»Wir machen das jetzt noch dreimal und geben alles«, presste Vivi motiviert wie bei einem Geburtsvorbereitungskurs hervor. »Ich weiß, dass du das schaffst, halte durch«, legte sie mit überdrehter Stimme nach. »Keep Going!« Gerade hielt sie theoretisch das Online-Seminar »Zum stärksten Ich in nur 6 Wochen« ab. Dabei verbrannten ihre ebenso theoretischen Bildschirm-Kunden auf dem Trimmdich-Fahrrad, an ihrer Wand und auf ihrem Boden Kalorien, bauten Muskeln auf und Selbstzweifel ab. Praktisch synchronisierte Vivi seit drei Wochen nebenbei für die amerikanische MyBody-App Videos vom Englischen ins Deutsche. Sie ist so etwas wie die deutsche Stimme einer amerikanischen Fitnesstrainerin, die bekannter ist als Kamala Harris oder Lauryn Hill. In den Onlinekursen vor Publikum sitzt die Trainerin Lilly Love, deren Grad an Erschöpfung Vivi gerade stimmlich nachzustellen versuchte, mal schwitzend in einem engen Gymnastikanzug auf einem Spinning-Rad, wie gerade eben bei Vivis Vertonungs-Job, oder sie liegt schon säuselnd bei der Schlussentspannung auf ihrer Yogamatte, streichelt ein letztes Mal die Faszien und weist zum Höhepunkt auf das Bezahl-Abo für den Sportkurs hin: »Wenn dir unsere sechs-Wochen-Challenge auch gefällt, lade doch deine Freunde ein und teile den Spaß.«
Neben dem Abo gibt es auch noch einen Hinweis auf die neuen Fahrräder, Klamotten und Hanteln. Wer das alles hat, muss nicht mehr in einen Fitnessclub gehen, turnt zu Hause vor dem Handy und sorgt dadurch für viel Umsatz, von dem ein mückenstichgroßer Teil bei Vivi landete. Sie beendete die Sprachaufnahme, klappte ihren Laptop mit den Texten und Anweisungen zu und stellte das von der Decke hängende Mikrofon aus. Dann löschte sie das Licht im Pferdestall. Ihr neues Tonstudio war vielleicht gerade mal zehn Quadratmeter groß. Genauso viel Platz hatte das Pferd auf unserem Hof vor 50 Jahren in seiner Box. Vielleicht hatten hier früher aber auch die Magd oder der Knecht gewohnt, oder alle drei zusammen. Die Erzählungen von Brigitte Bauerfeind änderten sich wie das Wetter, aber das war uns egal. Die Geschichten erzählten von einer Welt wie in der Caro-Landkaffee-Werbung von vor 35 Jahren und vermittelten einem ein behagliches Gefühl, obwohl die Realität damit sicherlich so viel zu tun hatte wie Malzkaffee mit Espresso. Aus den wenigen Geschichten, die meine Mutter manchmal aus ihrer Kindheit erzählte, wusste ich, wie entbehrungsreich das Leben auf dem Land früher war, in Schleswig-Holstein und in Griechenland.
Vivi hingegen war ganz im Hier und Jetzt: Sie war stolz auf ihren Selbstausbau. Sie hatte Eierkartons aus recycelter Pappe an die Wände genagelt, die jetzt für eine ordentliche Akustik sorgten. Außerdem hatte sie bei IKEA in Kiel einen Paravent aus Bambus gekauft und aufgestellt, der für einen besseren Ton und auch für bessere Schwingungen im Raum sorgte. Was Vivi halt inzwischen so alles fühlt bei der Arbeit. On top ein altes Stehpult, das sie im Schuppen gefunden, abgeschliffen und mit Leinöl eingerieben hatte. Meine feine Nase würde den Raum als muffig bezeichnen. Vivi sagte, das sei gut für die Atemwege, schließlich müsse sie ganz schön keuchen, damit ihre Synchronisation für MyBody authentisch sei. Und außerdem habe es im Pferdestall früher wahrscheinlich auch nicht besser gerochen.
