Schweizer Kollegen, die auch in unserem Hotel wohnten, war der Finaltag, der 18. Mai, wie Weihnachten. Zum ersten Mal seit fünf Jahren hatte die Schweiz das Finale erreicht und sprang mit dem dynamischen Luca Hänni auf den Platz 4, wobei er ganz knapp an Platz 3 vorbeischrammte. Große Jubelparty später in der Hotelbar.
Als der sechsundzwanzigjährige italienische Sänger Mahmood im Februar 2019 das Sanremo-Festival gewann und damit ESC -Vertreter des Landes wurde, kritisierten rechte Politiker wie Innenminister Salvini diese Entscheidung. Mahmood hieß eigentlich Allessandro Mahmoud, wuchs als Kind einer sardischen Mutter und eines ägyptischen Vaters auf, der die Familie früh verließ. Die Beziehung zu seinem Vater, der nur Interesse an seinem Geld und nicht an ihm hatte, war auch Thema seines eindrucksvollen Songs, der lang an der Spitze der italienischen Charts stand. In Tel Aviv musste er sich knapp geschlagen mit Rang 2 zufriedengeben.
Gewinner des ESC wurde der Niederländer Duncan Laurence, als Jugendlicher erlebte er Mobbing, schrieb Songs und Gedichte, spielte Klavier. Musik war sein Zufluchtsort, an dem er frei und sicher war. Sein Song «Arcade» erzählte vom Verlust eines lieben jung verstorbenen Menschen. Es war faszinierend, wie es Duncan Laurence schaffte, 7000 Menschen in der Halle und wahrscheinlich auch Millionen an den Fernsehern zu berühren.
Das gelang dem Weltstar Madonna nicht. Die erfolgreichste Künstlerin aller Zeiten, eine lebende Legende, wollte die Plattform des ESC nutzen, um ihr neues Album «Madam X» vorzustellen und gleichzeitig den 30. Geburtstag ihres Albums «Like a Prayer» zu feiern. Die Feier ging in die Hose, sie erschien in einer Mönchskutte und stieg eine lange Treppe hinunter, dabei sang sie eine zu tiefe und zu langsame Version ihres Welthits, genauso schief wie bei den Proben. Ich konnte es nicht fassen, hatte sie keine Berater oder Manager, die sie vor einem solch katastrophalen Fehler beschützten? Sich vor zweihundert Millionen Menschen zu blamieren, war keine Kleinigkeit, wenigstens lief der zweite Titel, das Cumbia-inspirierte «Future» mit dem US -Rapper Quavo, im Vollplayback, das klang dann in Ordnung. Danach sagte ich in milden Worten: «Madonna, Sie haben am Anfang gemerkt, hier wird live gesungen. Auch Weltstars müssen mit solchen Situationen kämpfen, manchmal hört man sich nicht gut, so geht’s auch den ESC -Stars.» Ich verkniff mir den Zusatz, dass diese mit der modernen In-Ear-Technik fast nie mehr falsch sangen.
Richtig gut sang das deutsche Duo S!sters seinen Song, vielleicht hätte eine außergewöhnliche Inszenierung dem Titel helfen können, aber so liefen die beiden Sängerinnen auf einem Catwalk durch das Publikum, ohne wirkliches Konzept, ohne Dynamik oder Steigerung. Es wurde der 25. und vorletzte Rang, einen Platz vor dem UK -Sänger, dessen Lied wie das deutsche von der kanadischen Autorin Laurell Barker stammte, eine Seltenheit. Aber Laurell zeichnete nicht nur für die beiden letzten Plätze verantwortlich, sondern auch für den vierten Rang des Schweizers Luca Hänni, so eng – oder so weit – lagen Glück und Pech beieinander. Übrigens brachen die Israelis den Wiener Rekord, die Finalshow von Tel Aviv dauerte unglaubliche vier Stunden und elf Minuten bis 2.11 Uhr Ortszeit. Als wir um halb vier ins Hotel zurückkehrten, luden uns die Schweizer zum Trost wenigstens zu ihrer Feier ein …
Im Frühjahr 2020 schlug Covid zu, wie vieles wurde auch der geplante Song Contest in Rotterdam abgesagt, Thomas Schreiber gelang es mit seiner neuen Head of Delegation Alexandra Wolfslast, wenigstens eine Ersatzveranstaltung in der Elbphilharmonie unter Pandemiebedingungen zu organisieren.
