Kapitel 7

Feldsalat

Nachts ist es in meiner neuen Umgebung nicht einfach nur dunkel: Der Himmel ist richtig schwarz. Auch die vier Straßenlampen in der Sackgasse, die von der Landstraße zu unserem Hof abzweigt, spendeten kein Licht mehr. Sie schalteten sich pünktlich um zehn Uhr ab. Danach brauchten meine Augen immer ein paar Sekunden, bis sie die Umrisse der Gemäuer in der Dunkelheit erkannten. Anfangs bin ich auf dem Weg zum Komposthaufen spätabends mehrmals über die großen Feldsteine gestolpert, der Länge nach in den Dreck gesegelt und musste am nächsten Tag die Karottenschalen, Zwiebelhüllen und Apfelgehäuse mühsam vom Kiesweg sammeln. Jetzt habe ich mich an die Nacht gewöhnt. Ich wartete einfach ein, zwei Minuten vor der Tür, beobachtete, wie der Atem in der kalten, klaren Luft kondensierte und starrte ins Schwarz der Nacht. Ich musste nur warten. Plötzlich stellte sich mein Blick wie ein Autofokus scharf, das schwarze Loch bekam Konturen, und vor meinen Augen entstand eine reale Landschaft. Bäume, Hecken, Hügel. Ich bin dann in einer Art Raubtiermodus und erkenne auch Zinkeimer oder Anhängerdeichseln, die mir den Weg versperren könnten. Die ersten Schritte machte ich immer ganz langsam, blieb stehen, legte meinen Kopf in den Nacken und beobachtete minutenlang den Sternenhimmel. Das Universum ist vom Land aus viel näher und auch greifbarer. Hier draußen müssten eigentlich viel mehr Wünsche in Erfüllung gehen, weil es so viele Sternschnuppen gab, die im orangefarbenen Licht der Großstadt wegen der künstlichen Beleuchtung der Werbetafeln, der Arbeiten im Hafen rund um die Uhr und der vielen Abgase niemals zu erkennen waren. Ich dachte in solchen Momenten vor unserem Hof an Sommernächte auf Chios oder Kefalonia, wo Berge und Buchten auch weit abgelegen sind. Spätabends am Strand liegend, habe ich auf griechischen Inseln schon viele Reste im Weltraum verglühen sehen und mir viele schöne Dinge erbeten. Als Kind neue Turnschuhe, später einen Auftritt als Tänzerin im neuen Videoclip von Madonna und heute weniger Krampfadern oder Falten. Kalte Luft ist bestimmt gut für die Durchblutung, dachte ich mir nachts und schnaufte dann Yogaatmung simulierend noch mal durch. Ich bin mittlerweile süchtig nach frischer Luft. Damit unser Haus nicht unnötig auskühlte, hatte Vivi Fenster auf Kipp beim Schlafen verboten: Wir sollten lieber morgens und abends stoßlüften. Überdies würde das alte Haus angeblich von selbst atmen. Ich war tatsächlich im Energiesparmodus und führte über solche Kleinigkeiten keine Debatten. Stattdessen wartete ich geduldig, bis sie im Nachbarzimmer eingeschlafen war, und machte morgens rechtzeitig wieder die Fenster dicht. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, wenn mich beispielsweise die fauchenden Katzen von Brigittes Hof weckten, die zwar auch gute Augen hatten, den Zinkeimer aber vermutlich absichtlich umwarfen, damit ich ihnen auch um 2 Uhr 30 noch mal das Fell kraulte. Oder wenn der Marder im Dachgewölbe Pogo tanzte. Die dumpfen Schläge im Gebälk hörten sich an, als ob ein Wrestler mit dem Rücken auf den Boden knallte. Dann ging ich kurz vor die Tür. Manchmal weckte mich auch der Vollmond, der zwischen zwei und drei Uhr durch die Bäume schien und das Licht direkt auf mein Gesicht warf. Im Schlafzimmer war es dann hell genug, um zu lesen. Im Frühjahr brauchten wir unbedingt Vorhänge, weil wir sonst zu früh wach wurden, schlechte Laune hatten, stritten, nicht vorankamen. (Ich kann nur im Dunkeln ausschlafen.) Entsprechend weit oben standen sie auf der Einkaufsliste für den nächsten Ausflug in die große Stadt. Außerdem Lehmputz, Spachtel und Putzbesen für den neuen Anstrich in unseren Schlafräumen. Neben unserem Notizblock aus Papier hatte Vivi auch noch eine digitale To-do-Liste angelegt, um ihre Vision besser visualisieren zu können. Dorthin kopierte sie alle Bilder oder Skizzen, die ihr bei Pinterest oder Instagram vorgeschlagen wurden und ihren Geschmack trafen. #Landgang. Für die Fenster favorisierte sie beispielsweise rustikale Leinentücher an selbst geschnitzten Gardinenstangen. Mein Kommentar: Kartoffelsack? Ich könnte mir das gut in unserem Schuppen vorstellen, aber da brauchten die ersten Pflanzen, die dort vorgezogen wurden, vermutlich auch den Mondschein, damit sie im Sommer reichlich Früchte trugen. Manchmal lag ich stundenlang wach und fragte mich, ob wir unseren Umbau überhaupt realisieren konnten oder uns damit übernommen hatten. In den Nächten, in denen ich einen Abstecher nach draußen mache, war es anders: Der Sauerstoff in meinen Lungen wirkte wie K. o.-Gas. Ich schlief sofort wieder ein und amüsierte mich die nächsten Stunden: Mein griechischer Cousin aus Trikala erschien mir im Traum, er saß bei Holger im Hof, trank Bier und reparierte dabei sein Moped, um so Hühner und Kaninchen zu transportieren. Die Tiere sollten weggefahren und geschlachtet werden, hauten aber immer wieder ab. Noch bevor das erste Huhn den Hals umgedreht bekam, wurde ich von einem sehr schrillen Geräusch geweckt. Holger nahm schon wieder die Kreissäge in Betrieb, er restaurierte einen »Hänger«. Ich stellte mich an mein kleines, offenes Fenster und beobachtete, wie die Funken von seiner Maschine in die Einfahrt flogen und verglühten. Er bearbeitete ein Gestell mit Metallrohren, und ich wartete, bis er den Apparat für einen Moment abschaltete.

