Kapitel 8

Bazillen im Bett

Am Lustholz ist es stockdunkel und mucksmäuschenstill. Ich versuchte, das Stoffkabel zu ertasten, das neben meinem Holzbett die Wand entlangführte. Klick, klack. Kein Erfolg. Manchmal half es, wenn ich an der Glühbirne in der Keramikfassung drehte. Heute nicht, es blieb dunkel. Unheimlich fand ich es aber nicht. Wir lebten eben auf einer Baustelle. Mit der Zeit sah es immer wohnlicher aus. Die Deckenbalken waren abgeschliffen und geölt, die Küche hatte rustikale Fronten mit Ledergriffen bekommen und auch das Bücherregal hing stabil an einem alten Tau und sah eigentlich ganz cool aus, trotz meiner ersten Bedenken, ob die Bretter nach einem Tag nicht wieder runterfallen würden wie beim Hochbeet. Apropos cool: Gerade morgens, wenn der Kamin noch nicht angezündet war, war es saukalt. Tagsüber lief ich in Daunenweste und dickem Wollpulli herum. Das Outfit fand ich erst spießig, inzwischen aber bequem, und ich setzte so ein Zeichen, dass ich bereit war, meinen CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Sagte Vivi. Auch die selbst gestrickten Socken von unserer Nachbarin Brigitte kamen mir anfangs zu öko-mäßig vor, aber sie hielten meine Füße genauso warm wie meine Mütze aus Schurwolle, die ich praktisch nicht mehr abnahm und sogar jetzt, mitten in der Nacht, auf dem Kopf hatte. Schließlich verliert man unheimlich viel Körperwärme über den Kopf. Sagte Brigitte. Ich verlor hier vor allem allmählich den Überblick. Als Nächstes ertastete ich immerhin den Bakelitschalter an einem Holzbalken, drehte ihn einmal, drehte ihn zweimal – aber es blieb dunkel im Schlafzimmer. Ein Blackout war bei uns nicht ungewöhnlich. Auch bei der Stromversorgung haben wir auf nachhaltige Versorgung umgestellt, weshalb wir für die Umbaumaßnahmen am Ende häufig auf die Kabeltrommel von Holger angewiesen waren und mit Atom- oder Kohleenergie unseren Stromausfall kompensierten, worauf uns Holger gerne hinwies, bis unsere eigene Solaranlage uns endlich unabhängig von unserem Nachbarn machen würde. Immerhin war die Stromversorgung so lange gratis, denn Holger hatte bei der letzten Straßensanierung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach einen Verteilerkasten illegal angezapft. Dadurch bezog er den Strom für seine Werkstatt gratis von der Gemeinde, weshalb er uns auch seine Akku-Werkzeuge immer vollgeladen überließ.


Vivi wollte auf Dauer auch keinen Atomstrom aus dem Ausland geschenkt bekommen und langfristig sei es günstiger und auch besser, hatte sie während der Arbeit in einem Handwerkerforum recherchiert, wenn wir auf dem Dach gebrauchte Solarmodule installierten.

Die hatten zwar nicht mehr die volle Leistung und waren genau deshalb aus Industrieanlagen oder Solarfeldern bereits ausgemustert worden, dafür aber auch deutlich günstiger bei eBayKleinanzeigen zu bekommen. Genauso lief es mit dem Batteriespeicher im Schuppen. Die Elemente waren ursprünglich für Luxus-Autos von Tesla oder BMW vorgesehen, hatten aber Lackfehler oder andere optische Mängel. Ein Landwirt aus der Region kaufte die Retourware auf und baute daraus Racks, die uns auch im Winter bei wenig Sonne oder nachts mit Strom versorgen sollten, im Sommer dann hoffentlich auch unser Elektroauto. So weit die Theorie. Ich hatte eine Fünf in Physik und kämpfte mit Kerzen und Taschenlampen, die wir für solche Notfälle immer zentral in unserer Wohnküche in der obersten Schublade deponiert hatten, gegen die praktische, real existierende Dunkelheit an.

Nebenbei versorgte ich Vivi mit einem großen Glas Wasser und einer Ibuprofen 400, die auch immer griffbereit neben den Streichhölzern lagen, damit unser Ausflug in die lokale Brennerei keine allzu dramatischen Folgen hatte.

Eine weitere tickende Zeitbombe war unsere Sickergrube im Garten. Kümmel hatte nach den Putzarbeiten noch eine ordentliche Sitzung auf unserer Gästetoilette drangehängt.

»Nich’ ma in Ruhe ’n Ei legen kann man hiä!«, zitierte er aus Werner – Volles Rooäää!!!. Einer seiner Lieblingsfilme, nach Werner – Beinhart! und Werner – Das muss kesseln!!!.

Offenbar lief bei uns das Abwasser nicht richtig ab. Kümmel holte noch mal den Kompressor aus seinem Transporter ins Bad und setzte darauf einen langen Gummischlauch, den er sich bei Holger in der Garage besorgt hatte. Wo auch sonst. Danach sprach er nur noch lispelnd wie Norddeutschlands berühmtester Installateur im Kino – Meister Röhrig.

»Keine Gummipröppel! Keine Chemikalien! Nur reine komprimierte Luft! Mein Beitrag zur Umwelthygiene und Abfallentsorgung.«

Eigentlich zum Heulen, wie lange wir uns schon mit dem Thema Umweltschutz beschäftigten. Der Film kam 1990 ins Kino.

