Meine Nachbarin Marlies war schrill, laut und hatte einen Vogel. Marlies konnte man nicht übersehen. Im Sommer trug sie gerne knapp bauchfrei, eng und bunt. Sehr bunt. Ihr Faible für Neon schien sich mit jedem Lebensjahrzehnt stärker auszuprägen. Marlies war 74, Witwe und trotzdem lebenslustig, weil der Tod ihres Mannes nun auch schon ein bisschen her war. Und Marlies hatte, wie gesagt, einen Vogel – Beatrix, der Wellensittich. Auch im Tierreich schien sie eine gewisse Tendenz zu Neonfarben zu haben. Als ich klein war, hatte gefühlt jeder einen Hamster oder einen Wellensittich. Und wenn man ihn nicht selbst besaß, dann aber auf jeden Fall Oma oder Opa (oder Marlies). Heutzutage ist der Wellensittich, zumindest in meinem Umfeld, nahezu ausgestorben. Ich kenne eigentlich niemanden, bis auf Marlies, der noch so einen Vogel hat. Sie hingegen hatte schon viele. Im Schnitt wird so ein Tier 8 bis 12 Jahre alt. Bei guter Haltung auch mal 15 Jahre. Marlies hatte mal einen, der laut ihrer Auskunft die Volljährigkeit nur ganz, ganz knapp verfehlt hatte.
Entsprechend oft hatte sie auch mit Beerdigungssituationen zu tun. Und obwohl jeder dieser Budgies, wie sie ihre Wellensittiche liebevoll nannte, eine besondere Beziehung zu Marlies hatte, ging sie nach dem Absterben der Tiere ziemlich rigoros vor. Die Vögel landeten im Hausmüll. Marlies sah es überhaupt nicht ein, eine große Abschiedszeremonie zu veranstalten, zumal sie meist schon kurze Zeit später wieder einen neuen Spielkameraden in ihrem Käfig sitzen hatte. Nun also Beatrix.
Beatrix war blau und ließ mein Klischeedenken offen zutage treten. Ein blauer Wellensittich namens Beatrix? War sie sich wirklich sicher, dass das ein Weibchen war? Beatrix hatte es Marlies auf jeden Fall besonders angetan. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen, wenn sie vor ihrem Vogel saß, was ich vor allem deshalb gut beurteilen kann, weil ich regelmäßig unregelmäßig zu Besuch war. Und jetzt war es mal wieder so weit. Ich hatte Marlies länger nicht mehr gesehen, Käsekuchen besorgt und wollte so die Gelegenheit nutzen, mich offiziell bei Beatrix vorzustellen.
»Du bist also Beatrix. Ehrlich gesagt sieht sie genauso aus wie Bärbel, die du vorher hattest«, wandte ich mich an die stolze Besitzerin.
»Quatsch! Guck dir mal diese Augen an: So rund und klar. Und diese Wärme, die sie ausstrahlt.«
Ich gab mir Mühe, die Besonderheiten in Beatrix’ kleinem Vogelgesicht auch zu erkennen, sah aber nur zwei winzige schwarze Punkte, die mich aufgeregt ansahen.
»Und Beatrix kann ein Kunststück«, setzte Marlies, die meine Skepsis bemerkte, nach.
»Soso. Ein Kunststück? Na, dann zeig mal her«, sagte ich etwas abgelenkt von Marlies’ Outfit, das heute ganz besonders … auffällig war.
Marlies trug ein neonorangefarbenes T-Shirt mit Rüschen am Ärmel. Ja, Einzahl, denn es gab nur einen Ärmel, die andere Seite war schulterfrei. Auf Marlies’ freiliegendem Schlüsselbein klebten drei Strassaufkleber. Ich fragte mich, wo sie das ganze Zeug herhatte. Auch wenn das nicht mein bevorzugter Kleidungsstil ist, fand ich es cool, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Klamotten trug. Beige und Taupe kann in dem Alter schließlich jeder.
»Das musst du dir mal vorstellen. Beatrix hat ja nur zwei Füßchen und kann eine Rolle vorwärts, ohne sich festzuhalten.«
Die Frage, woran genau die gute Beatrix sich festhalten sollte, verkniff ich mir lieber und konzentrierte mich stattdessen auf wortloses Staunen.
