»Hallo, Mama?«
»Ah – Lindaaaa, bist du es?«
»Ja.«
»Warum rufst du vorher nicht an, damit ich weiß, dass du kommst.«
»Habe ich doch. Hast du nur vergessen.«
»Bei mir hat kein Telefon geklingelt.«
»Muss es aber, sonst wärst du ja nicht rangegangen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Vor zwei Stunden.«
»Ich habe mit niemandem gesprochen. (Pause) Dein Bruder hat angerufen.«
Dann ist ja gut.
Vivi und ich waren auf einem unserer, meinem Gefühl nach, zu seltenen Ausflüge in der Stadt unterwegs. Sie wartete geduldig im Auto vor Chrissis Wohnung und nutzte die Stunde, um weitere Einrichtungsideen für unseren Bauernhof zu sammeln. Der Kofferraum war bereits voller Lampen, Hängeregale und Stoffballen. Vivi hatte vor, aus alten Autoreifen aus unserem Schuppen Sitzhocker zu bauen. Dafür musste man mit der Stichsäge nur ein rundes Stück Sperrholz zuschneiden, etwas Schaumstoff für den bequemen Sitz in den Reifen, der jetzt einen Boden beziehungsweise eine Sitzfläche hatte, stopfen und alles beziehen. Deshalb der viele Stoff. Am Ende wurde der Reifen mit einer Klebepistole bearbeitet und mit einem Hanfseil umwickelt. Fertig war das »coole« Designerstück, auf dem man laut Vivi sehr gut würde meditieren können. Ich hatte jetzt die Aufgabe, Chrissis Nähmaschine auszuleihen, was sie »seeeeeeeeehr wunderte« (Zitat Ende).
»Du Nähmaschine? Machst du Witze?«
Ich erinnerte sie an Großvater, der ja nach ihren Erzählungen ganz Griechenland an einer Singer-Nähmaschine ausgebildet hatte. An den klassischen schwarzen und mechanischen Modellen mit Fußpedal. (Wir hatten bei unserer Singer »Heavy Duty« inzwischen ein Stromkabel und die Auswahl zwischen 23 verschiedenen Stichprogrammen.) Nähen lag uns also im Blut. Meine Mama frischte trotzdem noch kurz meine Erinnerung daran, wie die Maschine zu benutzen ist, auf, wir tranken Kaffee, sie packte mir griechischen Joghurt in die Handtasche, und dann ging es wieder los. Zurück auf Los, zurück aufs Land. Im Kofferraum eine Singer und jede Menge Stoff für den Innenausbau.
Vivi und ich ergänzten uns immer besser. Ich konnte zwar nicht beurteilen, wie es ist, eine Schwester zu haben, aber Vivi kam dem, was ich mir darunter so vorstellte, schon ziemlich nahe. Sie nervte mich manchmal zu Tode, war aber auch pragmatisch, schlagfertig und wild entschlossen zu absolut allem. Wie ich inzwischen wusste.
Auf unserer allerersten Fahrt von Ottensen nach Schleswig-Holstein, zu der ich sie aus ihrer leeren Wohnung mit meinem alten Mercedes abgeholt hatte, kam sie mir plötzlich ziemlich fremd vor, und ich fragte mich bis zur Autobahn das, was ich mich in den kommenden Monaten noch häufiger fragen sollte: ob diese gemeinsame Auszeit wirklich eine so gute Idee gewesen war. Doch auf engem Raum (Auto, Hof, das Land als solches) blieb uns gar nichts anderes übrig, als uns noch besser kennenzulernen. Auf dieser ersten Fahrt, die eigentlich der Umzug war, suchte und suchte und suchte ich nach unverfänglichen Themen, bis ich auf ein beliebtes Spiel aus meiner Kindheit kam, mit dem meine Brüder und ich uns auf den endlosen Fahrten nach Griechenland häufig die Zeit vertrieben hatten: Wir spielten Kennzeichen raten als Bonusvariante und hielten Ausschau nach besonders schrägen Kombinationen auf den Nummernschildern der Autos, die schneller als mein lieber alter W 123 waren. Der Fahrer eines blauen Mazda mit dem Kennzeichen KI-NG 117 saß besonders stolz hinter seinem Lenkrad und performte wie ein Rapper auf der Bühne. Seine rechte Hand zerschnitt die Luft in hundert Teile, und er bewegte seine Lippen hektisch, was Fluch, Segen oder Drake bedeuten konnte. Etwas entspannter ließ es ein Wohnmobilfahrer auf seinem Ausflug angehen. Neben seinem missionarischen Aufkleber »Dosenbier – all over the world« hatte er sich sein Lieblingsgetränk aufs Heck tätowieren lassen: PI-LS 333. Unser Fang des Tages kam aber nicht aus dem Norden, sondern aus dem Ruhrgebiet. Trotz Tarnung mit Basecap und Sonnenbrille in seinem Ford Mustang war uns schnell klar, warum sein Auspuff so laut röhrte: DU-MM 424.