Im ersten Anlauf hatte sie die Eierkartons noch selber an die Decke gehängt, dabei motiviert und bewaffnet mit Reißnägeln unsere klapprige Stehleiter erklommen und einen lauten Streit mit dem Balken, an dem sich auch schon ein Holzwurm die Zähne ausgebissen hatte, ausgefochten. Genauso wie Holger Hassler es vorhergesagt hatte, war die Akustik im damals noch provisorischeren Synchronstudio letztlich »bescheiden« (Holgers Wort), weil die Pappen sich am nächsten Tag auf dem Boden stapelten. Auch das hatte Holger vorhergesagt. Danach durfte er uns nicht mehr nur mit Rat, sondern auch mit Tat zur Seite stehen und tackern, schleifen, bohren. Dafür hatte er High-End-Geräte von Hilti, Makita oder Bosch. Mit nacktem Oberkörper hatte ich ihn noch nicht gesehen, war mir aber sicher, dass er seine Lieblingswerkzeugmarken irgendwo auf seinen Körper tätowiert hatte, wie andere das Geburtsdatum ihrer Kinder. Unsere Baumarkt-Schnäppchen, der Winkelschleifer von Parkside oder der Akkuschrauber von Ferrex, hingen jetzt schon ziemlich lange unbenutzt zum Aufladen im Schuppen. Daneben stand ein Eimer mit einer Mörtelkelle und einer Tube Reparaturfüllung: Der erste Verputz-Versuch endete wie der Ausbau im Tonstudio, und so erkannten wir ziemlich schnell, wie abhängig wir von Männern und Maschinen waren. Und natürlich von Brigitte. Vivi verglich unser Projekt auf dem Land mit der Energiewende, wo mit Brückentechnologie wie Kohle, Gas und Atom das große Ziel einfach schneller erreicht werden konnte. Der blaue Nagel beim Hämmern im neuen Tonstudio tat genauso weh wie die auf dem Boden liegenden Eierpappen nach dem ersten, semidilettantischen Anbringversuch, weshalb wir bei unserer Mischkalkulation jetzt auch auf Nebenjobs wie »Synchronstimme für MyBody« setzten. Ein Monat »Bauch, Beine, Po«-Motivations-Ansagen im Pferdestall finanzierte den nächsten Handwerker und dessen Einsatz, zum Beispiel von Dachdecker Kruse und Schornsteinbauer Jörnsen. Die beiden hatten noch bessere Werkzeuge als Holger und flickten unser Dach. Als ich wieder einmal aus der Stadt zurückkam und Vivi eigentlich nur ein Bad hatte nehmen wollen, parkte der Wagen eines Sanitär-Meisters auf dem Hof mit einem beeindruckenden Versprechen: »Rohr Jumbo. Egal wie groß und lang, wir reinigen Rohre, wie es keiner kann.« Er fischte aus unseren Abwasserrohren im Bad Feuchtpapier und ein Spültuch einer in den 80er-Jahren untergegangenen Marke, mit dem wir eindrucksvoll belegen konnten, dass das alles noch Reste von anderen Generationen und Vorbesitzer waren.