2021 stand wieder Rotterdam im Fokus, der 65. ESC sollte im Mai dort stattfinden. Da für mich als Risikopatient der Impfschutz noch nicht vollständig war, bat ich die Redaktion, den ESC aus Hamburg kommentieren zu dürfen. Dafür wurde in der Wagenhalle, in der auch der Ü-Wagen mit Ton- und Bildregie parkte, eine mobile Kommentatoren-Box aufgestellt. Die guten Feen Steffi und Nina betreuten mich großartig, ich hatte einen kurzen Weg zu meinem Toningenieur Sammy Kassem und einen angenehmen zur nächsten Toilette, mein Assistent Lukas Heinser saß in der Kabine in Rotterdam, um mich auf dem Laufenden zu halten, ich konnte mich also über nichts beklagen. Doch es war nicht dasselbe, es fehlten die Atmosphäre, das Kribbeln, die Kontakte, Gespräche vor und nach den Proben oder abends im Hotel. Der Zuschauer wird es meinem Kommentar kaum angemerkt haben, aber ich selber spürte es, mir fehlte eine Menge, obwohl ich mich wie durch einen Tunnel oder einen Film nach Rotterdam in die Ahoy-Arena und die dortige Kabine versetzte. Einmal, während des Finales, wollte ich, wie von den früheren Contests gewohnt, aus dem Fenster die Reaktion des Publikums nach einem tollen Auftritt beobachten, ich stand auf, blickte aus dem Fenster – und starrte gegen die graue Garagenwand der Wagenhalle, ein harter Schnitt in die Realität. Aber nicht nur für mich waren es andere Bedingungen, die Pandemie hatte auch den ESC im Griff. Duncan Laurence, der Sieger von 2019, konnte nicht wie geplant im Finale live als Gaststar auftreten, er war positiv getestet in Quarantäne. Die Rückkehr des ESC war nur mit Erlaubnis der niederländischen Regierung unter strengen Hygiene-Vorschriften möglich. Die teilnehmenden Länder-Teams wurden ständig getestet und durften sich nur in Hotels und der Halle aufhalten. Bei einem positiven Test wurde isoliert, und es gab Bühnenverbot. So erging es der isländischen Band, die mit einem Video teilnahm und dennoch den vierten Platz erreichte. Ein ESC mit Kontakten, Gesprächen, normaler Kommunikation oder gar einem Stadtbesuch war es also auf keinen Fall.
Trotz der Umstände wurde der Rotterdamer ESC ein Meilenstein, der letzte Beweis für den neuen, jüngeren, offenen, vielfältigen, toleranten, modernen Song Contest. Nach der Punktevergabe befand sich unter den ersten zwölf Platzierten nur ein einziger Mainstream-Titel, nämlich auf Platz 10 Griechenland, sonst wählte Europa (plus Israel und Australien) auf die vorderen Ränge ausnahmslos Lieder diverser Stile, ein Querschnitt durch aktuelle ausdrucksstarke originelle Popmusik mit Persönlichkeit, fern vom Durchschnitt: Soul, Rap, Hardrock, Chanson, Ethno-Trance, Synthi-Pop, R&B, Singer-Songwriter.
Portugal schickte mit Black Mamba eine klassische Soulband, die ihr süßes Gift verspritzte, für Russland rappte Manizha, eine engagierte Kämpferin gegen häusliche Gewalt, für Frauenrechte und die LGBTQ -Community. Sie sang über den Aufbruch der russischen Frauen und wurde zu Hause angefeindet. Platz 9.
