KAPITEL 10

Zehn Minuten später saßen sie in einer abgeschotteten Ecke von Hubers großem Garten. Frank fühlte sich noch ganz benommen von der Begegnung mit Vanessas Vater –aber auch unglaublich erleichtert, dass sich der Verdacht gegen Vanessa nicht bewahrheitet hatte.

»Das war haarscharf«, sagte er ernst. »Ohne dich hätte uns dein Vater einfach platt gemacht. Ich weiß gar nicht, wie wir uns bei dir bedanken können!«

»Bedank dich lieber bei Karin.«. Vanessa lächelte Karin so vertrauensselig zu, als wären die beiden Mädchen schon seit Jahren dicke Freundinnen. »Sie hat mich nämlich nicht nur ganz dezent danach gefragt, ob Carlos oder ich etwas vom Verbleib eurer Spielerpässe wüssten – wozu mir im ersten Moment nichts eingefallen ist. Sondern sie hat mich auch darüber aufgeklärt, was für herzallerliebste Gesellen Eberhard und Thomy sind. Und da ist mir tatsächlich wieder etwas eingefallen.«

»Was denn?«, fragte Luki aufgeregt. »Hast du etwa gesehen, wie die beiden Idioten die Spielerpässe der Jungs geklaut haben?«

»Nein«, sagte Vanessa. »Aber da Carlos und ich nichts mit der Sache zu tun haben, muss es jemand anderes gewesen sein – jemand, der auch die Möglichkeit hatte, an die Spielerpässe ranzukommen. Da kommt ja eigentlich nur einer in Frage: Wieselflink. Und da habe ich mich daran erinnert, dass ich seine Schwalbe schon einmal in Wilnshagen gesehen habe, und zwar neben dem Fußballplatz.« Sie lachte glockenhell auf. »Der Typ hat schon ganz Recht. Seine umgebaute Badewanne fällt mehr auf als ein Porsche. Wäre das anders, hätte ich mich mit Sicherheit nicht daran erinnert. Aber so ...«

»Wieselflink!« Guido schüttelte überrascht den Kopf. »Das ist ja ein Ding! Da wäre ich gar nicht darauf gekommen, dass der seine Hände mit im Spiel haben könnte.«

»An was hast du dich erinnert?«, bohrte Frank ungeduldig nach.

»Nun«, sagte Vanessa. »Ich habe damals nur einen Teil von Wieselflinks Klapperkiste gesehen. Und das nur von hinten. Deshalb hat es bei mir nicht gleich Klick gemacht, als er damit auf eure Fußballwiese gedüst kam.«

Sie holte ihre Digitalkamera hervor. »Aber als ich mir gestern Abend das kleine Video angesehen habe, das ich von seiner Wahnsinns-Holperfahrt auf eurem Platz gemacht habe, da hab ich's geschnallt.«

Sie schaltete die Kamera ein und schaute auf das Display. Frank und Jan sprangen gleichzeitig hoch, um mit hineinschauen zu können. Und dann starrten sie beide über Vanessas Schultern in das kleine Sichtfeld der Kamera, das nicht einmal so groß wie eine Streichholzschachtel war.

Frank wusste nicht, was er aufregender fand: Vanessa so nahe zu sein, dass er den Duft ihres Haares riechen konnte, oder das kurze Video zu sehen, das sie auf ihrer Wiese gemacht hatte.

Wieselflinks Schwalbe hoppelte durch das Bild. Im winzigen Display wirkte sie so klein wie ein Spielzeug und doch waren erstaunlich viele Details zu erkennen. »Jetzt kommt es«, sagte Vanessa. »Vor einer guten Woche habe ich nämlich dieses komische Dreirad schon mal abgelichtet. Aber nicht als Mini-Video, sondern auf Standfotos.« Sie drückte eine Taste ihrer Kamera und tatsächlich: Da war Wieselflinks Porsche-Ersatz zu sehen – von hinten und mit dem erstaunlich großen Reserverad im Bild.