Immerhin waren wir jetzt Selbstversorger. Besser gesagt wollten wir es werden. Im Moment wuchs im Garten, der hauptsächlich von Maulwürfen umgegraben wurde, nicht viel. Holger hatte mir natürlich umgehend seine Wühlmausfalle einschließlich Patronen angeboten. Ich hatte tatsächlich kurz darüber nachgedacht, den Umstand auszunutzen, dass Vivi in ihrem Tonstudio saß und den Knall nicht hören würde. So hätte sich zumindest eines unserer Probleme in Luft aufgelöst beziehungsweise in Rauch. Holger hatte sogar angeboten, auf der Terrasse Schmiere zu stehen, sollte Vivi ihre Sportaufnahme vorzeitig beenden. Am Ende hatte ich aber zu große Gewissensbisse, legte den Sprengsatz wieder zur Seite und ließ die süßen Tiere weiter ihre Gänge buddeln. Holgers Plan ging also nicht auf, er würde uns in dieser Frage nicht spalten. Später erzählte ich Vivi von dem geplanten Attentat in unserem Garten und bekam ganz nüchtern zu hören: Wer einen Maulwurf tötet, jagt oder verletzt, muss mit einem Bußgeld von bis zu fünfzigtausend Euro rechnen. Ich gab das Versprechen ab, in diesem Sommer nur Stechmücken und vielleicht ein paar eklige Nacktschnecken zu töten, obwohl diese ja auch nützlich sein sollen. Ansonsten wollte ich meinen Fleischkonsum weiter reduzieren. Wurststräuße (ein Blumenstrauß, der komplett aus Wurstprodukten besteht. Die Blüten zum Beispiel sind aus fein säuberlich zusammengerollten Mortadella-Scheiben. Überhaupt ist alles in zartem Rosa gehalten, wie bei einem Strauß Rosen. Duftet auch. Nur anders.) wurden nicht mal als ironisches Geschenk vom Lande akzeptiert, wenn wir auf einem Geburtstag in der Stadt eingeladen waren. Mit Essen spielt man nicht, erwiderte Vivi todernst, und selbst Chrissi hatte mein Mitbringsel als »zäääääh« abgetan. Ohnehin war dieser Besuch bei meiner Mama und in der großen Stadt aus kulinarischer Sicht nur mit sehr viel Wohlwollen als geglückt zu betrachten. Ich hatte ihr, wie zuletzt manchmal, etwas zu essen mitgebracht, wodurch es zu diesem Samuel-Beckett-artigen Dialog kam:
Ich: »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«
Mama: »Ich habe keinen Hunger.«
Ich: »Das sagst du immer. Und am Ende schmeckt es dir doch.«
Mama: »Ich habe nie Hunger.«
Ich: »Als ich klein war und nie hungrig, hat dich das auch nicht interessiert.«
Mama: »Das ist etwas anderes.«
Ich: »Das ist genau das Gleiche. Ich habe Spaghetti Bolognese mitgebracht. Das magst du doch.«
Mama: »Hatte ich schon.«
Ich »Wann?«
Mama: »Vor zwei Wochen.«
In einer anderen Sache stellte sich nach und nach ein gründlicher Lerneffekt ein: Mir wurde immer klarer, dass die Natur sich selbst am besten helfen konnte, auch mit freundlicher Unterstützung des Maulwurfs. Ich würde zum Frühjahr hin dankbar sein für die vielen Haufen mit lockerer Erde, um damit unser neues Hochbeet aufzufüllen. Wir machten uns dafür bereits im Januar ordentlich die Hände dreckig. Nach dem Spiel ist nämlich vor dem Spiel, erklärte mir die Fitness-Influencerin Vivi unsere Saisonziele und verglich die Wintermonate mit der Sommerpause im Fußball, wo ja auch die wichtigsten Transfers abgewickelt werden und Kondition aufgebaut wird, um am Ende die Ernte einzufahren. In unserem Fall bedeutete das: Saatgut trocknen, tauschen, mulchen, Beete bauen und natürlich jede Menge Videos auf YouTube schauen, wie wir aus alten Fallrohren ein neues Bewässerungssystem bauen könnten und warum wir unseren Kräutertee als Flüssigdünger einsetzen sollten. Draußen in der Kälte fühlte ich mich wohl, dick eingepackt, mit und ohne Handschuhe, egal. Am Ende jeder Session im Garten klebte unter den Fingernägeln immer braune Erde, und in einem Finger entzündete sich ein Dorn oder ein spitzer Holzsplitter, der sich beim Wegtragen der Heckenrose sogar durch die Lederhandschuhe gebohrt hatte.