Die ukrainische Band Go A verschmolz traditionellen osteuropäischen Folkgesang mit treibenden modernen Elektro-Beats, hypnotisch, Platz 5. Mit schwebenden geheimnisvollen Tönen, die in höchste Höhen aufstiegen, brillierte der junge Schweizer Sänger Gjon’s Tears, Rang 3. Emotional und berührend war der Auftritt der Französin Barbara Pravi, im 6/8-Takt kreiselte sie sich hoch zu einem packenden Finale, die legitime Erbin der französischen Chanson-Tradition, und die Piaf passte im Himmel auf sie auf.
Der Triumph gehörte der römischen Band Maneskin, sie war Vertreter der jungen Musikergeneration Italiens, die Wut und Rebellion ausdrücken und den Respekt der Älteren einfordern wollte, den bekam diese fantastische Band im Übermaß. Seit dem ESC -Sieg machten Maneskin Weltkarriere, wurden in den USA für einen Grammy nominiert.
Deutschlands Beitrag «I Don’t Feel Hate» von Jendrik brachte eine weitere Enttäuschung und wurde mit drei Punkten Vorletzter. Ich verstand nicht, warum der Song von beiden zuständigen Jurys zum Kandidaten gekürt worden war. Jendriks Bewerbungsaktion für den ESC mit lustigen Making-of-Videoclips war zwar sympathisch, aber davon wussten Europas Zuschauer nichts, sie hatten nur den hektischen sprunghaften Song, einen Trip durch vier Stile in drei Minuten und seine hyperaktive atemlose Performance zu bewerten, danach wunderten die null Punkte vom Publikum nicht. In den Livesendungen hielt ich mich aber aus Respekt vor dem deutschen Beitrag und aus Loyalität mit derartiger Kritik stets zurück und erntete dafür viel negatives Feedback mit dem Tenor, ich wäre zu nett und kritiklos den deutschen Teilnehmern gegenüber. Ich hielt dennoch an diesem Prinzip fest, meist hatten ja auch die Fernsehzuschauer Künstler und Lied mit ausgewählt. Rückblickend hätte ich aber schon öfter mal aus meiner Sicht als Kommentator schwächere Auftritte, Mängel oder Versäumnisse ansprechen können, ohne die nötige Fairness zu verletzen.
Am Schluss des Finales wollte ich im Namen des gesamten Teams unserem scheidenden Teamchef Thomas Schreiber für Energie, Einsatz und Leidenschaft danken, mit der er zwölf Jahre den ESC im deutschen Fernsehen erfolgreich betreut und zu großen Erfolgen geführt hatte. Doch das niederländische Fernsehen startete den Abspann über eine Minute zu früh, vielleicht weil man unter vier Stunden bleiben wollte. So wurde mein Dank mitten im Wort abgeschnitten. Daher musste ich den Dank auf einem anderen Weg nachreichen …
Am 24. Februar 2022 stellte sich endgültig heraus, dass die Befürchtungen, die wir 2017 in der Ukraine gehört hatten, berechtigt gewesen waren. Wir hatten uns alle täuschen lassen. Auch der ESC 2022 in Turin stand unter dem Eindruck des russischen Angriffs, das Finale begann mit einer von allen Künstlern, Moderatoren und Zuschauern zusammen gesungenen Friedensbotschaft, John Lennons «Give Peace a Chance».
Ich kommentierte wieder aus Hamburg, angesichts angestiegener Fallzahlen mit der Gefahr einer Ansteckung auf der Reise, die eine zehntägige Quarantäne im Turiner Hotelzimmer bedeutet hätte, schien mir die Heim-Variante für alle Seiten die sicherste zu sein.
