Meine Griechischer-Joghurt-auf-dem-Parkplatz-des-Supermarktes-der-absolut-kein-Bioladen-war-Exzesse wurden immer seltener; ich hatte unsere vegane Ersatzproduktion mittlerweile sehr zu schätzen gelernt. Eine Sucht aber trieb mich immer wieder dorthin zurück: Ich esse für mein Leben gerne Cabanossi. Diesen Satz würde ich mich nie trauen, in Vivis Gegenwart zu sagen. Sie ist nur von dem Gedanken daran angewidert, denn »Du weißt schon, was da alles drin ist?«, hörte ich sie zu jeder Wurstverzehrgelegenheit, zu der ich mit nicht veganen Produkten flirtete (Dorffest, Lagerfeuer, Dom, so was), rhetorisch fragen. Ja, weiß ich. Will ich aber eigentlich gar nicht wissen. Und jaaaaaaaaaaaaa, allein das auszusprechen, zeigte ja, wie einfach ich es mir machte und wie gut ich offensichtlich darin war, die unliebsame Massentierhaltung und -schlachtungs-Realität zu verdrängen. Cabanossi bestehen aus Rind- und Schweinefleisch sowie Speck. Der Fettanteil dieser Wurst liegt bei 44 Prozent und ist damit relativ hoch. Die länglichen, dünnen Würste werden mit Paprikapulver, Pfeffer, Salz und Knoblauch gewürzt. Ein Traum – zumindest für meinen Geschmack. Je strenger Vivi war (inzwischen besorgte sie sogar vegane WC-Reiniger), umso größer war der Wunsch, genau das zu machen beziehungsweise zu essen, was sie nicht in Ordnung fand. »Iss bitte keine Cabanossi mehr« führte dazu, dass ich vortäuschte, unbedingt einkaufen gehen zu müssen, nur damit ich mir heimlich auf dem Supermarkt-Parkplatz ein paar dieser Würste reinziehen konnte. Aber auch das ging im Grunde nicht mehr unbemerkt, denn Vivis Nase war sehr fein geworden, seitdem sie kein Fleisch mehr aß. Beim Einsortieren der eingekauften Lebensmittel, die sie in Ordnung fand, stand sie neben mir und entlarvte mich. Salamiatem, Augenrollen, Luftholen und …: Der anschließende Vortrag verdarb mir den Appetit nachhaltig, weshalb ich ihn an dieser Stelle auch nicht wiederhole. Aber ich wusste: Nach spätestens zwei Tagen wäre das wieder vergessen, und meine Gelüste würden mich wieder einholen.
Vivi arbeitete derweil eifrig an ihrer zweiten und neuen Garten-Influencerinnen-Karriere als »Vivi Green«. Inspiriert von meinen Einkäufen beziehungsweise einer Zutat, deren Duft trotz eiligstem Verschlingen noch in der Küche hing, begann sie noch am Küchentisch diesen Beitrag:
»Ihr Lieben, heute geht es darum, Knoblauch selbst anzubauen. Und das kann wirklich jeder – versprochen. Warum Knoblauch? Weil ich eine griechische Freundin habe, die aufgrund ihrer DNA ohne Knoblauch quasi gar nicht überleben würde. Hahaha!«, rief sie – plötzlich wieder bester Laune, in die Kamera.
Vivi saß aufrecht, vor sich Schneidebrett, Messer und eine dicke Knoblauchknolle.
»Und wir beginnen gleich mit einer Gärtnerweisheit. Ab in den Boden! Wohin auch sonst – hahaha.« – »Mensch, wenn meine Mitbewohnerin weiterhin so witzig ist, weiß ich gar nicht, wohin mit meinen Lachkrämpfen«, grummelte ich etwas genervt von ihrer exzessiven Medienproduktion, die sich – anders als meine Cabanossi – offenbar sehr gut mit den Grundsätzen unserer Auszeit vertrug.