Als Selbstversorger mussten wir also schon zu Beginn des Jahres umgraben, düngen, Hecken und Bäume schneiden. Wir mochten unseren Dschungel eigentlich und säbelten im Sinne künftiger Nutzpflanzen und entgegen jeder Stadtromantik trotzdem mit unseren Akkuschneidern im winterharten Grün herum. Holger erledigte die Reste mit Benzin, und so türmte sich schon nach kurzer Zeit ein großer Haufen hinter unserem Haus, den wir je nach Windrichtung an Ostern oder beim Biikebrennen abfackeln wollten. So heißt in Schleswig-Holstein das traditionelle große Feuer, um den Winter und die bösen Geister zu vertreiben und die neue Saat zu schützen. Unser Holzschuppen durfte dabei aber nicht in Flammen aufgehen. Das hatte ich in meiner rabiateren Phase (»Tod dem Maulwurf«) auch mal vorgeschlagen, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes eine weitere Baustelle auf dem Grundstück zu haben. Abreißen, abfackeln und dann einfach Rollrasen. Das sei nicht bienenfreundlich, erklärte mir Vivi. Mit dem Gartenreste-Feier-Feuer ohne Schuppen sparten wir wenigstens die Fahrten zum Recyclinghof, schmissen noch jede Menge brennbaren Schrott vom Umbau auf unseren Haufen und würden mit der Asche dem Boden auch wieder was Gutes tun.
»Wir sollten ein Gartentagebuch anlegen«, schlug Vivi vor.
Ich war zu müde zum Lesen und döste bereits vor dem Kamin, das Feuer war schon wieder aus.
»Liebes Tagebuch, meine Hände sind rau und meine Arme tun weh.
Heute, morgen, übermorgen.«
»So ein Quatsch, denk doch nicht immer nur an dich.«
»Stimmt, du bist ja auch noch da.«
»Genau, und ich lese gerade, weshalb man Gemüse immer wieder an anderen Orten anpflanzen soll, Dreifelderwirtschaft und so. Und wer mit wem am besten kann.«
»Also Holger lieber weit weg von dir, richtig?«
»Tatsächlich vertragen sich Tomaten, Chilis und Auberginen nicht in einem gemeinsamen Beet.«
»Hauptsache, sie landen am Ende bei uns im Ofen.«
So richtig warm war es mir nicht, trotz Kaminfeuer, Wolldecke und einer Kanne »Frauenglück«. Das war ein Bio-Kräutertee mit Süßholz, Kamille und Shatavari. Ich hatte schon zwei Tassen, bevor ich mich über den Beipackzettel wunderte. In Indien ist Shatavari bekannt als »die 100 Ehemänner hat«. Shatavari soll bei Menstruationsproblemen helfen, jünger machen und die Libido stärken. Ich hatte schon zwei Tassen Viagra für Frauen getrunken, die Wirkung der Königin der Kräuter schien aber erst ab 20 Grad Außentemperatur einzutreten. Vivi vertröstete mich auf den Sommer und ihre Pläne mit Solaranlage und Wärmepumpe. Nach Flug-Scham und Fleisch-Scham litt sie nämlich auch unter Bau-Scham. Nicht zu verwechseln mit Bauschaum, den wir für die undichten Stellen unter den Fenstern oder die nicht immer passenden Recycling-Bauteile dringend benötigten. Vivi war leidenschaftlich dabei, mit dem Umbau gleichzeitig die Ressourcen auf dem Planeten zu schonen, und stöberte deshalb stundenlang in Internetforen. Dort konnten wir sowohl unsere alten Dinge inserieren, für die sich kaum jemand interessierte, wie beispielsweise eine gusseiserne Kaminplatte mit einem Hirsch oder eine pompöse, aber leider auch sehr kitschige Wendeltreppe. Immerhin ersteigerten wir schöne alte Holztüren, die bereits abgebeizt waren, und ein Alufenster für das Frühbeet. Der Baumarkt würde an uns also nur durch Schrauben, Schleifpapier und schlechtes Werkzeug verdienen. Ich fand die Idee, in einem alten Haus zu leben, deshalb so schön, weil ich keine Neubauten mag, weder Doppelhaushälfte noch Pent- oder Tiny-Häuser. »Schön« traf es zwar noch immer nicht, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf. Mit dem mussten wir jetzt erst mal durch den Winter kommen, und die Baustelle aka unsere Wohnstube war eben noch lange nicht gemütlich, da halfen auch keine Kerzen aus Bienenwachs oder Schwarz-Weiß-Fotos mit Bildern aus der Provence. Hier war seit zwei Monaten jedes Foto gefühlt schwarz-weiß, weil sich die Sonne irgendwo hinter Wolken und Nebel versteckte. Wind aus Nord oder Nordost war nicht heimelig, sondern brachte lediglich feuchte Kälte.
Es klingelte, Holger stand im Türrahmen. Ohne seine grüne Latzhose, stattdessen mit Jeans und Lederjacke. Fast hätte ich ihn nicht erkannt.
Er fragte, ob er seinen Makita-Akkuschrauber wiederhaben könne, weil er morgen sein Schuppentor flicken müsse. Und ob wir nicht an einem Samstagabend Lust hätten, ihn in die Probierstube zu begleiten. Das sei eine Art Hinterzimmer für konspirative Gespräche weit über die Region hinaus. Probieren durfte man die männliche Version von »Frauenglück«, meinte er mit einem abschätzigen Wink in Richtung suggestiver Teepackung. Hier sei ja eine traditionsreiche Branntweinbrennerei angesiedelt, mit einer Gastwirtschaft und einem Nebenzimmer, in dem noch immer geraucht werden dürfe. Auf der Probierkarte stünden ein Weizen-Edelkorn, ein Weizen-Doppelkorn. Einziger Longdrink, bei diesem Wort hob er die Augenbrauen und sah Vivi an, sei Cola-Korn. Wer das alles nicht mochte, trank eben Pils.
Kurze Zeit später schwebten Holger und wir auf Barhockern. Die Bedienung hörte auf den Namen Corny, was für unseren ersten Lachflash gesorgt hatte. Sie schaute hinterm Tresen aber so grimmig, dass wir uns nicht trauten, nach ihrem Personalausweis zu fragen. (Bis heute wissen wir nicht, ob Corny ein Künstlername ist.) Sie servierte die Drinks einfach kommentarlos, bis es dann um Mitternacht heißen würde:
»Jungs, Feierabend.«
Holger hielt sich zurück und führte uns ein in die geheimnisvolle Bar und die Probierkarte. Er gönnte sich lediglich einen doppelten Ostholsteiner, ohne Eis.
Er trank ihn wie ein Feinschmecker einen Whiskey, hielt das Glas hoch, schaute durch, schwenkte es dreimal und ließ uns daran riechen.
»Wie Klosterfrau Melissengeist«, war mein erster Kommentar.
»Nur milder«, ergänzte Vivi und exte den Korn wie ein Glas stilles Wasser.
»Der ist neunfach destilliert, wie ein guter Wodka, deshalb brennt der auch nicht so im Hals.«
»Habt ihr auch Fanta mit Korn?«, fragte Vivi.
»Mit oder ohne Eis?«, wollte Corny wissen.
Holger hielt das Glas erneut hoch und drehte es wie eine Discokugel. Die Lichtstrahlen der Hängelampe aus Kupfer bekamen dadurch eine neue Richtung und veränderten Holgers Kopf wie ein Kaleidoskop. Mal war er für einen kurzen Moment wie ausgeknipst, dann wieder hell erleuchtet. Seine Züge entspannten sich immer mehr, je länger und tiefer er in das Glas schaute. Nach der Korn-Zeremonie blieb er wie angewurzelt am Tresen stehen, zauberte eine Kippe aus seiner Lederjacke und wiederholte das Schauspiel mit Nikotin wie zuvor mit dem Glas Alkohol. Sein Blick war fokussiert auf die Zigarette, die er wie Claus Theo Gärtner als Privatdetektiv Matula rauchte. Zuerst ein tiefer Zug durch den Mund, dann atmete er durch die Nase aus und machte anschließend eine lange Pause, um den Atem zu beruhigen. Wie beim Hatha-Yoga, nur genau umgekehrt. Die verqualmte Luft im Raum sorgte für ein stimmungsvolles Licht in der Probierstube, wie es vor 15 Jahren noch in allen Kneipen ganz normal war, bevor das Rauchverbot flächendeckend eingeführt wurde. Inzwischen hatte Holgers alter Schulfreund den Platz am Flipper geräumt und sich zu ihm gestellt, um eine Kippe zu schnorren.