Marlies legte los. Sie befeuchtete zunächst ihren Finger und tunkte ihn in den Napf mit den Futtersamen, wozu Beatrix aufgeregt mit den Flügelchen schlug. Anschließend kreiste Marlies mit dem Körner-Finger einmal um die Stange. Beatrix folgte dem Finger, als würde sie davon magnetisch angezogen, was einerseits logisch, andererseits schon faszinierend anzusehen war. Denn zum einen war in so einem Käfig ja nicht unendlich viel Platz, um Attraktionen einzustudieren, und außerdem machte der Wellensittich das schon ziemlich elegant. Und so ertappte ich mich dabei, wie ich Beatrix laut johlend anfeuerte, noch mehr Überschläge zu machen. Und das tat sie, wie gesagt, ohne sich festzuhalten. Da Marlies sich mit Handys und so Zeug, wie sie es nannte, nicht so gut auskannte, nahm ich ein Video von Beatrix und ihren Rollen vorwärts auf und schickte es auf WhatsApp in Marlies’ Familiengruppe, zu der sie nur dann Zugang hatte, wenn ich mal zu Besuch war. Die Reaktionen waren so überwältigend, dass ich Beatrix sofort eine vielversprechende Karriere als Influencerin vorhersagte.
Marlies machte zweimal im Jahr Urlaub. Sie besuchte dann meistens eine Freundin in Bayern mit der Bahn. Sie genoss diese zehn Tage im Süden sehr. Das bedeutete auch, dass sie während ihrer Abwesenheit jemanden brauchte, der sich um Beatrix kümmerte. Ihre Wahl fiel in diesem Jahr auf mich, was mich wunderte, denn eigentlich habe ich es nicht so mit Tieren, was Marlies sehr bewusst ist. Hunde lassen mich zum Beispiel kalt. Katzen finde ich okay, aber Vögel? Nun ja. Offensichtlich hatte ich mir den Babysitter-Status mit Handyvideos und Käsekuchen erschlichen. Ich wollte Marlies nicht enttäuschen und versprach ihr, gut auf Beatrix aufzupassen. Nachdem wir uns etwas aneinander gewöhnt hatten, machte der Wellensittich seine Rolle vorwärts ohne Festhalten auch bei mir, was mich wiederum ein wenig stolz machte. Ich wollte dieses Kunststück mit der Welt teilen. Alle sollten sehen, was für ein toller Vogel Beatrix war. Also fing ich an, Instastories von ihr zu machen. Ich erklärte zu Anfang immer kurz, dass wir es hier mit einer absoluten Sensation zu tun hätten, denn Wellensittiche hätten nun mal nur zwei Beine und keine Arme. Das kam an, es war herrlich. Die Leute waren am Ausflippen. Ich bekam so viele Nachrichten wie noch nie zuvor. Menschen erzählten mir von ihren eigenen Wellensittich-Kunststücken: Es gab welche, die zu Hip-Hop die Bewegungen von Rappern nachahmten. Ein anderes Mal bekam ich abfotografierte Backrezepte für Wellensittich-Snacks aus der Zeitschrift Ein Herz für Tiere zugeschickt. Und einen Beatrix-Song. Der Interpret hieß The Guy Who Sings Your Name Over and Over, in diesem Fall eben »Beatrix«. Das Lustige war, dass der Sänger den Namen englisch aussprach. Es hörte sich irgendwann also so an, als würde er »Bier-Tricks« singen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Spaß Wellensittich-Sitting machte. Marlies war von der Resonanz, die ich ihr telefonisch übermittelte, ebenfalls beeindruckt. Sie war stolz auf ihren Vogel.
Eines Tages aber, Marlies war schon eine Weile zurück, rief sie mich an. Irgendwas stimme nicht mit Beatrix. Sie sei ganz schlapp und hätte überhaupt keinen Elan. Ich fragte Marlies, ob denn die Rolle vorwärts noch in ihrem Repertoire sei. Das ginge noch, mal besser, mal schlechter. Ich war beruhigt. Beatrix sei sicher nur erschöpft und würde sich schon wieder erholen. Aber Marlies’ Bauchgefühl ließ nicht locker, und so bot ich ihr an, die beiden zum Tierarzt zu fahren. Marlies nahm auf der Rückbank Platz. Beatrix saß traurig neben mir im Käfig.
Nach einer halben Stunde kam Marlies mit Tränen in den Augen und dem Käfig, glücklicherweise mit Beatrix, aus der Praxis. Sie musste mehrere Anläufe starten, um mir zu sagen, dass der Vogel einen Tumor hatte. Der Arzt wisse nicht, ob er gut- oder bösartig sei. Ich war sprachlos, nahm Marlies in den Arm und merkte, wie auch mir eine Träne über die Wange lief. Was hatte der Tumor denn davon, sich in so einen kleinen Wellensittich-Körper einzunisten? Denk doch mal groß, hätte ich diesem Arsch von Tumor am liebsten zugerufen, weil ich nicht wusste, wohin mit meinem Ärger. Ich wollte wissen, wie es weiterging, besann mich darauf, dass ich ja auch Journalistin war, und fragte investigativ nach: »Wie lange hat sie noch?« Marlies antwortete sehr gefasst: »Das kann man nicht sagen. Der Arzt hat mir homöopathische Tropfen mitgegeben: ›Tarantula‹. Die helfen, das Wachstum des Tumors zu verringern beziehungsweise zu verhindern.«
Das hörte sich gut an. So leicht würde Beatrix nicht aufgeben, redete ich mir ein. Ich versuchte, Marlies Mut zu machen. Wie großartig es sei, dass es mittlerweile sogar Tropfen gegen Vogel-Tumoren geben würde!