»Besorgt euch vorher den besten deutschen Knoblauch, den ihr finden könnt, und sucht danach nicht im Supermarkt, denn der stammt meistens aus China, Griechenland, Spanien oder Italien. Der ist klimatisch etwas anderes gewohnt und würde hier, in unseren Breitengraden, nicht wirklich klarkommen. Deshalb: deutschen Knoblauch besorgen.« Irgendwie konnte ich den Knoblauch gut verstehen. Ohne die Erfindung leistungsfähiger Federbetten hätte ich auch schon vor Jahren in anderen Klimazonen überwintern müssen, um lebend über diese garstige Jahreszeit hinwegzukommen.
»So, dann nehmt ihr die Knolle …«, fuhr Vivi wild gestikulierend fort, »und brecht sie einfach auf, drückt einzelne Zehen raus und steckt diese etwa vier Zentimeter tief in den Boden. Mit Erde bedecken, ein bisschen Kompost drüber und fertig. Am besten macht ihr das im September oder Oktober. Denn der Knoblauch schafft es – im Gegensatz zu meiner griechischen Freundin – zu überwintern, weil er relativ winterhart ist. Hahaha. Geerntet wird dann je nach Witterung im Juni, Juli oder August.« Huch. Konnte Vivi Gedanken lesen? Obwohl diese Bemerkung auf meine Kosten ging, hatte sie es geschafft, mich inmitten unserer Cabanossi-Krise endgültig zu versöhnen.
»Und eine Sache noch, die ganz wichtig ist«, dröhnte Vivi weiter durch unsere Küche. »Was Knoblauch gar nicht gerne mag, ist Unkraut. Also, versucht euer Beet möglichst unkrautfrei zu halten. Darum einfach zwischendurch immer wieder das Beet harken und mulchen, dann fühlt sich euer Knoblauch besonders wohl, die Ernte fällt gut aus, und ihr habt das ganze Jahr etwas davon. Das war jetzt wirklich einfach, oder?« Vivi hatte leicht reden. Das ganze Gejäte fiel ja in meinen Bereich, entspannte mich zugegebenermaßen aber auch. Vielleicht sollte ich einen eigenen Kanal starten: Ich und mein Garten. Aber nein, ich wollte ja eine Auszeit von der Bildschirmpräsenz und mal was völlig anderes machen.
»Wenn euch das Video gefallen hat, dann gebt mir bitte einen Daumen rauf und abonniert gerne meinen Kanal. Aktiviert die Glocke, damit ihr neue Videos von mir nicht verpasst. Denn hier zeige ich euch immer wieder tolle, neue Ideen, wie ihr euch am besten selbst versorgen könnt.
Das nächste Mal stelle ich euch dann den besten Biodünger überhaupt vor: Brennnesseljauche. Freut euch drauf. Ciao – eure Vivi.« Oh Gott. Hoffentlich würde nicht ich diese Brennnesseln ernten müssen. Wobei: Gesund waren die ja auch.
Vivi packte ihren Kram zusammen und zischte ab aus der Küche. Ich ertappte mich dabei, zu googeln: Wie gesund sind Cabanossi? Schon auf der dritten Seite aller Treffer fand ich diesen Eintrag: Cabanossi sind reich an Vitamin B1. Mit einer Menge von 100 g nimmt man bis zu 247 µg des Vitamins zu sich. Beteiligt ist das Vitamin am Energiestoffwechsel der Zellen. Es ist gut für die Gewinnung und Speicherung von Energie und die Erhaltung des Nerven- und Herzmuskelgewebes.
Ta-daaa! Das würde mein Totschlagargument für die nächste Auseinandersetzung. Yes.
Tatsächlich ist es so, dass der Fleischkonsum in Deutschland weiter sinkt. 2022 haben die Deutschen so wenig Fleisch gegessen wie seit über 30 Jahren nicht mehr. Im Durchschnitt vier Kilo weniger pro Person. Diese Zahl hatte sich nicht Vivi ausgedacht, sie stammte von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Gehöre ich auch dazu?, fragte ich mich. Seitdem wir hier draußen sind, vermutlich schon, aber ganz aufhören kann ich nicht. Ich glaube, mit den Fleischessern verhält es sich für mich wie für andere mit dem Rauchen: einmal drauf, immer drauf.
Wird es irgendwann Räume geben, in denen fleischessende Menschen zusammensitzen und sich despektierlichen Blicken ausgesetzt sehen? Wird es an Flughäfen zusätzlich zur »Camel Smoking Zone« dann die »Bifi-Mett-Zone« geben? Werde ich irgendwann zur Außenseiterin, weil ich es nicht geschafft habe?
Vivi meldete mich extra zu einem Workshop an, um mich von meiner Liebe zum Fleisch zu kurieren. »Du wirst lernen, selber zu schlachten«, sagte sie mit einem Glitzern in den Augen. Ich war so geschockt von dem Gedanken, dass ich reflexartig zu rülpsen begann. (Sobald mir jemand etwas Ekeliges erzählt, was ich nicht hören mag, stoße ich tatsächlich sofort auf.)
»Das kann ich nicht«, sagte ich spontan und hoffte, dass sie ein Einsehen habe. Wie kam sie bloß darauf, dass ich in der Lage wäre, ein Tier zu töten?!
»Fleisch essen bedeutet, Tiere zu töten«, antwortete Vivi kalt. Schachmatt. Da hatte sie leider recht. Mein Verdrängungsmechanismus bekam keine neue TÜV-Plakette. Mist. Was mache ich jetzt?
Ich erinnerte mich an eine Situation im Dorf meiner Mutter. Ich muss damals etwa 15 Jahre alt gewesen sein. Mein Cousin war, genau wie wir, bei meiner Tante Irini in Trikala zu Besuch, und zur Feier des Tages sollte es ein leckeres Huhn geben. Was ich nicht wusste, war, dass das Huhn zur Stunde noch auf dem Grundstück meiner Tante scharrte und heute seinen letzten Tag haben würde, um fortan in die Rolle des Brathuhns zu schlüpfen. Ich war irritiert und überfordert, als ich meinen Cousin in der Küche nach einem scharfen Messer kramen sah, weil ich meinen Gedanken partout nicht fortsetzen wollte. Eingeschalteter Modus: Verdrängen.
Das Grundstück war für das Tier ein Traum. Es lebte dort nicht allein, sondern hatte noch drei weitere Spielgefährten. Trotzdem hatten alle genug Platz, um sich auszutoben, prima Versteckmöglichkeiten und Schattenplätze inklusive. Und bald würden die drei Übriggebliebenen noch mehr Platz haben. Für meinen Cousin spielte das offensichtlich keine Rolle. Vor lauter Aufregung musste ich auf die Toilette. Diese befand sich nicht im, sondern außerhalb des Hauses in einer kleinen Kammer. Und obendrein bestand sie nicht aus Keramik. Diese hatte man einfach weggelassen. Es war, wie früher auf dem Land in Griechenland üblich, ein Plumpsklo. Ich hasste es, darauf zu gehen, denn besonders im Dunkeln war man nie allein. Dann kamen die Kakerlaken. Jetzt, am helllichten Tag, hatte ich immerhin nur mit dem Geruch zu kämpfen.
Als ich die Tür des Verschlages gerade wieder öffnen wollte, riss mein Cousin sie schon auf und hielt mir den Kopf des Huhns vors Gesicht. Blut tropfte von seinen Händen. Noch während ich das schreibe, stoße ich schon wieder auf. Das, was ich zu sehen bekam, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Das kopflose Huhn lief aufgeregt im Garten hin und her. Ich schrie und übergab mich gleichzeitig. Mein Cousin lachte mich aus.