Die Vielfalt und die hohe Qualität des ESC von Rotterdam fanden auch 2022 in Turin ihre Fortsetzung, in der bisher längsten Finalshow überhaupt, dreißig Sekunden länger als Tel Aviv. Die niederländische Sängerin und Autorin S10 ging in ihren Songs sehr offen mit ihren psychischen Problemen um, zu denen akustische Halluzinationen, Depressionen und eine bipolare Störung gehörten; ihr ESC -Song «De diepte – Die Tiefe» war ein sensibler Blick in einen dunklen Tunnel. Die Portugiesin Maro sang mit ihren fünf Kolleginnen in schönster Harmonie über «Saudade», die spezifisch portugiesische Form des Weltschmerzes, da wurden Sehnsucht und Melancholie zur stillen Freude. Der moldawische Song «Der kleine Zug» handelte von einer Bahnfahrt zwischen Chișinău und Bukarest, den Hauptstädten von Moldau und Rumänien, der Bahnverkehr war im Verlauf der Pandemie eingestellt, und das treibende dampfende Tanzlied feierte kräftig die Wiedereröffnung der Zugverbindung. Die serbische Künstlerin Konstrakta meditierte über körperliche und geistige Gesundheit und die serbische Gesundheitsversorgung. Da saß sie auf der Bühne, wusch sich die Hände, ließ sich Handtücher reichen und kreierte mit minimalistischen Tönen ein frappierendes Stück Musiktheater, großartig, Platz 5.
Nach dem letzten Platz des UK in Rotterdam war die BBC neue Wege gegangen, beauftragte eine erfolgreiche Agentur und fand einen Top-Kandidaten, den zweiunddreißigjährigen Sam Ryder mit seiner formidablen 1970er-Jahre-Retro-Ballade, brillant und Platz 2.
Deutschland hatte in einem Vorentscheid den Teilnehmer bestimmt, die Kandidaten waren von einigen Musikchefs der ARD -Pop-Wellen nach dem Kriterium «radiotauglich» ausgesucht worden, das mochte für deutsche Sender genügen, aber nicht für den ESC . Mir schien, das Gremium hätte sich die Top Ten des ESC 2021 genauer ansehen und anhören sollen. Dennoch war Malik Harris mit «Rockstars» für Turin ein guter Kandidat mit positiver Ausstrahlung und einem modernen Song, der absolut in Ordnung war. Sein letzter Platz mit sechs Publikumspunkten und keinem der Jurys blieb für mich nicht so recht verständlich. Dass man Abstimmungen im veralteten ESC -System manchmal doch weniger ernst nehmen sollte, besonders in schwierigen Zeiten mit wichtigeren Problemen, bewies auch der schwache 20. Rang von Rosa Lynn aus Armenien mit ihrem hübschen Ohrwurm «Snap». Der entwickelte sich dennoch über den Sommer in vielen Ländern Europas zum meistgestreamten Hit des ESC 2022.
Lange war unsicher, ob die ukrainischen Musiker des Kalush Orchestra nach Turin würden reisen können. Doch sie kamen, als Botschafter, Hoffnungsträger und Stimme ihres gepeinigten Landes. Das Kalush Orchestra verband Rap mit traditionellen Folk-Motiven, sein Lied war eine Ode an die Mutter von Rapper Oleh Psjuk, der hatte dafür einen Satz geschrieben, der durch den Krieg beklemmend aktuell geworden war: «Ich werde immer zu dir zurückkehren, auch wenn alle Straßen zerstört sind.»
Nach dem Auftritt stand das gesamte PalaOlympico in Blau-Gelb, als Zeichen der Solidarität. Es war von Beginn an klar, dass das geschundene Land den Contest gewinnen würde, das Voting war eine internationale Volksabstimmung gegen den russischen Angriffskrieg. Musik konnte keine Aggressoren und Kriegsverbrecher stoppen, konnte keine Kriege beenden, aber sie konnte aufrütteln, klagen und anklagen, trösten und vielleicht irgendwann heilen.
Der nächste ESC könnte nicht in der vom Krieg getroffenen Ukraine veranstaltet werden, daher springen die zweitplatzierten Briten ein. Der 67. ESC findet in Liverpool statt, von Dublin etwa 200 Kilometer über die Irische See entfernt, es soll mein fünfundzwanzigster seit 1997 sein und mein letzter als Kommentator, da schließt sich doch irgendwie der Kreis. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen!