Kapitel 3

Was tut man nicht alles aus Freundschaft

Die Dinge, die Vivi zunächst mir, ich mir dann selbst und schließlich meiner Mutter klarmachte, lagen eigentlich auf der Hand: Ich brauchte eine Auszeit, Vivi brauchte einen Neuanfang, wir mussten hier raus.


Die Schönheit der Landschaft, in der zunächst Vivi (Jenny!) und letztlich auch ich (Beatrix!) Zeugnis abgelegt hatten, barg schon einen Teil der Antwort auf unsere ganz großen Fragen: Wo wollten wir in nächster Zeit wie weitermachen? Die endlose Weite mit Wiesen, Wäldern und Feldern wirkte einerseits angenehm beruhigend, andererseits schien sie einem auch genauso viele Möglichkeiten zu eröffnen. Jedenfalls dort, wo sich nur ein paar Windräder am Horizont drehten und keine Werbetafeln vom nächsten Möbelhaus oder Outlet-Center davon ablenkten, dass die Welt da draußen hier schon lange hinter einem lag.

Vivi und ich redeten uns richtig in Rage: Unsere Mädchen-Gang auf dem Land (»Genau hier, nur ohne die ganzen Arschlöcher!«) würde alles plattmachen: den Ex, die Ex, das Internet und seinen Scheiß, Umweltsünder und sonstige Arschmaden, die uns das Leben schwer machten. In unserer Vorstellung passierte das alles weit weg, in der Großstadt. Wir hätten unsere Ruhe auf dem Land. Mit dem guten Gefühl, der Welt etwas entgegengesetzt zu haben, gingen wir schlafen.


Unser Traum war auch am nächsten Morgen, als wir wieder nüchtern waren, noch nicht aus, obwohl zumindest ich ein paar Fragen hatte: Würden wir hier draußen überhaupt noch ein Häuschen finden, das bezahlbar war? Wenn ja, wäre das nicht ein absoluter Schutthaufen? Wenn ja, kämen wir damit klar?


Meine Erfahrungen mit dem Landleben hatten bislang alle in Griechenland stattgefunden und mich wahlweise ahnungslos oder als totales Kind der Stadt dastehen lassen (dazu kommen wir noch).

Vivi traute ich im Grunde alles zu, aber soweit ich wusste, war sie – mit wenigen Ausnahmen – auch noch nicht weiter raus als bis Ottensen gekommen. Und ich wusste ziemlich viel:


Wenn Vivi einen Plan gefasst hatte, konnte sie niemand davon abhalten. Manchmal kam sie mir vor wie ein weiblicher Elon Musk, der sein Handtuch lieber gleich auf den Mars legte, bevor er Pauschalurlaub auf Korfu buchte. »Geht nicht« gab es für sie nicht. Ausdauer hatte Vivi ebenfalls. Sie arbeitete als Produktionsleiterin für verschiedene Fernsehsender, wo sie »alles« rund um die Dreharbeiten organisierte. So lernten wir uns kennen. Ich sollte den Fernsehzuschauern einer Dokumentation erklären, wie wir uns in Zukunft ernährten. Eigentlich ein spannendes Thema, da waren wir uns beide einig, hätte der Redaktionsleiter uns nicht noch kurzfristig ins Drehbuch diktiert, dass die Zuschauer bestimmt nicht wüssten, was eine Avocado ist. Das hätte kürzlich eine Marktforschung in der Zielgruppe ergeben. Entsprechend sollten wir bei den Dreharbeiten eine sehr einfache Perspektive einnehmen, unser Publikum keinesfalls überfordern. Vivi und ich stellten uns also einen Zuschauer vor, der beim Lieferservice Tacos mit Guacamole bestellt und dabei unseren leicht verdaulichen Film verspeist, ohne das TV-Programm wegzuschalten. Vivi war für Konsequenz und besetzte die Protagonisten um. Wir suchten also gemeinsam im Restaurant Zum Goldenen Bogen nach jemandem, der noch nie einer Avocado mit Schale begegnet war. Nach fünfzehn schnellen Castings zwischen Kasse und Plastiktischen hatten wir unseren Protagonisten gefunden: Steve war 32 Jahre alt, programmierte erfolgreich Computerspiele und war deshalb auch neugierig, was der Lieferservice ihm eigentlich den ganzen Tag über vorbeibrachte. Wir servierten ihm Rindfleisch auf Madenbasis, Pesto aus Algen – lauter leckeren Kram. Richtig schlecht wurde ihm bei den Dreharbeiten an der Kieler Förde. Das lag nicht am Seegang, sondern am – Schnitzel aus Quallen. Der Snack aus dem Meer landete am Ende auch wieder dort, wo er hergekommen war. Steve musste sich übergeben. Was für ein wunderbarer Ausschnitt, um den Film auf Social Media zu bewerben. Wir hatten viel Spaß – ja, auch Steve – und feierten den letzten Drehtag ausgiebig. Vivi tanzte mit Glas in der Hand, herzte alle aus dem Team und kippte plötzlich um. Als sie wieder zu sich kam, setzten wir uns an die Förde, sie spuckte ins Wasser und beobachtete so fasziniert wie … angekotzt, wie die Fische auf die Bewegung reagierten und zuschnappten.