»Ach, ihr kleinen Stadtkinder«, seufzte er und grinste über das ganze Gesicht. Ich konnte nicht mehr, gab vor, mich wegen der Hitze kurz hinlegen zu müssen, und verharrte regungslos auf der Couch. Im Nachbarraum befand sich die Küche, in der es schepperte und klapperte. Meine Tante riss dem nun leblosen Huhn die Federn aus. Während sie das tat, bat sie meine Mutter, die Kartoffeln zu schälen. Chrissi hatte das ganze Spektakel ungewohnt still verfolgt. Für sie war diese Szene ganz normal. Und Hühner waren nicht die einzigen Tiere, die sie auf dem Gewissen hatte. Schlangen hatte sie beispielsweise auch schon mit dem Nudelholz erschlagen, wie ich aus einer ihrer Heldinnensagen aus ihrer griechischen Jugend wusste.
Ich musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn als meine Tante meinen Namen rief, war klar: Das Essen ist fertig. Normalerweise ist Huhn mit Kartoffeln aus dem Ofen eines meiner Lieblingsgerichte, erst recht, wenn ich von der zarten Brust ein besonders großes Stück ergattern konnte. Aber nun saß ich vor meinem Teller und bekam nichts runter. Ständig sah ich das kopflose Tier vor meinem inneren Auge herumrennen. Nichts ging mehr.
»Warum isst du nichts? Du musst was essen, du bist viel zu dünn! Na los, jetzt mach schon«, feuerten meine Tante und mein Cousin mich im Chor an.
In Griechenland im Beisein der Familie und dann auch noch auf dem Dorf nichts zu essen, hatte etwas von Gotteslästerung. Meine Mutter warf mir scharfe Blicke zu und zischte. So aß ich wenigstens die Kartoffeln. Das Huhn aber rührte ich nicht an. War ich da schon auf dem Weg, eine Vegetarierin zu werden? Nein. Denn bei meiner Rückkehr in Deutschland legte ich im Großmarkt, ohne groß darüber nachzudenken, Hähnchenbrustfiletscheiben von Herta »hauchzart und feinwürzig« in den Korb, weil die Verpackung mich nicht ansatzweise an das Huhn ohne Kopf erinnerte. Chrissi schüttelte darüber nur den Kopf und murmelte »Isst natürlich Plastik«, womit sie damals wie heute richtiggelegen haben dürfte. Und so blieb es: Ich sehe verpackte Wurst und verdränge, woher sie kommt. Das funktioniert prima. Vielleicht müssen fleischverarbeitende Unternehmen demnächst dazu verdonnert werden – ähnlich wie bei Zigaretten –, im unteren Teil der Verpackung Bilder von leidenden Tieren zu zeigen. Das würde mich vermutlich abschrecken. Beziehungsweise … würde ich jetzt wohl meine Lektion lernen.
Vivi war fest entschlossen, mich keinesfalls aus der Nummer zu entlassen. Sie verriet nicht, welches Tier ich schlachten müsse. Muss ich erwähnen, dass ich in den Nächten davor nicht besonders gut schlief?
Am Schlachttag hatte ich schon zum Frühstück keinen Hunger, trank dafür aber sehr viel Kaffee.
»Muss ich wirklich?«, fragte ich sie am Telefon in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch erbarmen würde. Vivi blieb unbeeindruckt.
»Ja!«
»Und wenn ich dir verspreche, dass ich nur noch einmal die Woche …«
»Nein!«
Nichts zu machen.
Die Fahrt zu Dieter Martens Metzgerei dauerte etwa 20 Minuten. Ich fühlte mich einfach nur scheiße. Dieter war knapp 50 Jahre alt, sprach breites Hochdeutsch und wirkte sehr freundlich. Er war von Vivi eingeweiht worden und nahm sich meiner an.
Im Garten, der hinter der Metzgerei lag, sah alles sehr idyllisch und friedlich aus. Auf der Wiese standen ein paar Lämmer, die alle glücklich wirkten, so als hätten sie ein leichtes Lächeln im Gesicht. Wie goldig, dachte ich und freute mich über diesen Anblick.
