Kapitel 16

Kornhaus

Die Müllabfuhr ist das »Kikeriki« der Stadtbevölkerung und ebenso zuverlässig wie der Sonnenaufgang. Sie kommen gefühlt täglich, beschleunigen und bremsen den 32 Tonnen schweren Müllfresser so laut, dass man aus dem Bett fällt, und selbst wenn man das Gepolter ignorieren kann: Der durchdringend schrille Ton beim Rückwärtsfahren durchbricht jeden noch so tiefen Schlaf. Aus der Hölle ist allerdings der Altglas-Container. Im schlimmstmöglichen Fall stehe ich verkatert daneben und schaue zu, wie ein Kran den Stahlbehälter mit 1000 leeren Flaschen Richtung Himmel hebt, dann den Boden öffnet und viele Tonnen Glas auf einer metallenen Ladefläche zerbersten. Wer bei dem Lärm nicht umfällt und liegen bleibt, wird die Großstadt nie verlassen und es nicht abwarten können, bis das Ganze am nächsten Tag im Hinterhof von vorne beginnt: Müllabfuhr. Nur die Abholung der Papiertonne war mir immer vergleichsweise egal.

Auf dem Land kann ich zwar theoretisch länger und ungestörter schlafen, dafür ist die Mülldebatte zwischen Vivi und mir aber sehr anstrengend. Der Müllwagen kommt hier nur alle zwei Wochen und müsste bei uns eigentlich gar nicht halten, weil wir ja gar keinen Müll mehr produzieren. Unser Wasser kommt aus schweren Glasflaschen, die Nudeln aus dem Unverpackt-Laden und die Schalen der Waschnüsse landen auf dem Kompost. Seit drei Wochen versuchen wir jetzt auch noch, Austernpilze und Kräuterseitlinge zu züchten. Dabei dient uns ein alter Einkochtopf, den Brigitte beim Aufräumen in ihrem Schuppen entdeckt und ausgeliehen hat, als eine Art … Katalysator oder Brutstätte. Brigitte züchtet ihre Pilze inzwischen auf Baumstämmen und Strohballen. Bis wir so weit sind, brauchen wir aber noch jede Menge Erfahrung, lautete ihr untypisch gönnerhafter Ratschlag, weshalb wir es erst mal mit Einkochtopf, feuchtem Kaffeesatz und Heu probierten. Der erste Versuch ist leider verschimmelt, weil wir nicht ausreichend belüftet hatten. Als Vivi den Deckel öffnete, war sie sich nicht sicher, ob sie das Gefäß nicht vielleicht mit dem des Brennnesselsuds verwechselt hatte. Es roch erbärmlich. Ihre Analyse war kurz und schmerzvoll: keine Verwechslung. Ich kümmerte mich jetzt täglich um die Pilzbrut, benutzte aber deutlich weniger Wasser und mehr frische Luft. Ich war mir nicht sicher, ob die weißen Flecken im Topf neuer Schimmel waren, oder ob die kleinen Knospen sich im Laufe der Zeit tatsächlich in essbare Pilze verwandeln würden. Lebensmittel ohne Transportkosten in unserem Zero-Plastic-Paradise waren das Ziel, das beim Anblick der weißen Winzlinge in sehr weiter Ferne schien. Gleichzeitig bot ich Vivi an, in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad zum Wochenmarkt zu fahren und dort in einer Minute einen ganzen Korb voller Pilze zu kaufen. Ich hatte nämlich immer mehr den Eindruck, dass Vivi ständig wie ein kleines Mädchen in den Spielzeugladen rannte, etwas aussuchte, hinstellte und sich dann gelangweilt der nächsten Barbiepuppe zuwandte. Ihr Spielzeug? Die ganzen Pflanzen! Ich war in dem Spiel die Mutter, die hinterherräumte, reparierte, Sorge trug und mahnte, und während ich ein letztes Mal das Heu mit etwas Wasser besprühte, hörte ich, wie ein Wagen über den Kies fuhr. Die Schiebetür ging mit sehr viel Energie auf. Statt DHL standen allerdings meine Mitbewohnerin, meine Nachbarin und zwei Typen auf dem Hof, die alle nicht mehr ganz frisch waren. Sie hatten drei Tage durchgefeiert. Vivi verschwand direkt in ihrem Zimmer. Allein. Sie zog die Tür hinter sich zu, legte sich vermutlich sofort aufs Bett und war weg, für uns nicht mehr ansprechbar. Auch Brigitte hatte genug gefeiert, schlurfte über den Hof und verschwand ohne ein Wort mit einer Gießkanne in ihrem Garten. Die beiden Kreativdirektoren Roman und Rex hatten rote Augen, und auch ihre Gesichtsfarbe war intensiver geworden, seit wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Trotzdem fragten sie mich erst mal nach einem Bier. Ich musste passen, bot ihnen aber zwei Holzstühle an und ließ sie für fünf Minuten allein vor der Tür in der Nachmittagssonne sitzen. Als ich mit einem Eimer und vier kalten Bierdosen von Holger zurückkehrte, hatte sich auch Brigitte wieder im Stuhlkreis des Innenhofes eingefunden. Keiner sagte einen Ton, als hätte jemand den Stecker gezogen. Roman versuchte irgendwann, einen Joint zu drehen. Die meisten der getrockneten Blätter und Blüten fielen zwar auf den Kies, aber nach einer Viertelstunde brannte die Tüte endlich. Und nicht nur die: Eine Stichflamme verkohlte Romans Augenbrauen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Er wischte mit dem Handrücken die angesengten Stoppeln aus seinem Gesicht und inhalierte wie ein Schamane. Brigitte berauschte sich lieber an einer Tasse ihres wunderbaren Anti-Kater-Tees. Weil die Jungs ihre Bierdosen schnell geleert hatten, wies ihnen Brigitte den Weg zum Gästeklo, bevor noch einer aus Versehen an eine der Kastanien pinkelte. Sie schlenderten über den Hof. Irgendwann hörte ich einen lauten Schrei aus dem Schuppen und schaute nach, ob sich jemand verletzt hatte.

