Ich war mit meiner Freundin Vivi auf ein Glas Wein verabredet. Ich wunderte mich ein bisschen: Ihren Hochzeitswein hatten wir schon vor mehr als einem Jahr ausgesucht. Angeblich wollte mir Vivi vor ihrem großen Tag noch etwas Wichtiges sagen. Wir waren beide völlig gestresst – sie von den Vorbereitungen auf das Fest, ich vom Leben an sich und dem Auge des Shitstorms –, und ich freute mich auf das lange Wochenende im Schloss, das nun vor uns lag.
Das Ambiente war traumhaft schön. Die Hochzeitsgäste waren alle in der sündhaft teuren Schlossanlage oder der Umgebung eingebucht. Vivi parkte ihren Mini neben seinen großen Brüdern, BMW, Tesla und Mercedes. In der Parkanlage war es so leer wie in einem Sanatorium während der vorgeschriebenen Bettruhe. Waren die alle im Wellnessbereich? Durch die herrliche Natur streifte jedenfalls niemand. Lediglich das Hotelpersonal war zu sehen und verteilte mit den Golfcarts frische Bettwäsche oder Champagner. Hier draußen kaufte sich die reiche Stadtbevölkerung ein Stück Landleben mit Meerblick für ein verlängertes Wochenende, um damit halbwegs entschleunigt durch zu volle Tage zu kommen. Dieser Landgang fand hinter Mauern und Zäunen statt, um ein möglichst kontaktfreies Nebeneinander mit den Einheimischen zu gewährleisten. Authentisch ist nur dann gut, wenn es nicht riecht, Feuer macht, Schnaps trinkt und laute Witze erzählt. Die alten Backsteinhäuser und das Schloss bildeten ein Ensemble, wie ich es bislang nur bei Rosamunde-Pilcher-Filmen im ZDF gesehen hatte.
Hinter den Backsteinmauern war ein Gewächshaus mit alten Rosen und Lavendel versteckt. Die Schilder zeigten Richtung Backhaus, es gab ein Badehäuschen mit Steg und Liegen, ein Kavaliershaus, ein Gutsgefängnis, einen Pferdestall und eine Holländerei. Wo war ich hier eigentlich?
Wir waren an der Ostsee, in einer Oase nördlich des Timmendorfer Strands mit seinen Hotelblocks. Der Concierge begrüßte uns sehr aufmerksam, als wären wir Stammgäste, steckte uns den Flyer für das Wellness-Spa zu und empfahl uns den neuen Sushi-Koch, der gerade erst von Singapur nach Ostholstein gezogen war. Über eine lange Allee liefen wir fünf Minuten Richtung Strand, die herzförmigen Blätter der Linden rauschten in den Baumkronen, und am Horizont sahen wir ein Segelboot auf dem dunkelblauen Meer vorbeifahren.
Vivi machte einen tiefenentspannten Eindruck. Wir waren aus unterschiedlichen Richtungen angereist, hatten uns zur Begrüßung umarmt, aber noch nicht viel geredet. Stattdessen ließen wir unsere Blicke in den Wald der Anlage schweifen, wo an den dicken Stämmen Efeu oder wilder Wein bis in den Himmel wuchs. Auf dem Waldboden waren kleine weiße Blüten zu sehen. Richtung Meer ging der Wald über in ein wildes Gestrüpp aus Hundsrosen und Strandhafer. Am Ende eines Holzsteges zogen wir unsere Schuhe aus und gingen barfuß über den feinen Sandstrand, wo wir einfach in den kleinen Wellen stehen blieben und die Meeresluft einatmeten.
»Und jetzt? Was ist los?«, unterbrach ich die Ruhe.
»Ich hab nix zu trinken. Komm mit.«
Vivi nahm mich an der Hand, und wir gingen zurück, sammelten die Schuhe ein und setzten uns ein paar Meter daneben auf eine herrliche Strandterrasse. Wir waren die einzigen Gäste und wurden umgehend bedient.
Der Kellner erkannte mich offenbar und empfahl mir deshalb ein Glas griechischen Wein. Mit den Aromen von Knupperkirsche, Zwetschge mit einem Hauch von Tomate und einer kleinen Prise Zimt.
»Zimt mag ich nicht«, winkte ich ab und bestellte ein einfaches Glas Grüner Veltliner, mit dem ich bei Weinschorle schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Als Vivi dann auch noch einen Aperol-Spritz und Streichhölzer bestellte, zog er enttäuscht von uns Banausinnen ab, servierte die Getränke aber sehr professionell mit diversen Schälchen von Nüssen, Crackern und zwei Gläsern Mineralwasser, in denen bunte Blüten schwammen.
»Hochzeit ist abgesagt«, sagte Vivi und zündete sich eine Zigarette an.
Ich hatte sie noch nie rauchen sehen und verschluckte mich an meinem Wasser.
Vivi schaute ungerührt aufs Meer, als ob sie nun statt einer Hochzeit eine Weltreise mit einem Segelschiff plane. Ganz konzentriert und zielsicher.
»Hast du jemanden kennengelernt?«, versuchte ich, die Situation etwas aufzulockern.
Ich warf ein paar Namen in den Raum, eher aus Spaß, und bekam deshalb auch keine Antwort.
Mir wurde plötzlich klar, dass ich unbewusst ins Schwarze getroffen hatte. In Filmen konnte man an dieser Stelle lachen, aber das hier war der Hochzeitsvorabend, und unten am Strand baute man im Grunde schon am Altar!
»Ist er verheiratet, hat er Kinder, seit wann?«
Mir schossen hundert weitere Fragen durch den Kopf. Seit wann weiß dein Verlobter Bescheid, wie hat er reagiert, was sagen die Hochzeitsgäste und was ist mit dem Kleid, das bei mir im Kofferraum liegt. Meine persische Freundin hatte es nach langem Hin und Her in ihrem Atelier noch drei Mal geändert.
»Mein neuer Typ heißt übrigens Jenny, unverheiratet, keine Kinder.«
Es wurde ein langer Abend.
Vivi übernahm unsere Drinks, die Stornierung der Feierlichkeiten hatte ihr künftiger Ex-Schwiegervater schon veranlasst. Die Hochzeit wurde via WhatsApp wegen Krankheit auf unbestimmte Zeit vertagt. Die Braut befand sich in den besten Händen. Sie litt an einem unerklärlichen Schwindel.
Es war Zeit für einen Neuanfang …