Dieter führte mich zu seinem Gartentisch, auf dem neben Kaffee und Kuchen mehrere Messer, eine Schüssel, ein Haken und ein silbernes, rundes, längliches Gerät lagen, was ich zunächst für eine Taschenlampe hielt. Dieter erklärte mir kurz darauf, dass das ein Bolzenschussgerät sei. Das sei die schnellste und humanste Methode, vor der Schlachtung das Tier zu betäuben. Ich musste rülpsen. Dieter erklärte mir im Einzelnen, was ich bei dem Schuss zu beachten habe. Er zeigte mir den Bolzen und sagte, dass ich damit den Hirnstamm im hinteren Teil des Schädels treffen müsse, um ihn zu zerstören. Im besten Fall sei das Tier dann hirntot und bekäme nicht mehr viel mit. Wieder gab ich verzweifelt gurgelnde Geräusche von mir. Was so einfach klang, wollte ich mir nicht mal vorstellen. An den Praxisteil war nicht zu denken!
Dieter setzte einen Bolzen in das Gerät ein und forderte mich auf, in den Garten zu feuern. Ich zitterte, zierte mich und drückte doch ab. Die Wucht des Schusses warf mich zwei Schritte zurück. Meine Knie wurden weich, ich hatte kein Gefühl mehr für nichts. Weder für die Umgebung noch für die Aktion, geschweige denn für mich. Ich fühlte mich einfach nur leer. Das reichte mir als Exkursionsausflug. Ich würde Vivi jetzt unter Zeugen sagen, dass ich nie wieder Fleisch essen würde, und mir heimlich Hintertürchen offen halten. Nach dem Motto: »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.« Und bei der nächsten Cabanossi-Attacke würde ich genügend Kaugummi dabeihaben, so dass mein Salamiatem unbemerkt bliebe.
»Willst du gar nicht wissen, was für ein Tier du schlachten wirst?«, fragte mich Dieter. »Doch klar, wird ja hoffentlich ein altes Tier sein, das vielleicht eh ein Handicap hat und ganz froh ist, davon erlöst zu werden«, sagte ich. Dieter verschwand kurz hinter einem Schuppen. Es wirkte alles sehr idyllisch. Um uns herum nichts als Weide und Felder. Das Taka-Tuka-Land für Tiere. Während ich mich am Grün der Wiesen nicht sattsehen konnte, stand Dieter kurze Zeit später vor mir mit einem … süßen kleinen Lamm, das vor Aufregung blökte. Ich protestierte sofort, sprang auf, fühlte mich verarscht und war sauer auf Vivi. Das war so gemein. Warum denn ein so junges Tier?
Dieter überging meinen Protest und schwärmte, was man daraus alles Leckeres machen könne. Lammkoteletts, Lammwürstchen, Lammkeule, Lammkarree. Ein Fest. Ich wurde immer bleicher. Zu meiner Beruhigung stellte ich fest, dass ich eigentlich nur einmal im Jahr Lamm esse, und zwar zu Ostern. Zum griechischen Osterfest. Da ist es Tradition und damit unvermeidlich. Das würde auch Vivi verstehen.
»Dieter, ich kann das nicht. Wirklich nicht.« Mein Herz pochte, ich spürte eine innere Ohnmacht; Unruhe; Angst, die sich zur Panik steigerte – alles gleichzeitig. Ich muss kreidebleich gewesen sein.
»Du nimmst jetzt den Bolzenschussapparat in die Hand, und dann setzt du das Gerät genau hier an.« Er hielt das zappelnde Lämmchen zunächst wie einen Hund auf dem Arm, stellte es dann auf, nahm das Tier zwischen seine Beine, so als würde er sich auf ein kleines Reitpony setzen, und bat mich dazu. Mir war heiß und kalt zugleich. Ich fing an zu stottern.