Brigitte, Roman und Rex standen vor einer riesigen Milchkanne, deren oberer Teil aus Kupfer bestand und um deren »Spitze« sich jede Menge Rohre wickelten. Rex hatte die leuchtenden Augen eines Kindes, das auf dem Dachboden eine alte Eisenbahn entdeckt. Vorsichtig polierte er das Kupfer und überprüfte die Leitungen. Der überdimensionale Teekessel sei eine alte Destille, erklärte er mir. Hier wurde also früher Schnaps gebrannt. Die Anlage hatte etwas Magisches und füllte den ganzen Raum aus. Roman hatte sich offenbar schon häufiger mit dem Thema beschäftigt und erklärte, wie der Kondensator das Dampfgemisch auffing und wieder in flüssige Form brachte. Der Kessel war am Boden mit Ruß verklebt, was auf eine rege Nutzung hindeutete. Brigitte war überrascht, was sich in ihrem Schuppen über Jahrzehnte alles angesammelt hatte. Kurz dachte sie laut nach, wie sie hier künftig eigene ätherische Öle aufsetzen würde, wobei ich mir erlaubte, auf ihre mäßigen Erfolge im Autan-Öl-Bereich hinzuweisen, das nicht half und ranzig roch. Roman müsste ihr lediglich bei der Instandhaltung helfen, wischte sie meinen Einwand vom Tisch, aber er und Rex wollten auch unbedingt Schnaps brennen, wie sehr schnell klar wurde. Am liebsten natürlich Korn.

»Kümmerst du dich um Bio-Zitronen?«, fragte Roman und schaute dabei Brigitte an, während er seine Pläne von der ersten nachhaltigen Fanta-Korn vorstellte.

»Deal!«

Roman und Brigitte klatschten sich ab und verließen laut lachend den Schuppen, während sie einen ganz schäbigen Refrain aus den 70ern anstimmten:

»Korn to be alive!«

Rex legte mit seinem verkaterten Humor noch weitere Wortspiele nach und entwickelte daraus weitere Geschäftsideen: Die »Baby Korn«-Puppe war eine Art Maskottchen, und die internationalen Expansionspläne liefen unter dem Projektnamen »Korn in the USA«.

Brigitte brachte zur Feier des Tages vier Gläser mit Eis und Limonade auf einem Tablett, Roman hatte eine Flasche Doppelkorn aus dem Bus geholt. Ein Prosit auf die Geschäftsidee. Ich entschied mich mitzutrinken, um am Ende des Weekender-Festivals auch noch etwas von dem zu haben, was der Rest der Welt »Spaß« nannte, und brachte mich schließlich auch ein.

In Griechenland gibt es eine lange Tradition des Hausbrennens von Ouzo. Normalerweise wird ein einfacher Kupfer-Destillationsapparat verwendet, ähnlich wie der für das Brennen von Korn. Und genau deshalb brachte ich an dieser Stelle eine lange Liste von Zutaten ins Gespräch:

würden genügen, um endlich meinen eigenen Ouzo brennen zu können. Ein Lebenstraum ginge damit in Erfüllung. Die Zigaretten und Getränke regten die Fantasie der anderen immer weiter an. Inzwischen waren die Pläne so weit gereift, dass Roman und Rex ihre Jobs kündigen und einen alten Gasthof im Nachbarort renovieren wollten, den sie schon seit ein paar Jahren im Auge hatten. Der letzte Besitzer war mit seinem Asia-Konzept und einem »All You Can Eat Buffet« gescheitert. Hier sollte nach den Plänen von Roman und Holger also ein neues Kulturzentrum entstehen. Das Kornhaus. Speisen überwiegend saisonal und regional mit allem, was unser Hof eben so hergeben würde, also vor allem wenig. Holger war vom Lärm der Runde angelockt worden und hatte sich mit einem frischen Bier dazugesellt. Er konnte sich vorstellen, Lammfleisch, Rind und vor allem Wild aus eigener Schlachtung zur Speisekarte beizutragen, vielleicht in einer Jägerstube. So wie früher auch Raucher einen eigenen Bereich hatten, könnte man ein Separee für fleischfressende Gäste anbieten, so sein inklusiver Gedanke, der mir von meinen Cabanossi-Eskapaden nur allzu vertraut war.

»Und wenn der Wolf kommt, gibt es dann nur noch Gemüse?«, fragte ihn Brigitte provozierend.

»Den Wolf haben sie heute früh auf den Bahngleisen zwischen Groß Schlammbach und Klein Schlammbach gefunden.«

»Vom Zug erfasst?«, fragte Roman mitfühlend. Rex war inzwischen auf seinem Stuhl eingeschlafen.

»So sah es zumindest aus«, sagte Holger. Wenn er zu viel Alkohol getrunken hatte, erzählte er auch Dinge, die er eigentlich für sich behalten wollte.

Mir wurde jedenfalls plötzlich sehr, sehr klar, wer der zweite Mann neben Heiko im Wald gewesen war und was sie da im Sack transportiert hatten. Ich hatte genug gehört, gesehen und getrunken, ging schlafen und schloss sicherheitshalber ab. Ich fürchtete mich davor, auch auf den Bahngleisen aufzuwachen und als Unfall in die Geschichte einzugehen.