»Kein Bock mehr auf dieses Haifischbecken.«

»Und nun?«

Schon am nächsten Tag hatte sie ihren gut bezahlten Job bei der Produktionsfirma gekündigt, freute sich auf ihre letzten Arbeitstage und hatte irgendwo im Hinterkopf schon den nächsten vagen, großen Plan.

Ich bewunderte irgendwie, wie selbstständig und radikal sie ihr Ding machte. Wenn Chrissi mich anrief, weil sie ihren Schlüssel oder Geldbeutel verloren hatte, fuhr ich sofort nach Harburg, um ihr zu helfen.

Vivi buchte ohne Rücksicht auf die Familie sieben Tage Seychellen, um dann dort ihren Schlüssel und Geldbeutel zu verlieren und mich anzurufen, damit ich ihr aus der Patsche half.

Auf der anderen Seite war sie mir auch ein bisschen suspekt. Sie war jünger als ich, größer, blonder (tja, Kunststück), sportlicher und erfolgreicher. Sie hatte etwas sehr Kühles in ihrer Art und unfassbar teure Anoraks. Gleichzeitig schien sie sich in jeder Situation gleich wohlzufühlen, kam mit der Kassiererin im Supermarkt ebenso zügig klar wie mit einem blasierten Schnösel, der einem den Lauf der Welt erklärt und dem sie zwar zuhörte, aber ebenso entschieden den Wind aus den Segeln nahm, ohne dass einer von beiden danach doof dastand. Vivi war eine für alle, und so waren wir schon nach kurzer Zeit wie Geschwister.

Und: Vivi liebte Technik, ihr Handy, und sie liebte Videotelefonie. Das hatte zwar auch Schattenseiten, wenn wir sprachen und sie mit verlorenem Lächeln durch die große Wohnung lief und es hallte, weil die Möbel ihres Ex inzwischen abgeholt worden waren. Genau darin sah Vivi aber auch die Chance, unseren Strand-Traum Wirklichkeit werden zu lassen: Sie würde ihre Arbeit vom Land aus einfach per Video-Call machen. Entschlossen trieb sie in den kommenden Wochen unsere Pläne voran, ein Maklertermin reihte sich an den anderen, zerschlug sich nach Sichtung von Exposés und tristen Fotos wieder, bis ich Vivi irgendwann schrieb: Ich
hab’s.

Reetdachtraum mit großem Garten!

Dazu schickte ich ihr den Link zum Inserat, das ich auf eBay Kleinanzeigen gefunden hatte.