»Kaffee?«, fragte ich ihn und streckte ihm eine Tasse entgegen.

Holger schob seine Star-Wars-Maske hoch auf die Stirn, rieb sich den Schnodder in den Ärmel und zeigte mit dem Brenner in der Hand auf die Ablage vor der Garage. Die Geste bedeutete übersetzt: »Danke, nehme ich gerne. Stell erst mal ab.«

Holger konnte sich darauf verlassen, dass ich einen halben Würfelzucker und einen Schuss Milch in die Tasse rühren würde. Inzwischen akzeptierte er sogar Hafermilch. Holger trug Blaumann, ich Jumpsuit. Er ahnte immer schon, dass er im Austausch für Kaffee bei uns etwas reparieren musste.

»Wird das ein neues Bierbike?«, fragte ich ihn, weil das genau die Ansprache war, mit der er begrüßt werden wollte. Er lächelte zwar so früh noch nicht, schickte mich aber immerhin auch nicht gleich wieder weg, musterte seine Sperrholzplatte mit gestreckten Armen von allen Seiten, drehte sie um und lehnte sie an die Seitenwand.

»Das wird mein neuer Tiertransporter.«

Dabei nahm er einen großen Schluck aus der Emaille-Tasse mit dem »Lächle. Du kannst sie nicht alle töten.«-Aufdruck. Der Kaffee taute ihn auf, und plötzlich hörte er gar nicht mehr auf zu reden. Ganz liebevoll sprach er über seine Schafe, die das ganze Jahr hinterm Haus grasten, das Fallobst vom Boden fraßen und ansonsten nur Heu bekamen. Keine Medikamente! Es war wohl eine besondere Rasse mit dunklem Fell, weißer Schnauze und hellen Stellen an den Pfoten. Ich konnte mir die vielen Details nicht merken, verspürte aber eine besondere Bindung, die Holger bei seinen Nachbarn häufig vermissen ließ. Er schlachtete beispielsweise seine Lämmer nicht an Ostern, auch wenn er da die meisten Bestellungen hatte. Er zog sie lieber über den Sommer auf und schlachtete im Herbst, weil die Tiere so immer frisches Gras hatten und mehr Muskelmasse aufbauten. Erst dann wurden sie in der Metzgerei von Dieter Mertens fachgerecht zerlegt. Lammhack, Lammfilet, Lammkeule. Ohne Stresshormone im Blut, regional verarbeitet, vielleicht noch etwas Rosmarin und Thymian in den Jus. Ob ich mit dem Bio-Rezept bei Vivi durchkommen würde?

