KAPITEL 7

Frank hatte natürlich keine Lust, wie Pinocchio auszusehen. Aber andererseits blieb ihnen nicht mehr viel Zeit, die Spielerpässe wiederzubekommen und Huber zu beweisen, dass sie hereingelegt worden waren. Also zog er sich zwar ein Stück zurück ins Gebüsch, aber nur so weit, dass er Vanessa und Carlos weiter heimlich beobachten konnte.

Die beiden redeten erregt aufeinander ein. Aus seinem Versteck heraus konnte Frank nicht jedes Wort verstehen, aber er bekam immerhin mit, dass von ihm die Rede war. Als das Wort Spielerpässe fiel, wurde er hellhörig. Doch kurz darauf wandte sich Carlos ab, winkte Vanessa noch einmal zu und ging mit schnellen, zielstrebigen Schritten den Weg hoch, an dessen Rand sich Frank versteckt hatte.

Als Carlos' Blick über die dichte Reihe der Büsche wanderte und an einem großen Holunderbusch ganz in seiner Nähe hängen blieb, hielt Frank erschrocken den Atem an. Vanessas Freund ging jedoch weiter – und so dicht an Frank vorbei, dass er bloß die Hand hätte ausstrecken brauchen, um ihn zu berühren.

Auch nachdem Carlos hinter der nächsten Ecke verschwunden war, wagte Frank ein paar Sekunden lang nicht, zu atmen Doch dann stieß er überrascht die Luft aus. Vanessa hatte inzwischen die Klinke der Mädchenumkleide in der Hand. Jetzt ließ sie sie jedoch wieder los, sah sich noch einmal um – und stürmte in die entgegengesetzte Richtung davon, als ahne sie, dass sie verfolgt würde!

Frank war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er eine Entscheidung fällen musste. Wenn er Vanessa auf den Fersen blieb, drohte vielleicht ein weiterer unangenehmer Zusammenstoß mit Carlos. Aber wenn er es nicht tat? Dann würde er sich selbst in den Hintern treten, sollte sich dann doch herausstellen, dass Vanessa in der Geschichte mit den verschwundenen Pässen mit drinhing.

Nach einem letzten sichernden Blick in die Runde schob Frank das Geäst auseinander und trat auf den Weg. Keine Spur von Carlos. Doch beunruhigender war im Moment, dass Vanessa gerade hinter den Umkleideräumen aus seiner Sicht verschwand. Er musste sich beeilen.

Ohne zu zögern jagte er los. Seine Schuhe verursachten Geräusche wie Pistolenschüsse, als er über die Kunststoffmatten vor den Umkleideräumen hetzte. Er konnte nur hoffen, dass Vanessa sie nicht hörte.

Dann hatte er die Ecke erreicht, hinter der sie verschwunden war. Sie war schon fast wieder hinter dem nächsten Gebäude, einem Gerätehaus, verschwunden. Offensichtlich hatte sie es ziemlich eilig. Ob das mit den verschwundenen Spielerpässen zusammenhing?

Frank hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da trat er um die Ecke – und sah Vanessa durch ein Drehkreuz das Sportgelände verlassen und den Bürgersteig betreten. Aber das war noch nicht alles. Nur zwei Schritte von ihm entfernt stand Huber! Er war in ein Gespräch mit einem älteren Mann vertieft und hatte bisher offensichtlich weder Vanessa noch Frank bemerkt, da er ihnen den Rücken zukehrte.

»Und wenn ich es Ihnen sage, Herr Huber«, sagte der ältere Mann gerade, »die sind aufeinander losgegangen, als ob sie sich die Köpfe einschlagen wollten. Und dabei waren sie noch ganz jung. Ich schätze, so im D-Jugend-Alter.«

Frank blieb wie angewurzelt stehen. Er begriff sofort, von wem da die Rede war.

Jan musste sich also doch Thomy vorgeknöpft haben. Und wie es aussah, hatten auch Eberhard und Guido in die Auseinandersetzung eingegriffen. Meine Güte, das hatte ihm gerade noch gefehlt! Und wenn Huber jetzt entdeckte, dass der Kumpel der Schläger hinter seiner Tochter her war, war die Katastrophe perfekt.

Als hätte Huber seine Gedanken gelesen, drehte er sich halb um. Frank trat rasch in den Schatten des Gerätehauses. Aber es nutzte nichts. Huber ging nicht auf der anderen Seite des Gerätehauses vorbei, wie Frank gehofft hatte, sondern korrigierte im letzten Moment seinen Kurs und hielt geradewegs auf den Weg zu, auf dem Frank stand.

Damit war er geliefert.

Da es zu spät war, um jetzt noch eine Begegnung zu vermeiden, blieb Frank nichts anderes übrig, als mit weichen Knien und einem möglichst unbeteiligten Gesicht stehen zu bleiben und auf das Unheil zu warten, das in Form des Auswahl-Trainers auf ihn zuhielt.