Wohnen, wo die Welt noch intakt ist. Wundervolles Bauernhaus in angenehmer Distanz zum Strand. Genießen Sie die Ruhe im traumhaft angelegten Garten mit mannigfaltigem Biotop. Im Winter wartet auf Sie ein knisternder Kamin. Hier entspannen Sie schon, wenn Sie auf den natursteingepflasterten Hof fahren.

»Und wer von uns soll die Million auf den Tisch legen?«, winkte Vivi zunächst ab.

Wie sehr viele andere auch, suchten wir einen schönen Resthof zum Umbauen, der erschwinglich war und günstig lag – und landeten immer wieder bei einsturzgefährdeten Bruchbuden oder bei einer Sammlung von Maschinenhallen mit dem Charme eines Industrieparks. Doch dieser Reetdachtraum ließ mich nicht mehr los, ich klickte mich immer wieder durch die Bildergalerie und machte der Maklerin schließlich ein unmoralisches Angebot.

Tausche gegen 3-Zimmer-Altbauwohnung in Hamburg-Eimsbüttel.

Sofort gingen in meinem Postfach mehrere Mails ein mit diversen Bildern von Grundbüchern, markierten Grundstücken, Sondernutzungsrechten und hinterließen viele Fragezeichen. Vivi kannte sich durch ihren alten Job gut mit komplizierten Verträgen aus und brachte ihre eigene Wohnung in Hamburg-Ottensen für den Tausch ins Spiel. Die Verkäuferin fand nämlich einen Haken an der Wohnung, die ich ihr angeboten hatte: Sie hatte keinen Aufzug. Vivi war entschlossen, ihr städtisches Refugium aufzugeben, wenn sie dadurch ihrem Ziel einen Schritt näher kam. Die Besitzerin des Reetdachtraums bekam ihren Aufzug, die Maklerin zwei potenzielle Käuferinnen; wir bekamen die Chance, unseren Traum zu verwirklichen, und ich blieb mit einem Fuß in der Stadt.


Ich fand die Idee, ein altes Haus zu renovieren, vor allem deshalb so faszinierend, weil ich so lange in einem Hochhaus gelebt habe, in dem lange nicht einmal ein eigenes Zimmer zur Diskussion stand. Und jetzt würden wir vielleicht bald ein eigenes Haus haben? Traum!

Wie auf Autopilot fuhr ich durch die graue Betonlandschaft, bis mich die durch die Wolken flackernde Sonne wieder anknipste. Der wie Perlmutt schimmernde Himmel gab einem sofort das Gefühl, im Jahr schon etwas weiter zu sein, den Sommer oder zumindest das Frühjahr in greifbarer Nähe zu haben. Die kilometerlangen Kohlkopfreihen am Straßenrand beantworteten die Frage, wovon zur Hölle wir hier draußen leben sollten, für mich allerdings nur so lala. Außer Olivenöl und Weißbrot brauchte ich zur Grundversorgung eigentlich nichts weiter, ich würde mich durch die Tage dippen und hätte alle Hohlräume im Magen mit mediterranen Basics versiegelt. Fast wie mit Watte, nur nicht süß, sondern salzig und eben auch bitter. Wäre beides hier zu haben? Oder würden mich meine Ansprüche an die Grundversorgung ohnehin regelmäßig in die Stadt zurückführen? Wäre das noch im Sinne des Experiments? Oder würde ich mich schlicht an das gewöhnen, was eben möglich war? Das war vorauseilendes Jammern auf hohem Niveau. Verhungern würden wir hier draußen sicher nicht: Felder (mit Erzeugnissen), Koppeln, Wiesen – alles da. Die Sonne setzte sich langsam gegen die Nebelschwaden durch und ließ die dunkelbraunen Böden glänzen. Große Maschinen zogen Geräte hinter sich her, bearbeiteten den Boden und wurden dabei von vielen Vögeln verfolgt. Sogar Möwen trauten sich auf die Felder. Wir näherten uns der Ostsee, am Horizont war sie manchmal schon zu erkennen. Dunkelblau. Fast schwarz.