»Feuer?«
Heiko nickte mir zu. Ich brauchte drei Versuche, um die Streichhölzer anzuzünden. In der Stadt hatte ich lange keine Gelegenheit mehr zum Üben gehabt.
»Raucherkneipen sind bei uns verboten«, erklärte ich mein Missgeschick.
»Bin mal gespannt, ob wir hier auch bald einen Verein gründen, damit wir weiter Schweinebauch grillen dürfen«, bemerkte Heiko mit hochgezogener Stirn und etwas spitz in unsere Richtung.
»Ich beantrage davor jedenfalls einen Parkplatz für Diesel-Fahrzeuge mit Anhängerkupplung«, ergänzte Holger seinen Gedanken.
Die Reizwörter »Fleisch« und »Diesel« weckten Vivi aus ihrer kauernden Sitzposition auf dem Barhocker. Sie drückte ihr Kreuz durch.
»Dann kannst du deinen Panzer auch gleich stehen lassen.«
Anschließend hielt sie ein Fachreferat über Diesel-Fahrverbote und Tempolimit.
Bessere Luft, weniger Tote und jede Menge eingespartes CO2 ließen laut Vivi keine Alternative zu.
»Dein Ernst, Tempo 120?«, fragte Holger und zündete sich noch eine an.
»Von mir aus«, gab sich Heiko zunächst achselzuckend geschlagen.
»Und wie schnell darf ich dann außerhalb geschlossener Ortschaften fahren?«
Punkt. Satz. Sieg. Holger und Heiko klatschten sich ab und gönnten sich nach dem Brüllwitz noch einen Korn.
Vivi gab sich so schnell aber nicht geschlagen und versuchte herauszufinden, warum die beiden nicht vom Diesel ließen. Ich konnte ganz gut verstehen, warum sie ihre alten Autos liebten. Heikos silberne Limousine hatte schon 15 Jahre und über 200 000 Kilometer auf dem Buckel, war also aus Heikos Sicht gerade mal eingefahren. Zum Glück gab es Kümmel, den besten Schrauber im Landkreis. Kümmel hatte wohl ziemlich früh die Schule geschmissen und stand seitdem mit ölverschmierten Klamotten in einer großen Scheune vor einer noch größeren Hebebühne. Kümmel hatte laut Heiko einen guten Blick für »unter der Motorhaube« und besorgte auch sehr günstige Ersatzteile vom Schrottplatz drei Orte weiter. Unglaublicherweise würde auch sein Stundenlohn nur einen Bruchteil der Original-Mercedes-Vertragswerkstatt in der übernächsten Stadt betragen. Zwei Stunden Arbeitszeit wurden in der Regel mit einer Kiste Bier bezahlt, von der Heiko bei der Übergabe die Hälfte selbst trank, schließlich packte er ja nicht nur beim Flaschenöffner selbst an. Am Ende war der Wagen komplett überholt, und auch das Reifenprofil reichte für den TÜV, man kennt sich ja. Bei der feierlichen Übergabe schmückte Heiko seinen Wagen im Innenraum mit bunten Luftballons, damit sich auch ja keiner seiner Kumpels mit dreckigen Stiefeln besoffen auf die Rückbank setzte. Der Wagen hieß fortan »Diggie«, und so nannten sie auch die WhatsApp-Gruppe, die einen Mercedes-Stern als Symbolbild hatte. Die Musik in Holgers Garageneinfahrt kam bei Partys aus den Boxen der S-Klasse, denn Diggie hatte einen zehnfachen CD-Wechsler im Kofferraum, der mit AC / DC, Sido, Extrabreit, Apache 207, Bon Jovi und Helene Fischer gefüllt war. Dazu gab es Würstchen vom Grill mit Senf im Brötchen, was bei mir für Begeisterung sorgte. Das Fleisch kam ebenso wie die Besucher aus der Region. Das Bier durfte sich immer jeder selbst aus dem Kofferraum holen. Auch Kümmel war Stammgast und parkte seinen 5er BMW jeden Freitag rückwärts neben den Bierbänken. So konnte jeder den Schriftzug »Lemmy« lesen, den er oberhalb der Rücklichter in den Lack eingraviert hatte. Der Sänger von Motörhead war im Freundeskreis eine Ikone. Seine Auftritte beim Wacken-Festival waren auf jeder Party ein Thema, vor allem die letzte Show, die Kümmel komplett auf dem Dixi-Klo verpennt
hatte.