»Hast du schon mal ein Tier getötet?«, fragte mich Holger.

»Niemals!«, antwortete ich perplex und verschwieg dabei, dass ich zwar den Wellensittich Beatrix auf dem Gewissen hatte, normalerweise aber nicht mal einer Spinne was zuleide tun und auch kein Blut sehen konnte …

»Dann lernst du es jetzt. Kommst du mal mit?«

Holger hielt mir seine Hand hin, ich musste nur noch einschlagen. Reflexartig streckte auch ich meinen Arm aus und nahm ihm die leere Tasse ab. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass Vivi mal wieder schneller gewesen war …


Bis Ostern war da noch Zeit. Zwei Lämmer würden aus der Herde genommen werden. Ich versuchte, den Gedanken an den zukünftigen Braten schnell beiseitezuschieben, und kümmerte mich zunächst um die Beilage. Unser Feldsalat war trotz Schnee, Wind und Dauerregen in den letzten Tagen satt grün geworden. Hätte man mich so auf das Hochbeet gelegt, ich wäre nach wenigen Tagen einfach eingegangen. Die Blätter aber hatten die Wintersonne und die Nährstoffe im Boden genutzt. Sie waren klein, dunkelgrün und fest und hatten sich gut durchgesetzt gegen die Brennnesseln und das Unkraut im Beet. Vorsichtig zog ich die Rosetten aus dem Boden und klopfe die Reste der Erde von der Wurzel, bevor ich sie in meinen kleinen Korb legte. Eine Bestellung bei Stadtsalat ginge zwar schneller, weil ich da in wenigen Minuten meine Mischung aus Rucola, Spinat und Mangold bekam. Obwohl sie mit Gemüse-Rösti, Bio-Garnelen und essbaren Blumen dekoriert waren, machte mich der Blick in meinen Korb glücklicher. Außerdem hatte der Salatriese hier auch keine Filiale. Es entspannte mich, die Wurzeln mit dem sandigen Boden abzuzupfen, die Blätter abzuschütteln und den Haufen drei Mal durchzuwaschen. Dabei beobachtete ich durchs Küchenfenster, wie zwei Feldhasen mit nassem Fell über die Wiese hoppelten und ebenfalls Grünzeug knabberten. Ich war fasziniert von ihrer eigenartigen Lauftechnik. Mit dem weißen Fell am unteren Schwanzende schlugen sie einen Haken nach dem anderen. Eigentlich sind Hasen laut Holger sehr scheu, aber sie näherten sich unserem Küchenfenster in den letzten Wochen mehr und mehr. Vielleicht hatten sie in der Paarungszeit für einen Augenblick vergessen, dass und warum Menschen Tiere jagen. Ich war für sie jedenfalls keine Gefahr. Obwohl ich mich für ein schnelles Handyfoto vorsichtig über den Kiesweg schlich, waren sie bei meinem Anblick weggesprungen. Angeblich sind sie fast so schnell wie ein Auto auf der Landstraße. Ich jedenfalls war zu langsam.

»Hattest du früher ein Kaninchen?«, fragte mich Vivi, die mir aus dem Schuppen entgegenkam und mich in die Küche begleitete. Sie hatte jede Menge Erde an ihren Fingern kleben.

»Nein, aber meine Nachbarin Susanne. Ich bin aber sehr gerne zum Füttern vorbeigekommen.«

Vivi berichtete stolz, dass unsere Samen gekeimt hatten und die ersten größeren Blätter sich hinter den Fensterscheiben der Sonne entgegenstreckten. Sie pflegte unsere jungen Pflanzen am Anfang mindestens so liebevoll wie Kinder ihre Kaninchen und überließ dabei auch nichts dem Zufall. Weil sie sich sehr genau an den empfohlenen Abstand der Pflanzen zueinander und ihre Saattiefe hielt, waren die meisten Samen tatsächlich aufgegangen, sodass ihre Töpfe jetzt sinnvollerweise beschriftet oder Zahnstocher mit kleinen Zetteln wie Miniflaggen in die Erde gerammt werden konnten, damit wir genau wussten, was wir da züchteten. Koriander, Kürbis, Tomate.