Was wollten wir hier eigentlich? Immerhin klangen die Namen der Bushaltestellen einladend. Hohenklampen, Seekrug, Futterkamp. Schleswig-Holstein ist ja bekannt für seine witzigen Orte wie Geil, Sorgenfrei oder Frohsein, was meine Ängste und Zweifel an dieser Stelle aber nicht zerstreute. Kurz hinter Kaköhl hielten wir und liefen noch eine gute Stunde bis zu unserem Ziel. Vivi wollte es so, die frische Luft täte uns gut auf dem Weg zur großen Entscheidung.


Der erste Anstieg über eine frisch geteerte Straße fiel uns leicht. Der Weg schlängelte sich durch Felder, am Straßenrand standen 100 Jahre alte Eichen und übten für ihren Auftritt als Motiv in einem Naturkalender. Drei Autos, ein E-bikendes Paar in identischer Kleidung und zwei Rehe mit weißem Schwanz begegneten uns. Der Stadtmensch in mir war tief bewegt. Hinter einem Wald bogen wir ab in eine lieblos hingeklatschte Schlagloch-Straße. In einer Kurve parkte ein Geländewagen, wir entdeckten einen Jäger mit Fernglas und Gewehr. Auf den ersten Blick sah er in seiner Tarnuniform so aus, als würde er Großstadttussen zum Frühstück verspeisen.

»Moin«, grüßte er.

»Moin«, schoss Vivi zurück.

»Zwei Spießer – Pssst!«

Wir schauten uns überrascht an und fanden uns eigentlich ganz lässig mit unseren Goretex-Jacken, Wollmützen und robusten Lederstiefeln.

»Wir sind neu hier, aber bestimmt keine Spießer!«

Der Mann lachte verschmitzt und erklärte uns, dass es sich bei Spießern um junge, männliche Hirsche handelt. Er konnte sie am Geweih erkennen und erzählte uns noch, ab wann sie zum Abschuss freigegeben sind.

»Soll ja ganz gesund sein, das Wild hier«, versuchte Vivi, sich atmosphärisch an den Jäger ranzupirschen.

Der winkte ab und zeigte auf die Felder.

»Musst nur mal gucken, wenn hier gespritzt wird. Da stehen die Rehe als Erstes auf’m Feld und fressen. Und wo bleibt das Gift?«

»Und die Wildschweine?«

»Die liegen hier faul in den Hecken. Habt ihr die Eicheln gesehen auf dem Weg? Ein großes Fressen.«

Der Jäger klärte uns noch auf, warum er keine Hetzjagd mochte: zu viel Stress für die Tiere. Dass es hier zu viele Rehe und Wildschweine gab und sie geschossen werden müssen.

»Sonst würde es hier auf den Feldern und im Wald schlimm aussehen.« Töten sei manchmal auch Naturschutz, setzte er nach, als er meinen sentimentalen Blick bei der Erwähnung von Rehen bemerkte.

»Am liebsten beobachte ich aber nur. Und immer nur so viel jagen, wie du auch verbrauchen kannst«, beruhigte er mich schließlich doch noch.

Er zog weiter und rief uns von Weitem noch zu, dass er übrigens Holger sei. Wir liefen um etwas Jägerlatein und einen ersten sozialen Kontakt mit der lokalen Bevölkerung reicher weiter.


»Moin«, stellte sich Frau Drautner vor. Unsere Maklerin wartete schon neben der akkurat geschnittenen Hecke. Sie machte einen bodenständigen Eindruck, hörte sich Vivis Pläne über Wohnungstausch und Zahlungsmodalitäten mit hochgezogenen Augenbrauen an, fragte so nach, dass ich den Eindruck bekam, dass sie weit mehr vom Landleben verstand, als wir je verstehen würden, und holte am Ende der Hofbegehung trotzdem den Schnaps aus ihrem Wagen. »Auf Am Lustholz …«, hob sie an. Das war das Einzige, was sie uns bisher, sehr untypisch für eine Maklerin, verschwiegen hatte: diesen Straßennamen.