Gut dreißig Jahre später starteten wir bei mittlerweile guter Elektro- und Abwasserinstallation normalerweise mit einer selbst gemachten Bowl oder einem »Local Smoothie« in den Tag. Für die Bowl fehlte uns heute schlicht der Joghurt – aber nicht, weil wir ihn beim letzten Einkauf im Supermarkt vergessen hätten. Die Lieferkette war etwas komplizierter, seitdem wir selber in die Produktion eingestiegen waren. Mal fehlte Lactobacillus bulgaricus aus dem Starterkit. Viel wichtiger aber war die richtige Milch, und die zu finden war bei veganen Produkten gar nicht so einfach. Damit unser Joghurt überhaupt cremig wurde und nicht nur eine weiße, bittere Flüssigkeit mit Bröckchen, war die richtige Zutat wie so oft entscheidend. Bis wir das herausgefunden hatten, mussten wir literweise Hafer- und Mandelmilch wegschütten. Inzwischen hatten wir die passenden Hersteller von Kokos- und Sojaprodukten gefunden, und unser selbst gemachter Joghurt war jetzt schön cremig. Zugegeben, wenn Vivi mich nicht beobachtete, kaufte ich auch gerne heimlich einen großen Topf griechischen Joghurt mit zehn Prozent Fett, löffelte ihn noch im Auto auf dem Parkplatz aus und schmiss den ganzen Plastiktopf samt Alufolie einfach so in die Mülltonne, wie ein Alkoholiker sein Leergut auch nicht im Altglas entsorgte. Danach fuhr ich dann ins Reformhaus und besorgte die Milch, während ich mit Chrissi telefonierte und wir gemeinsam die Vorzüge griechischer Molkereiprodukte priesen. Als ich versuchte, ihr das Konzept veganer Ernährung zu vermitteln, sah sie mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, auf dem Balkon in Harburg eine Kuh zu halten.

Zu Weihnachten hatten wir von Vivis Eltern einen Makita-Akkuschrauber, den sie stilecht in Schleifpapier eingepackt hatten, bekommen. Von mir gab es eine elektrische Joghurtmaschine, die von der Bedienung wesentlich komfortabler war als das ewige Aufgeschlage veganer Pampe, man brauchte nur eben Strom dafür. Wichtig waren, neben der veganen Ersatzmilch, auch die Joghurtkulturen, die man mit der Zeit immer wieder frisch aus dem Tütchen dazugeben musste, damit der Fermentierungsprozess richtig funktionierte und die Masse am Ende auch nach Joghurt schmeckte. Ich machte das sicherheitshalber bei jeder neuen Charge, weil mir die Zeitangabe »mit der Zeit«, die aus einem Rezept in einem einschlägigen Internetforum stammte, einfach zu vage war. Aber weiter am Frühstückstisch: Zunächst musste die Milch auf unserem mit Holz beheizten Ofen auf Körpertemperatur erwärmt werden, dann rührte ich mit einem Holzlöffel in der Keramikschüssel einen Becher Joghurt aus eigener Produktion darunter und fügte das Bakterien-Pulver hinzu. Anschließend wurde die flüssige, angerührte Masse unter Laborbedingungen in so gut wie keimfreie, recycelte Gläser gegossen, die wir nur noch mit Küchenpapier abdeckten und mit Gummis verschlossen. Dann wurde alles 15 Stunden lang bei gleicher Temperatur warmgehalten, damit sich die Joghurtkulturen vermehren konnten. Die Produktion war so kostbar und – nach diversen Fehlproduktionen – schließlich auch so köstlich, dass wir jedes einzelne Glas auskratzten und die benutzten Schalen ausleckten. Unser Versprechen: Niemals würde ein einziger Joghurt der Marke Lustholz im Kühlschrank verschimmeln oder weggeworfen werden, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum aus Nachlässigkeit übersehen wurde. Dafür steckte zu viel Energie in unserem selbst gemachten Lebensmittel.

Vivi musste mir aber auch versprechen, zur Fortpflanzung der Kulturen nie wieder die Bett-Methode anzuwenden. Bei dieser Variante kamen die mit selbst gemachter Joghurtmasse gefüllten Gläser auf ein Tablett, wurden in ein Handtuch eingewickelt und verschwanden samt Wärmflasche unter der Bettdecke. Weil darunter morgens noch ausreichend Restwärme schlummerte, war das Bett die perfekte Brutstätte für den Lactobacillus bulgaricus, wenn es nicht zwischendurch zu Erschütterungen kam, weil ich morgens immer die Bettdecken von der Matratze riss und sie dann ganz kräftig ausschüttelte, um das Daunenbett danach wie in einem Viersternehotel frisch aufgelockert mittig auf dem Bett zu platzieren. Als ich das zum letzten Mal machte, ahnte ich leider nichts von Vivis Bett-Methode. Ich schüttelte, es knallte, und am Ende des Tages der Joghurtproduktion, der interessanterweise ein Morgen war, lagen überall Scherben unterm Bett, und ich fragte mich, ob veganer Joghurt für Dielen wohl eher pflegend oder schädlich war. Bis heute wurde ich beim Einschlafen an den Fauxpas erinnert, wenn zwischen den Holzdielen die letzten Bacilli bulgarici aufstiegen und mich von einem 500-Gramm-Becher Sahnejoghurt griechischer Art träumen ließen. Aber jetzt fing ein neuer Tag an.