»Na schön«, sagte Jan enttäuscht. »Und was sagt uns das? Wieselflink ist doch Sportreporter. Da macht er sich wohl kaum verdächtig, wenn er neben einem Fußballplatz parkt, oder?«

»Wart's ab«, sagte Vanessa. »Es kommt noch besser.«

Das nächste Bild war gegen die Sonne aufgenommen und zeigte mehr den Bürgersteig als die Schwalbe – und ein fürchterliches Monstrum von winzigem Hund, das so weit das Maul aufriss, dass man tief in seinen Rachen schauen konnte.

Beißer!

Aber er lief nicht frei herum, sondern war angeleint. Und am anderen Ende der Leine hing Eberhard.

»Da!« Franks Zeigefinger drückte beinahe in das Display der kleinen Kamera. »Eberhard führt Beißer Gassi! Das ist der absolute Hammer!«

»Ein reiner Glückstreffer«, sagte Vanessa stolz. »Normalerweise lösche ich solche Müllfotos gleich wieder. Aber irgendwie kam ich damals nicht gleich dazu und wollte es gestern Abend nachholen.«

»Also kennen sich Eberhard und Wieselflink«, sagte Jan ergriffen. »Mann, wie kann man nur so blind sein.« Er pochte sich zweimal selbst gegen die Stirn und sprang auf. »Dann ist Wieselflink nur zu uns gekommen, um uns auszuspionieren.«

»Und daher wussten Eberhard und Thomy von unseren verschwundenen Spielerpässen«, ergänzte Guido. »Weil Wieselflink die eingesackt hat.«

Vanessa nickte und stand so rasch auf, dass Frank ganz schnell den Kopf zurückziehen musste, um nicht von ihrer nackten Schulter getroffen zu werden. »Das Foto allein ist natürlich noch kein Beweis. Aber wenn man eins und eins zusammenzählt ... Als Wieselflink mich nach Hause gefahren hat, ist seine Kiste unterwegs verreckt. Und er hat mich gebeten, was aus dem winzigen Kofferraum zu holen. Währenddessen waren er ...«

»Und Beißer!«, sagte Frank.

»... ganz alleine mit eurer Ausweistasche«, beendete Vanessa ihren Satz.

»So eine Schweinebacke«, schimpfte Luki. »Da hat er euch aber sauber drangekriegt!«

»Das stimmt«, sagte Jan grimmig. »Aber jetzt muss er aufpassen, dass er nicht sauber eine draufkriegt!«

Vanessa erwies sich als ein wahrer Goldschatz: Sie hatte mit ihren Fotos nicht nur bewiesen, dass Eberhard und Wieselflink unter einer Decke steckten – sie wusste auch, wo der angebliche Sportreporter wohnte. Zum Glück war es gar nicht weit von dem Huber-Anwesen entfernt. Und was Frank noch besser fand: Vanessa wollte ihnen höchstpersönlich den Weg zeigen.

Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, sodass die sieben total verschwitzt waren, als sie endlich das Nachbardorf erreichten. Es war noch kleiner als Biberbach. Und schon von weitem, noch von der Landstraße aus, entdeckten sie Wieselflinks Porsche-Ersatz. Das merkwürdige Gefährt stand vor einem zerfallenen Holzschuppen, eingerahmt von einem Uralt-Traktor und einem halb auseinander genommenen Autowrack.

»Das ist ja richtig anheimelnd«, sagte Guido, der neben Frank an der Spitze fuhr.

Frank nickte flüchtig. »Soviel ich weiß, gehört das hier Eberhards Onkel. Dann ist dieser Wieselflink wahrscheinlich ein Cousin von Eberhard ...«

»Also ist Vorsicht geboten.« Guido hob die Hand, drehte sich im Fahrradsattel um und rief: »Anhalten und absitzen!«

Jan grinste. »Aye, aye, Sir.«

Die Mädchen kicherten, als hätte er einen tollen Witz gerissen, und Jacki sagte abfällig: »Jungs!«

Aber sie alle brachten gehorsam ihre Räder zum Stehen und stellten sie auf Guidos Geheiß im Schatten eines Bushäuschens ab.