Vivi zückte bei der Erzählung ihr Handy und zeigte dem leidenschaftlichen Schrauber ein Selfie, das er mit »Hammer« kommentierte, Vivi sofort das Handy wegnahm und es Holger zeigte, als hätte sie sich bei der Mondlandung gefilmt. Historisch würde Kümmel diese Einordnung vermutlich genauso treffen. Auf seine Schnellfeuer-Nachfragen erzählte Vivi bereitwillig, wie sie vor Jahren als Produktionsleiterin beim Wacken-Festival den ikonischen Sänger von Motörhead mit seiner unverwechselbaren Reibeisenstimme interviewt hatte. Auf dem Selfie saß sie in einem Zelt neben Lemmy Kilmister auf einem Sofa, auf dem Tisch standen zwei Flaschen Jack Daniel’s und ein Mikrofon. Lemmy trug wie immer sein Metal-Outfit: schwarzer Hut, Sonnenbrille und Lederweste. Sein nackter Arm lag auf Vivis Schulter.
»Hast du auch die Warzen in seinem Gesicht angefasst?«, wollte Heiko wissen.
»Das sind Fibrome«, korrigierte ihn Kümmel, der die Biografie von Lemmy auf seinem Nachttisch liegen hatte wie andere das Neue Testament.
Nach dieser heldenhaften Anekdote mit Fotobeweis war Vivi in der hiesigen Hierarchie ganz weit aufgestiegen. Als Bürgermeisterin, wofür Kümmel sich einsetzte, wollte sie aber nicht kandidieren. Stattdessen durfte sie ab jetzt zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihm klingeln, wenn unser Auto mal liegen bleiben sollte, versprach Heiko. Und bei ihm sowieso, wenn sie mal liegen bleiben wolle. Beide Angebote lächelte sie weg und spendierte eine letzte Runde Korn.
Als ich einwarf, dass mein »Mersi« auf Vivis Anregung spätestens im Winter ins Altersheim musste, war das bedauernde Gemurmel lang anhaltend und laut. Bis dahin durfte ich im großen Kofferraum meines W 123 Mercedes, Baujahr 83, Blumenerde transportieren, Baumaschinen umherkutschen und andere schwere Fahrten übernehmen. Dann war leider Schluss. Damit wir in unserer Öko-WG auch die selbst gesteckten Klimaziele erreichen würden, hatte ich die Wahl zwischen Elektroauto oder Fahrrad. Völlig irre fanden die anderen die Vorstellung und verabredeten sich demonstrativ am nächsten Tag auf der Moto-Cross-Strecke zu einem Rennen und einer weiteren Grillparty. Ohne Frauen, dafür mit ihren Pick-ups und Anhängern. Aber nicht mal Vivi ließ sich jetzt von den Reizwörtern »Fleisch« und »Diesel« triggern, die in anderer Besetzung und Stimmung eine ordentliche Kneipenschlägerei auslösen würden. Das stundenlange Abschleifen der Deckenbalken im Wohnzimmer hatte sie erschöpft. Sie fragte Holger nach einer Kippe und bestellte noch einen Korn. Dann kippte sie um. Holger zog die Augenbrauen hoch und sagte »Huch«.
Mehr kam aber nicht an Wortbeiträgen und Kommentaren. Es blieb so ruhig wie in der Jever-Werbung. Alles gesagt.