»Und wolltest du kein eigenes Kaninchen?«

»Doch, schon, aber das kam für Chrissi nicht infrage«, erklärte ich die schwierigen Verhältnisse meiner Kindheit im Hochhaus in Harburg.

Am Tod von Hoppel, einem der Hasen von Susanne, war ich – glaube ich – nicht ganz unschuldig, weil sein Ableben im Zusammenhang mit der Ferienwoche stand, in der ich auf das Tier aufpasste. Ich meinte es mit Löwenzahn und Karotten besonders gut. Möglicherweise servierte ich auch noch einen Nachtisch und vergaß, das Bonbonpapier zu entfernen. Oder Hoppel dachte sich, so schön werde er es bei Susanne nie wieder haben, und legte sich deshalb für immer zur Ruhe. Jedenfalls fanden wir ihn ausgerechnet an dem Morgen, an dem Susanne ihn wieder abholen sollte, leblos in seinem Stall vor. Entsprechend war das einer der Gründe, warum Haustiere bei uns in der Familie verboten waren.

»Ich habe mir auch immer einen Hund gewünscht und nie einen bekommen.« Vivi hatte jetzt einen Blick wie ein Hundewelpe aufgesetzt, musterte mich hoffnungsvoll und verkroch sich auf mein kurzes Kopfschütteln beleidigt in ein anderes Zimmer, von wo sie erst zum Essen wieder erschien. Wir hatten zwar genug Platz, ich aber eine Hunde- und Katzenhaarallergie. Gleichzeitig versprach ich, mich auf anderen Wegen für noch mehr Tierwohl einzusetzen. Zum Beispiel deutlich weniger Fleisch zu essen und wenn überhaupt, dann auch nur noch das Tierwohllabel der Kategorie 3 oder 4 zu kaufen. Während wir den Salat verputzten, diskutierten wir über die ganzen Widersprüche unserer Essgewohnheiten. Etwas Schafskäse oder Parmesan war in Ordnung, Schinkenwürfel dagegen tabu.

»Schafe stammen nicht aus Massentierhaltung, sie erhalten unsere Kulturlandschaft in den Alpen oder auf Deichen«, versuchte ich Vivi klarzumachen, um neben den zertifizierten Bio-Orangen, die wir von einer Genossenschaft auf Mallorca auf dem Postweg bezogen, den hohen Obstanteil in unserem Salat künftig auch mit etwas salzigem Käse zu verfeinern.

»Wer Ja zu Milch und Käse sagt, muss dann auch die nutzlosen Kälber und Lämmer verspeisen, für die es nach der Geburt in der Landwirtschaft keine Verwendung gibt«, widersprach sie polemisch.

»Die Zuchtbullen werden schon noch gebraucht«, versuchte ich, die Existenz der männlichen Tiere zu rechtfertigen. Vivi war nicht zu überzeugen. Sie packte mich bei der Ehre und forderte mich indirekt auf, doch tatsächlich mit Holger ein Lamm zu schlachten, damit ich nie mehr anonym und bequem per Fingerzeig an der Theke ein Stück Fleisch auswählen würde, sondern mein Verhältnis mit den Lebewesen ein für alle Mal persönlich geklärt hätte – Auge für Auge, Fuß für Fuß.

Holger hatte mir all das am Morgen noch viel freund­licher erklärt: dass seine Lämmer ja einen schönen Sommer hätten, bevor er sie schlachte – und dann ohnehin schon ziemlich ausgewachsen waren.