»Und nun, großer Meister?«, fragte Jacki.

»Na ja.« Guido ließ den Blick über seine sechs Mitstreiter gleiten und seufzte. »Es wird wohl nicht viel nutzen, wenn ich euch sage, dass ihr euch unauffällig verhalten sollt, oder?«

»Aber wieso denn nicht?«, fragte Luki begriffsstutzig.

Karin versetzte ihrem Bruder einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. »Weil wir in einem so verschlafenen Nest sowieso auffallen wie ein Ufo auf 'nem Marktplatz.«

Frank achtete nicht auf die anderen. Sein Blick schweifte über die unterschiedlichen alten Häuser auf beiden Seiten der Straße. In der gleißenden Sonne lagen sie verschlafen da. Nirgends war ein Gesicht hinter einer der Fensterscheiben zu sehen. Trotzdem war ihm nicht ganz wohl bei der Sache, als er die anderen hinter sich ließ und auf den Schuppen zuging, vor dem Wieselflinks komisches Fahrzeug parkte.

»Nicht so schnell.« Vanessa hatte ihn mit wenigen Schritten eingeholt. »Was hast du denn vor?«

Frank warf der Rothaarigen einen flüchtigen Blick zu. »Vielleicht hat Wieselflink die Spielerausweise in seiner Schwalbe liegen gelassen.«

»Glaub ich nicht«, sagte Vanessa, während sie ihre Schritte beschleunigte. »Aber nachschauen kann nichts schaden.«

Frank warf erneut einen verstohlenen Blick in die Runde und beugte sich dann über die Seitenbegrenzung der Schwalbe, um einen Blick ins chaotisch wirkende Innere zu werfen. Vanessa nahm sich die andere Seite vor. Kopf an Kopf wühlten sie Wieselflinks Hinterlassenschaften durch.

»He, lass mich mal!«, rief Luki und quetschte sich an Frank vorbei auf den Fahrersitz und tauchte mit dem Kopf in den Fußraum ab.

»Mann«, protestierte Frank. »Was ist denn das für eine Art – mir den Hintern entgegenzustrecken!«

»Ja, was ist das für eine Art!«, rief jemand hinter ihm. Frank fuhr so schnell hoch, dass er mit dem Kopf gegen das Gestänge der Schwalbe stieß.

»E... E... E... Eberhard«, stöhnte er, nachdem er sich umgedreht hatte.

Es waren tatsächlich Eberhard und Thomy, die auf der anderen Straßenseite mit ihren Rädern angehalten hatten. Sie grinsten wie Honigkuchenpferde.

»Guck dir mal die Deppen an!«, sagte Thomy begeistert. »Drei, vier, fünf, ganz viele – und alle quetschen sich in das Dreirad-Auto!«

Das stimmte zwar nicht ganz, weil nur noch Vanessa und Luki kopfüber in der Schwalbe steckten – aber es traf den Kern.

»Ich glaube, wir sollten besser die Bullen holen«, sagte Eberhard. »Das sieht mir ganz nach einem Schwalbenraub aus.«

»O Mann!« Jan wollte einen Satz nach vorne machen, aber Guido hielt ihn am Kragen fest.

»Lass mich los!«, tobte Jan. »Ich bügle den beiden Idioten die Lachfalten aus dem Gesicht.«

Jan kam nicht zum Lachfalten-Ausbügeln.

Eberhard und Thomy fuhren sicherheitshalber ein paar Meter weiter, bevor sie ihre Räder wieder zum Stehen brachten.

»Feiglinge!«, tobte Jan und ließ die Fäuste kreisen. »Kommt her – und kämpft wie Männer!«

»Wir werden wie Männer kämpfen«, sagte Eberhard.