»Dumm röhrt gut«, prustete Vivi vor Lachen und kriegte sich gar nicht mehr ein, als uns danach auch noch ein Transporter mit der Werbung »geist.reich« überholte.
»Wahrscheinlich fahren die alle im Konvoi«, kommentierte ich, während Vivi vor Freude so fest auf mein Armaturenbrett haute, dass sich meine Handyhalterung löste.
»Schau du mal nach SE-XY oder KI-LL«, trug ich Vivi auf und tauchte mit einer Hand in den Fußraum ab. Mein Fahrwerk war in die Jahre gekommen und entsprechend laut, aber auf modernem Flüsterasphalt verstand man die Sprecherin im Radio schon. Wir hörten Deutschlandfunk, wo die Moderatorin offenbar am Ende einer Diskussionsrunde über zeitgemäßes Beschimpfen angekommen war und uns mitgab, dass es angemessener sei, statt »Du Penner« lieber »Pissnelke« oder »Arschgeige« zu sagen. Wir begannen ein neues Spiel, weg von den Nummernschildern, hin zu diskriminierungsfreiem Schimpfwörter-Bingo.
»Du Horst.«
»Geht nicht«, korrigierte mich Vivi.
»Männerfeindlich.«
»Du Sau.«
»Da bekommst du Probleme mit Tierschützern.«
»Du Erbse«, versuchte ich zu punkten.
»Perfekt, viel Proteine, klimaneutral und eigentlich auch eine gute Beschreibung für unseren neuen Nachbarn, diesen … Hochsitzheini.«
»Du meinst Holger Hassler?«
Ich erklärte Vivi, dass Holger ganz sicher in Ordnung sei und bestimmt eine funktionierende Stichsäge und Heißklebepistolen in seiner Werkstatt habe. Nach so vielen Jahren in einem Kiosk erkannte ich ein gutes Herz und einen klaren Verstand, auch wenn er manchmal bewaffnet auf einem Hochstand saß.
Auf dem Rest der Strecke überlegten wir uns, wie der Dorfbevölkerung insgesamt näherzukommen wäre. Während wir uns hochschaukelten und die Fragen und Dialoge mit verschiedenen Charakteren, von denen wir maximal die Namen oder ihre Gesichter durch die Autoscheibe kannten, durchspielten, wurde unser Spaß dokumentiert. Zwei Wochen später bekamen wir das Beweisfoto von der Bußgeldstelle Schleswig-Holstein: Ein Schwarz-Weiß-Foto von zwei lachenden Frauen hinter Bordesholm; Bildunterschrift 122 Stundenkilometer, wo nur 100 erlaubt waren. Das hätte ich meinem alten Auto gar nicht mehr zugetraut.
Auf dieser Fahrt, die jetzt unser Heimweg war, passte ich besser auf. Und das Beste war: Wir wussten inzwischen schon viel, viel besser, wer und was uns dort erwartete. Wir waren so was wie angekommen, aber noch längst nicht an unserem Ziel angelangt.