»Schon feige von dir, nur das abgepackte Filet anzubraten. Mal sehen, ob du wirklich ein Lamm töten kannst und das viele Blut erträgst«, legte Vivi nach, während sie die Salatreste aus der Schüssel kratzte. Das Wegwerfen von Lebensmitteln fiel uns tatsächlich schwerer, seitdem wir uns selber darum kümmerten und viel mehr Zeit in die Zubereitung steckten. Ich schmeckte jetzt noch viel intensiver den leicht nussigen Geschmack der selbst angebauten Pflanzen. Anders als bei einem labbrigen Salat aus dem Supermarkt, dessen eine Hälfte schon bei der Zubereitung im Komposteimer landete, hatten wir bei unserer Ernte kaum Abfall. Brigitte hatte uns die Pflanzen im Januar überlassen, weil sie im Herbst ihren ganzen Samen verbrauchen musste und ihn willkürlich über dem Hochbeet verteilt hatte. Als Folge war das Beet völlig überwuchert, und sie zeigte uns, wie sie die kleinen, zarten Pflanzen penibel aus dem Beet entfernte und wie wir danach den Überschuss vorsichtig in unsere neuen Beete einzupflanzen hatten. Manche ließen schnell den Kopf hängen, dabei gab ich mir beim Einpflanzen noch deutlich mehr Mühe als bei der Pflege von Hase Hoppel damals. Große Teile aber überlebten den Winter. Seit zwei Wochen gab es also jeden Tag frischen Feldsalat bei uns, wir waren als Selbstversorger auf einem guten Weg. Vivi spürte bereits deutlich mehr Energie im Körper und ging seither regelmäßig auch für eine halbe Stunde durch die Felder spazieren; »zum Feldbaden«, wie sie es nannte. (Im Wald hatte sie Angst, weshalb das japanische Waldbaden für sie nicht infrage kam.) Mir schmeckte es einfach. Wenn ich mich künftig ausgewogen ernähren wollte, würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als mein erstes Tier zu töten. Hoppel und Beatrix jetzt mal nicht mitgerechnet, aber vielleicht war der Hase auch an Altersschwäche gestorben und der Wellensittich an seinem Tumor.

Wir verbrachten den ganzen Nachmittag damit, kleine Schilder zu schreiben, umzutopfen und Gartenwerkzeug zu reparieren. Vivi tauschte ein kaputtes Fenster im Gewächshaus gegen ein Holzbrett aus, das sie bei Holger an der Kreissäge passgenau zuschneiden durfte. Er hatte noch Sperrholz von seinem Anhänger übrig und schweißte uns sogar noch ein abgebrochenes Winkeleisen an die Tür, damit wir unsere Schätze künftig besser sichern konnten. Für die meisten unserer jungen Pflanzen war es im Gewächshaus zwar eigentlich noch zu kalt. Brigitte gab uns aber den nützlichen Tipp, bei angesagtem Nachtfrost einfach eine Kerze anzuzünden. Das würde schon ausreichen, damit unsere Salate und Kräuter nicht erfrieren würden. Ich war gespannt, zündete den Docht im windgeschützten Glas an, räumte Löffel, Schaufeln und Blumentöpfe auf unserem Pflanztisch zur Seite und wischte die Erdkrümel weg.

Holger verlangte als Gegenleistung für seinen Einsatz am Gewächshaus mal wieder Gesellschaft in der Probierstube, die ich ihm schlecht absagen konnte, nachdem er mindestens drei Stunden im Einsatz gewesen war. Eine Hand wäscht die andere. Wir machten uns also sauber, entfernten die Reste von Anzuchterde unter unseren Fingernägeln und tauschten unsere lockeren Overalls gegen enge Jeans, graue Sweatshirts und setzten uns blaue Wollmützen auf die noch nassen Haare. Eigentlich wollte ich meinen Kopf erst nach dem Besuch in der Raucherkneipe waschen, im Schuppen und beim Umtopfen hatten wir aber jede Menge Staub und Spinnweben abbekommen. Zu viel Lippenstift und Schminke durften wir keinesfalls auftragen. Schließlich würde uns Heiko sonst den ganzen Abend anbaggern. Sein Jagd-Motto hatte er schon bei der letzten Tour am Tresen verraten.

»Lieber widerlich als wieder nicht.«

Pünktlich um sieben Uhr rollte die silberne Limousine über unseren Kiesweg. Vivi zögerte noch, ob sie mitkommen sollte. Während sie früher keine Party ausgelassen hatte, war sie schon wieder sehr müde vom Tag im Garten und der Kälte und wollte eigentlich nur noch die Füße hochlegen.