»Und zwar am Samstag«, fügte Thomy triumphierend hinzu. »Wenn wir gegen die C-Jugend der Rottenthaler spielen!«

»Ihr ... spielt ... zusammen mit der C-Jugend«, stammelte Jan. »Aber das ... das war doch ... wir sollten doch ...«

»Ihr solltet doch«, sagte Thomy verächtlich. »Ha! Und noch mal Ha!« Er beugte sich auf seinem Sattel vor und starrte Jan an. »Daraus wird nichts, du Milchgesicht. Huber hat uns anstelle von euch aufgestellt. Er meint, wir beide wären sowieso viel besser als ihr ...«

Jan wurde schlagartig kalkweiß, Guido biss die Zähne zusammen, dass es knirschte, und Frank ballte unwillkürlich die Fäuste.

»Macht jetzt bloß keinen Unsinn«, warnte Thomy. »Wir sind schneller weggeradelt, als ihr schauen könnt!«

»Dann radeln wir euch eben nach«, sagte Jan mit Grabesstimme. »Und wenn es bis zum Ende der Welt sein müsste.«

Thomys Grinsen wurde so breit, dass eine Banane quer in seinen Mund gepasst hätte. »Wie denn das?« Er griff in die Hosentasche und holte etwas heraus. »Ohne Ventile sind Fahrradreifen ziemlich platt, oder?«

»Du ...«, keuchte Jan. »Du hast uns die Luft aus den Reifen gelassen?«

Thomy nickte begeistert, öffnete die Hand – und ließ die Ventile auf die Straße fallen. »Viel Spaß beim Pumpen.«

Frank spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. Das war kein gutes Zeichen. Es würde nicht mehr lange dauern und er würde die beiden Idioten von ihren Fahrrädern ziehen, bevor sie fliehen konnten.

»Aber das ist noch nicht alles«, höhnte Eberhard. »Seht mal, was ich hier habe!«

Er griff in seine Hosentasche. Als er die Hand wieder hervorzog, ließ er wie ein Zauberkünstler etwas darin rotieren. Es hätten drei Spielkarten sein können, aber Frank wusste es besser. Als Eberhard die Hand vorstreckte, lagen drei Spielerpässe darin wie die Full-House-Könige beim Pokern.

»Das war's dann wohl«, sagte Eberhard in das entsetzte Schweigen hinein. »Jetzt seid ihr im wahrsten Sinne des Wortes platt. Und das Schönste daran ist: Huber wird euch kein einziges Wort glauben, wenn ihr ihm erzählt, dass wir die Pässe haben – und dass mein Cousin in eure Ausweistasche Hundescheiße gestopft hat!«

Hundescheiße! Das war es also, was Huber so auf die Palme gebracht hatte. Und das Schlimmste war, dass ihnen Eberhard und Thomy damit ganz schwer eine reingewürgt hatten. Aber, verdammt noch mal: Es musste doch eine Möglichkeit geben, die beiden Angeber in ihre Schranken zu verweisen!

Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als hinter ihm Wieselflinks Motordreirad zu wackeln begann wie ein Segelboot bei hohem Seegang. Und dann passierten zwei Dinge gleichzeitig.

Luki schoss aus der Schwalbe hervor und flitzte los, direkt auf Thomy zu. Er hatte es aber nicht auf den Jungen abgesehen, sondern auf die Fahrradventile. Und bevor jemand reagieren konnte, hielt er sie schon in der Hand und spurtete zurück.

Die viel entscheidendere Person aber war Vanessa. Würdevoll wie eine Prinzessin, die mit einer königlichen Kutsche angereist war, entstieg sie der Schwalbe.

Eberhard und Thomy fiel der Unterkiefer herunter.

»So«, sagte Vanessa kühl. »Ihr glaubt also nicht, dass ich meinen Vater davon überzeugen kann, dass ihr meine Freunde reingelegt habt?«

»Deine Freunde«, ächzte Thomy. »Aber das geht doch nicht! Du kannst dich doch nicht mit diesen Chaoten anfreunden!«

»Mit wem ich mich anfreunde oder nicht«, antwortete Vanessa, »das bestimme immer noch ich. Und ihr könnt sicher sein: Wenn ich meinem Vater erzähle, was ihr hier abgezogen habt, habt ihr die längste Zeit in der Auswahl gespielt.« Sie streckte fordernd die Hand aus. »Und jetzt her mit den Spielerpässen!«