Als Huber mit raschen Schritten näher kam und sein Blick auf Frank fiel, schien er einen Moment zu stutzen. Frank packte ein so abgrundtiefes Entsetzen, wie er es bislang noch nie empfunden hatte – nicht, weil ihm Huber jetzt gleich eine Standpauke halten würde, sondern weil sein ganzes Leben aus dem Lot lief und sich die schönen Träume von einer großen Fußballerkarriere in Luft auflösten, wenn sich weiterhin eine Katastrophe an die andere reihte.

Doch diesmal schien er mit dem Schrecken davonzukommen. Huber runzelte nur verärgert die Stirn, als er an ihm vorbeieilte, verzichtete aber auf jeden Kommentar. Offensichtlich hatte er Besseres zu tun, als sich mit einem D-Jugend-Spieler herumzuärgern, den er sowieso bei nächster Gelegenheit aus der Auswahlmannschaft schmeißen würde, wenn er sich weiter so dämlich aufführte wie in den letzten Tagen.

Als Huber endlich hinter der nächsten Biegung verschwunden war, stieß Frank erleichtert die Luft aus. Langsam reicht ihm die Verkettung unglücklicher Zufälle. Zu allem Überfluss war ihm Vanessa jetzt anscheinend doch noch entwischt. Durch den Gitterzaun, der das Sportgelände umgab, sah er, wie sie gerade auf ihr Fahrrad stieg. Ohne sich noch einmal umzusehen trat sie kräftig in die Pedale.

Frank verspürte einen scharfen Stich in der Magengegend. Vielleicht wäre es jetzt besser gewesen, aufzugeben – aber das kam für ihn nicht infrage, jedenfalls nicht, nachdem er sie mit diesem Carlos über die Spielerpässe hatte quatschen hören. Stattdessen überzeugte er sich mit einem flüchtigen Blick über die Schulter davon, dass Huber wirklich verschwunden war. Er spurtete los und quetschte sich hastig durch das Drehkreuz, über das man das Sportgelände zwar verlassen, aber nicht betreten konnte.

Doch es war sinnlos. Vanessa hatte schon einen ganz schönen Vorsprung herausgefahren und bog gerade in die nächste Seitenstraße ein. Außerdem war sie mit dem Rad unterwegs, während Frank nichts anders übrig blieb, als ihr im wahrsten Sinne des Wortes hinterherzulaufen. Es sei denn ...

Franks Blick fiel auf ein kleines rotes Rad, das direkt am Zaun stand. Es war schon ein verdammt kleines Rad, vielleicht groß genug für einen Achtjährigen – aber es war besser als nichts. Und vor allem schien es, als wäre es nicht abgeschlossen.

Frank hatte natürlich nicht vor, es zu klauen. Er wollte es lediglich ausleihen. Und ehe er noch selber richtig begriff, was er eigentlich tat, hüpfte er schon in den Sattel und stieß sich mit beiden Füßen ab.

Das kleine rote Rad hoppelte so lebhaft vom Bürgersteig auf die Straße, als wäre es ein eigenständiges Lebewesen. Frank musste sich regelrecht verrenken, um seine Füße auf die Pedale zu bekommen. Als er lostrampeln wollte, schlug jedoch erst sein rechtes und dann sein linkes Bein hart gegen den Lenker.

»Na gut, dann anders«, knurrte Frank.

Er machte die Beine breit, sodass seine Knie links und rechts vom Lenker genug Platz hatten.

Innerhalb kürzester Zeit bewegten sich Franks Füße mit geradezu affenartiger Geschwindigkeit und das Rad schoss die leicht abschüssige Straße erstaunlich schnell hinab.

Dann tauchte auch schon die Abzweigung auf, die Vanessa gewählt hatte. Frank versuchte hineinzusteuern, aber der Lenker schlug gegen sein rechtes Knie und blockierte.

»Hoppala!«, schrie Frank.

Er streckte das rechte Bein so weit aus, dass sein Knie nicht mehr stören konnte. Der Lenker schlug brav ein. Nur war das Rad schon ein Stück zu weit, um die Kurve noch sauber zu nehmen. Frank jagte auf den Bürgersteig zu. Seine Hände krampften sich dort zusammen, wo bei seinem Rad die Griffe für die Vorder- und Hinterradbremse waren. Aber links war hier gar nichts. Und der rechte Griff ließ sich widerstands- und wirkungslos drücken. Offensichtlich funktionierte nur die Rücktrittbremse. Als Frank sie betätigte, war es schon zu spät.

Das Vorderrad prallte gegen den Bürgersteig. Frank setzte die Füße auf die Erde und konnte so die Kippbewegung einigermaßen auffangen. Aber trotzdem konnte er nicht verhindern, dass das Rad unter ihm wegschlitterte und auf den Boden knallte.

Mit einem Satz sprang Frank auf und stolperte ein paar Schritte weit, bis er sich einigermaßen gefangen hatte.

Nicht dass es ihm viel genutzt hätte. Denn als er sich umdrehte, sah er drei Gestalten hinter ihm herjagen, zu Fuß zwar, aber mit einer Geschwindigkeit, die man nur erreichte, wenn man in Panik war – oder außer sich vor Wut.

Dass Letzteres der Fall war, daran zweifelte Frank nicht eine Sekunde. Denn der vorderste der Typen, die auf ihn zuhielten, war niemand anderes als Carlos!