»Ist besser für unsere CO2-Bilanz, wenn alle Plätze im Auto belegt sind«, lockte Heiko sie schließlich doch vom Kamin in seine S-Klasse mit Sitzheizung. In der Mittelkonsole hatte er alles vorbereitet und zauberte vier Dosen gut gekühltes Pils der Marke 5,0 aus dem Versteck.

»Nicht aus dem Fenster werfen, ist Pfand drauf«, erklärte er uns die Spielregeln für die Hinfahrt.

Wer zurückfahren sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch offen. Der Fahrer durfte immer entscheiden, was im Autoradio lief. Heiko hatte NDR1 Welle Nord eingestellt mit einem Mix aus Roxette, Bangles und Apache 207.

»Lass uns noch mal aufdrehen«, näselte Udo Lindenberg im Chor dazu, und alle im Auto sangen lautstark mit. Das Eis war mal wieder schnell gebrochen.

Die Nacht würde definitiv etwas kürzer als sonst, machte uns Heiko dann noch auf die Zeitumstellung aufmerksam, weshalb er eigentlich nicht so lange unterwegs sein wollte.

»Wie heißt die Sommerzeit im Norden?«, fragte er und schaute in den Rückspiegel.

Wir zuckten mit den Schultern und schauten uns ratlos an.

»Warmer Regen.«

Bei Corny in der Probierstube bestellten wir zur Stärkung alle einen Bauerntoast, den Vivi ohne Schinken nahm. Die erste Runde Korn und Pils gingen für Holgers Einsatz am Gewächshaus auf uns. Danach wurden die Schlachtpläne diskutiert. Unglücklicherweise war Holger nach dem dritten Korn voll auf Vivi fixiert. Sie war für ihn wie eine Dartscheibe, in deren Richtung er hoch konzentriert einen Pfeil nach dem anderen schoss.

Ohne ein schönes Steak vom Grill würden Rinder ganz schnell aussterben, suchte er Argumente für Nutztiere.

»Du holst dir vielleicht eine Katze, aber bestimmt keine Kuh ins Wohnzimmer, um deren Bestände zu sichern, wenn wirklich niemand mehr Fleisch isst«, schob er nach. Unser Wohnzimmer war ja tatsächlich ein umgebauter Kuhstall, für eine Kuh darin aber mit all dem Wohlfühlkrempel wirklich kein Platz. Ich konnte Holger, trotz aller Streitigkeiten über Massentierhaltung, Methangas und Überdüngung der Felder, verstehen. Im Nachbardorf standen die Rinder sogar im Winter auf der Weide und machten zumindest beim Spazierengehen einen glücklichen Eindruck, soweit ich die physische Verfasstheit von Kühen beurteilen kann.

»Aber muss man ihnen deshalb mit einer Kugel den Schädel zertrümmern?«, fragte Vivi die beiden Jäger provokant, die von der stressfreien Tötung auf der Weide schwärmten. Nur dann würde das Fleisch gut schmecken, weil man die Panik der Tiere auf dem Weg zum Schlachthof eben auch im Fleisch nachweisen könne, feuerte Holger ein Argument nach dem anderen ab. Er überlegte sich sogar, ob er mit Heiko nicht einen mobilen Schlachthaus-Service aufziehen sollte.

»Und überhaupt sind Weiden besser als Wälder«, setzte er seinen Schlusspunkt.

Ich war froh.

Beide Seiten hatten sich die letzten paar Minuten nur noch angeschrien, ohne sich wirklich zu verstehen. Ganz links am Tresen Vivi mit ihrer diffusen Sympathie für die Letzte Generation, rechts außen Heiko, der 1. Vorsitzende des Grillvereins Ostholstein.

»Lieber mal einen heben, statt sich festzukleben«, versuchte Holger in der Mitte zu vermitteln und bestellte bei Corny noch mal eine Runde für uns alle. Heiko bekam offensichtlich Bluthochdruck bei Vivis Menüvorschlägen für das geplante Angrillen bei uns auf dem Hof: Seitan-Steak und Grünkern-Frikadellen mit Portulak-Radieschen-Salat und Sesam-Tofu. Der kräftige Kerl bäumte sich am Tresen auf und sah mit seinen angespannten Nackenmuskeln plötzlich aus wie ein Stier, der auf ein rotes Tuch starrte. Vivi hatte gerade eine Spargel-Grillfackel als Alternative für ein T-Bone-Steak ins Spiel gebracht.