»Die-Die-ter, ich kann das wirklich nicht. Wenn, musst du das machen. Ich kann kein Tier töten!«
Meine Nerven lagen blank. Ich zitterte am ganzen Körper. Das war alles zu viel für mich. Dieter blieb dafür umso ruhiger. Er sagte mir noch mal, dass ich zu ihm kommen und das Bolzenschussgerät in die Hand nehmen solle. Das Lamm stand ruhig zwischen seinen Beinen; er nahm meine Hand, in die er das Schussgerät legte, hielt es an die Stelle am Hinterkopf und drückte gemeinsam mit mir ab. Ich realisierte überhaupt nicht, was ich da gerade getan hatte. Das Tier brach sofort zusammen, lag nun am Boden und zuckte. Dieter schrie, dass ich das Messer holen und mich beeilen solle. Ich bewegte mich wie in Trance. Ferngesteuert griff ich zum Messer, ging damit auf ihn zu. Auch jetzt nahm er wieder meine Hand, legte das Messer an die Kehle und schnitt zu. Beziehungsweise, wir schnitten zu. Die Geräusche, die jetzt zu hören waren, machten alles noch schlimmer. Das Blut, das aus der Kehle des Tieres floss, hörte sich an wie Wasser, das jemand aus einem Glas auf die Wiese goss. Das jetzt kopflose Lamm zuckte noch. Wie das Huhn in Griechenland. Ich übergab mich mehrmals. Als ich nichts mehr im Magen hatte, weinte ich. Das Lamm lag nun regungslos vor mir. Dieter schien Mitleid zu haben. Er nahm mich mit seinen blutüberströmten Händen in den Arm, klopfte mir auf den Rücken und sagte: »War doch gar nicht so schlimm, oder?«
Ich fand keine Worte, stand wie paralysiert einfach nur da. Als Dieter das Tier an den Hinterbeinen an zwei Haken aufhängte, blieb ich reglos. Dieter führte mich näher ran, nahm das Messer und schlitzte die Haut an den Hinterläufen des Lammes auf. Jeder Handgriff saß. So wie ich damals, als wir noch einen Kiosk hatten, die Klebestreifen von Süßwarenkartons abgezogen hatte, um sie flach in den Altpapiercontainer werfen zu können, entfernte Dieter die Haut des Tieres. Ritsch, ratsch, ab war das Lammfell. Nun schnitt er den Filetteil des Tieres und erzählte mir dabei, dass er immer versuche, so viel Tier wie möglich zu verwerten. »Ja, mach mal«, dachte ich nur und wusste nicht mehr, wie ich zu diesem Lamm stehen sollte. So, wie es da hing, hatte es schon wieder mehr mit Fleischtheke zu tun als mit Wuschel auf der Wiese. Aber das Gefühl der Gleichgültigkeit wollte sich letztlich doch nicht einstellen. Was hätte aus dem Tier noch werden können? Wie alt wäre es wohl geworden, hätten wir es nicht getötet? In meinem Kopf ratterte es. Die Vorstellung, dass Dieter hier gleich den Grill anschmeißen würde, machte mich nicht besonders an. Würde ich in der Lage sein, das Fleisch zu essen? Ich war mir nicht sicher. Während Dieter im Innenraum seiner Metzgerei verschwand, um das Fleisch zuzubereiten und teils zu vakuumieren, überlegte ich draußen, bei meinem mittlerweile fünften Kaffee, wie viele Lämmer ich wohl schon auf dem Gewissen hatte. Ich fühlte mich schlecht und wollte eigentlich, wie damals in Griechenland, nur schlafen. Schlafen, aufwachen, das Erlebte wie einen schlechten Traum abschütteln und weitermachen, also hochwertige Herta-Scheiben und Cabanossi kaufen und arglos konsumieren. Aber das ging nicht. Aus dem hinteren Teil des Gartens nahm ich irgendwann den typischen Geruch von Grillfeuer wahr. Die Koteletts brutzelten bereits, und wenig später rief mich Dieter zu sich an den Tisch. Netterweise hatte er auch Maiskolben und Folienkartoffeln besorgt. Als das Fleisch durch war – es roch tatsächlich sehr lecker – und vor mir auf dem Teller lag, hörte ich von der Seite ein »Guten Appetit« und sah Dieter genüsslich das Fleisch schneiden. Ich starrte weiter auf mein Kotelett, nahm meine Gabel in die Hand und stocherte ein wenig in der Ofenkartoffel rum. Der Rest ist wurscht.