Und in der Tat, die Tropfen, die Beatrix über das Trinkwasser aufnahm, zeigten Wirkung. Kurz nach der Einnahme war sie deutlich lebhafter. Auch Marlies wirkte sofort entspannter und war glücklich, dass es ihrem Budgie wieder besser ging.
Sie war sogar so zuversichtlich, dass sie mich fragte, ob ich wieder babysitten könnte, damit sie noch mal die Möglichkeit hatte, zu ihrer Freundin nach Bayern zu fahren. »Na klar«, stimmte ich zu und freute mich auf die Zweisamkeit mit Beatrix. Gleich zu Beginn meiner Besuche gab ich dem Wellensittich seine Tropfen. Ich wollte eine gute Zeit mit Beatrix haben und das arme Tier nicht leiden sehen. Als ich bemerkte, dass sie kurz nach der Einnahme wieder voller Elan auf ihrer Stange saß, fing ich an, sie zu filmen, und ging bei meinen Storys nicht weiter auf ihre Krankheit ein. Die Menschen freuten sich über neuen Beatrix-content und feierten sie für ihre Rolle vorwärts. Ich legte verschiedene Musiken darunter und bildete mir ein, dass ihr der Salto zu »U Can’t Touch This« von M.C. Hammer besonders gut gelang. Ein Follower gab mir den Tipp, die Rolle vorwärts doch auch mal als Insta Live zu zeigen. Warum nicht, dachte ich mir und bereitete mich innerlich auf die große Show vor. Am besagten Tag trug ich extra eine Art Smoking-Blazer mit weißem Hemd. Den Käfig hatte ich besonders gründlich sauber gemacht und als Unterlage für den Tisch ein blaues Hamam-Tuch passend zum Federkleid mitgebracht.
Beatrix wirkte gut drauf – offensichtlich freute auch sie sich auf ihren großen Auftritt. In der einen Hand hielt ich die Kamera, mit der anderen Hand bereitete ich den Salto mortale vor. Ich drückte den Live-Knopf, begrüßte unsere Follower und machte alle mit den Vorbereitungen vertraut. Ich befeuchtete meinen Finger, legte ihn in Korn ein und hielt ihn dem Wellensittich vor den Schnabel, und dann ging es auch schon los. Allerdings mit Abzug in der Haltungsnote, denn als sie wieder oben auf der Stange angekommen war, fasste sie mit dem zweiten Fuß ein wenig nach. Komisch. Das hatte sie noch nie gemacht. »Komm schon, Beatrix, zeig uns, was du draufhast!«, feuerte ich sie an, bevor das Spiel von vorne begann. Wieder tunkte ich meinen Finger in die Futterschale und animierte sie, ihm zu folgen. Auch diese Rolle war keine Glanzleistung. Eine würden wir noch machen. Dann hätte Beatrix Feierabend. »Push it« von Salt-N-Pepa wäre genau das Richtige, um sie zu pushen. Schließlich waren wir immer noch live.
Beatrix wippte leicht zum Beat, setzte zur Rolle an, krümmte sich – und fiel einfach um. Direkt auf den Kopf. Sturzflug. Aus die Maus.
»Beatrix«, fragte ich vorsichtig.
»Beatrix«, rief ich jetzt ein wenig lauter und verzweifelter. Aber der Wellensittich blieb einfach liegen. Ich wurde panisch und dachte jetzt erst daran, dass ich immer noch live war. Ich verabschiedete mich ein wenig ungalant bei meinen Zuschauern, verwies darauf, dass Beatrix offensichtlich einen kleinen Drehwurm erlitten hatte, und schaltete das Handy aus.