Es soll ja Länder geben wie Irland, führte Holger seine subtile Friedensmission fort, die wegen des Klimawandels tatsächlich künftig Kühe keulen wollen. Das ging sogar Vivi zu weit.

Sie bestellte auch noch eine Runde Korn und versprach, in ihrem ersten großen Vivi-Green-Video »Viehzeug« zum Thema zu machen. Nach ihrem Einsatz als Fitfluencerin plante sie nun, mit ihrem eigenen Kanal Karriere zu machen.

»Und denk auch an Ochsenmaulsalat mit Radieschen«, schlug Holger vor. Wer ein Tier schlachte, solle auch wirklich jedes Teil verwerten, so funktioniere die sogenannte »Nose to Tail«-Küche, deren Anhänger er offensichtlich war. Knochenmark gehöre genauso in die Rinderbrühe wie Leber in die Wurst. Zunge, Maul und Backe seien auch kein Müll.

»Wenn ich das Wort Nachhaltigkeit höre, muss ich schon kotzen«, meckerte Heiko über den Verlauf der Diskussion und schloss kategorisch aus, jemanden ernst nehmen zu können, »der noch nie einen Spaten in der Hand gehalten habe«. Aber Holger versuchte weiter zu vermitteln: Beispielsweise müsse man auch keine Schafwolle wegwerfen. Die macht sich im Beet nämlich gut als Wasserspeicher und Dünger, erklärte er uns und bot an, das Thema im übernächsten Video von »Vivi Green« näher zu erläutern.

»Ich hänge im Sommer gerne Schafwoll-Lametta in die Himbeeren«, mischte sich die bis dahin schweigende Brigitte aus der zweiten Reihe in unser Thekengespräch ein.

»Oder du stellst einfach Heiko in deine Rabatte. Sein strenger Geruch schreckt die Tiere bestimmt auch ab«, schlug Holger feixend vor und drehte sich dabei lachend zur Seite, um seinem Kumpel den Arm über die Schulter zu legen.

Heiko lag mit dem Gesicht auf dem Tresen und fand das gar nicht witzig.

»Was los, Dicker, noch ein Korn?«

Heiko schüttelte den Kopf und stützte sich auf seinem kräftigen Arm ab. Der Riese wirkte ehrlich erschüttert.

»Wisst ihr, was mir fehlt?«

»Vielleicht ein goldenes Tomahawk-Steak?«, stichelte Vivi erneut. Wir waren alle schon ziemlich besoffen und spürten vage, wie sich die aufgeheizte Stimmung in der Probierstube drehte. Der Korn taute die harten Männer auf.

»Eis!«

»Machst du noch mal fünf Fanta Korn auf Eis«, fragte Holger vorsichtig in Richtung Corny.

»Mir fehlt der Winter«, lallte Holger.

»Wie früher. Mit Schnee und Eis, vor dem ganzen Klima-Scheiß. Schlittenfahren am Bungsberg. Schlittschuhlaufen auf der Koppel.«

Das Wort »Schlittschuhlaufen« schien Heiko auf eine Idee gebracht zu haben. Er wählte »Time of my life« in der Jukebox, forderte Vivi zum Tanz auf und drehte sie durch die Probierstube wie Norbert Schramm sich bei den Olympischen Spielen im Eiskunstlaufen. Nach einer Reihe von spektakulären Pirouetten standen alle auf und feuerten die beiden an. Bis zum magischen Moment, dem Höhepunkt des Films. Heiko stand breitbeinig im Saal, schaute Vivi in die Augen und breitete die Arme aus, hob sie hoch über den Kopf und versuchte, die Hebefigur mit ihr nachzubauen.

In dem Moment knickte er etwas um, fing sich wieder, stolperte dabei allerdings über einen leeren Stuhl, stürzte und wurde unter Vivi begraben. Sie tasteten einander vorsichtig am ganzen Körper ab.

»Nix gebrochen?«, erkundigte sich Holger besorgt.

»Ochsenmaul und Ochsenschwanz, alles noch dran. Kein finaler Todesschuss!«

Selbst Heiko konnte nach der verunglückten Tanzeinlage wieder lachen und rief seiner Tanzpartnerin hinterher: »Du blöde Kuh!«