»Fuck«, fiel es mir plötzlich wieder ein. Ich hatte ihre Tropfen vergessen! Ich öffnete die Käfigtür und hoffte ganz stark, dass Beatrix einfach nur eine kleine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Ich nahm das Tier vorsichtig in beide Hände und spürte noch einen winzigen Herzschlag. Gott sei Dank. Ich legte sie behutsam auf das Hamam-Tuch, um nach der Notrufnummer des Tierarztes zu schauen. Als ich endlich mit der Sprechstunde verbunden war, sah ich, dass Beatrix’ Augen geschlossen waren. Ihr Kopf hing schlaff zur Seite. Ich wollte es nicht wahrhaben, legte auf und bewegte mich von da an wie in Zeitlupe. Am liebsten hätte ich den kleinen Vogel in beide Hände genommen, ihn wie einen erwachsenen Menschen an den Schultern gepackt und geschüttelt. Aber das konnte ich nicht. Ich hob den leblosen Körper auf und zitterte am ganzen Körper. Schon lange hatte ich mich nicht so schäbig gefühlt. Was war ich bloß für ein Mensch? Ich hatte einen Wellensittich auf dem Gewissen, weil ich meine Follower unterhalten wollte? Ernsthaft? Wie sollte ich das Marlies beibringen? Und was sollte ich mit Beatrix machen? Wollte Marlies sich vielleicht noch von ihr verabschieden, wenn sie nach Hause kam? Ich wollte mich am liebsten in Luft auflösen oder wie damals in der Gervais-Obstgarten-Werbung einfach in einem Loch im Boden verschwinden. Ich war total überfordert, was im 21. Jahrhundert zumindest bei mir immer exzessives Googeln bedeutet. Bei der Suche »tote Vögel« stieß ich zu meinem Entsetzen auf folgenden Eintrag:
»Grundsätzlich gilt: Von toten Vögeln sollte man sich immer fernhalten. Denn sie können nicht nur die Vogelgrippe, sondern auch andere Krankheitserreger wie Salmonellen übertragen.«
Okay. Mir blieb nur eine Wahl. Ich wühlte in Marlies’ Küchenschubladen, bis ich das Nötigste gefunden hatte: Einen 3-Liter-Gefrierbeutel von Toppits. Ich nahm Beatrix vorsichtig in die Hand und legte das Tier in den Beutel. Penibel achtete ich darauf, die Plastiktüte gut zu verschließen und dann: Ab in die Gefriertruhe mit dir. Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag.
Natürlich holte ich Marlies, die offenbar eine gute Zeit in Bayern gehabt hatte und strahlte, vom Bahnhof ab. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, wobei ich so kläglich versagte, dass sie mich sofort drauf ansprach.
»Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so angespannt.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Irgendwas stimmt nicht mit dir.«
Im Auto legte ich die Beichte ab. Ich sah zu Marlies rüber, aber da kam nichts. Erst als wir die Wohnung betraten, fragte sie mich: »Wo ist sie?« Ich ging direkt zum Gefrierschrank und nahm Beatrix aus dem Mittelfach. Da hatte sie den meisten Platz. Marlies glaubte nicht, was sie da sah. Ich setzte noch einmal an und erklärte etwas wie: »Ich wollte, dass du Beatrix noch mal so siehst, wie du sie kanntest. Hätte ich das nicht gemacht, hättest du sie womöglich nicht erkannt. Außerdem …«
»Raus! Sofort!!!«, hörte ich Marlies mich unterbrechen. »Ich will dich nie wieder sehen!«
Mein Hals war wie zugeschnürt, ich schlurfte kraftlos zur Tür und schämte mich so sehr. Hatte die Aktion mit dem Gefrierschrank das Fass wirklich zum Überlaufen gebracht? Wäre es nicht viel schlimmer gewesen, sie wie alle zuvor da gewesenen Wellensittiche im Hausmüll zu entsorgen? Wäre der Hausmüll dafür überhaupt der richtige Empfänger gewesen? Waren Wellensittiche nicht eher Biomüll?
Zu Hause legte ich mich mit Klamotten ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und wollte am liebsten verschwinden. Erst wiederkommen, wenn alles vergessen war. Aber genau in diesem Moment fiel mir Instagram ein. Shit. Ich konnte nur ahnen, was ich für Kommentare erhalten hatte. Mein erster Blick fiel jedoch auf die Follower-Zahl. Mindestens 5000 Leute weniger und 587 Direktnachrichten.
»Stirb, du Schwein, stirb!«
Zumachen, ganz schnell wieder zumachen. Sicherheitshalber surfte ich noch mal die Nachrichtenportale im Internet ab, mein Name verbreitete sich auch dort bei Tag24, T-Online, welt.de, sogar die taz berichtete über den Absturz.
TV-Moderatorin bringt Wellensittich um.
Wellensittich-Mörderin.
Hat sie kein Gewissen? Wie konnte sie nur?
TV-Moderatorin schießt Vogel ab … usw. usw.
So fühlte sich also ein Shitstorm an. Was für eine Scheiße. Ich heulte los, schlief dann ewig und wusste beim Aufwachen, dass eine Auszeit angebrochen war.