Bei Brigitte brannte schon Licht, was um die Uhrzeit auch nicht ungewöhnlich war. Sie ist Frühaufsteherin und klapperte kurz nach sechs bereits mit ihren Holzclogs über das Kopfsteinpflaster in den Hühnerstall, was ebenso wenig zu überhören war wie Hanno, der Hahn. Zum Glück war er meistens heiser und störte uns kaum. Dafür hatte er seinen Harem fest im Blick und wurde laut, wenn Fuchs, Habicht oder andere Raubtiere es auf die Hühner abgesehen hatten, was an keine feste Uhrzeit gebunden war. Nachts mussten die Hühner deshalb immer in den Stall. Wenn Brigitte mal unterwegs war, rief sie nervös an, ob die Holztür auch wirklich abgeschlossen sei. Auf dem Gelände Am Lustholz bewohnte sie ja die alte Schmiede. Das Haus aus roten Backsteinen und mit Sprossenfenstern war mit historischen Rosen, Reitgras und Buchsbäumen sehr schön eingewachsen.
Für eine Person war das Haus eigentlich etwas zu groß. Einen Großteil der Wohnfläche nutzte Brigitte deshalb im Winter dafür, um in den unbeheizten Räumen Zwiebeln zu lagern, Einweckgläser zu sortieren oder um Stecklinge zu vermehren. Überall standen Tontöpfe herum, entweder ganz und bepflanzt, oder in Scherben auf Zeitungspapier verteilt, daneben ein Haufen Erde, ein Löffel und eine Gartenschere. Auf den Fensterbänken standen bepflanzte Eierkartons neben einer verzinkten Gießkanne. Platz für einen Partner gäbe es eigentlich noch ausreichend, außer einer Katze lebte aber niemand im Haus. Ob das mal anders war? Ich traute mich nicht zu fragen. Brigitte war zwar freundlich, hilfsbereit und unterhaltsam, jedoch alles andere als redselig. Meistens drehten sich unsere Gespräche um ihre Kräuter, die sie in dieser Jahreszeit mit heißem Wasser aufbrühte und uns in einer antiken Teekanne servierte. Ihre frischen Kräuter schnippelte sie über Salate, das meiste Grünzeug verkaufte sie auf dem Wochenmarkt: von A wie Augentrostkraut bis Z wie Zimt. Sogar ihre Hühner profitierten davon, und so landeten Blätter und Stängel von Oregano, Ringelblume oder Brennnessel im Futter. Genauso selbstverständlich ernährten sich die Hühner auch von Schafgarbe und Löwenzahn, wenn sie im Frühjahr wieder genug Auslauf auf den Wiesen hatten. Ich bildete mir ein, dass man es den Eiern auch vom Geschmack her anmerkte, auch wenn sie eigentlich nicht in den »alles vegan, alles bio, alles selbst gemacht«-Plan passten. Aber bei Eiern hochzufriedener Hühner machte sogar Vivi eine Ausnahme. Überhaupt hing sie bei Brigittes Erzählungen an ihren Lippen und schwor auf deren Kamillentee, auf den sie heute allerdings aus aktuellem Anlass verzichtete. Lieber mixte sie sich einen Drink mit Magnesium und Vitaminen. Die Nacht war kalt und klar, und die frische Luft morgens um kurz nach acht war herrlich, was ein willkommener Kontrast zur verrauchten Probierstube war. Ich atmete tief ein und aus und schaute in den leuchtend roten Himmel, der wie gezeichnet aussah. Kein einziger Kondensstreifen von einem Flugzeug war zu sehen. Stattdessen bewegte sich ein V am Himmel, weil zu dieser Jahreszeit viele Wildgänse unterwegs waren, die sich in einer festgelegten Formation fortbewegen. Heute entdeckte ich ganz in der Nähe einen großen Raubvogel, der über dem Lustholz kreiste. Seine Flügel waren groß wie Bretter. Er segelte so tief über die Ziegeldächer unserer Häuser, dass ich vom Innenhof die Augen und den gelben Schnabel erkennen konnte.
»Ein Seeadler, nicht ungewöhnlich hier«, begrüßte mich Brigitte und stellte den Eimer mit Futter ab, um mit den Fingern noch auf ein paar Details im Federkleid hinzuweisen.
»Unser neuer Nachbar ist noch dunkel, also noch nicht so alt. Später bekommt er auch weiße Federn am Schwanz.«
»Und mag er deine Hühner?«, fragte ich neugierig.
»Er heißt ja Seeadler und mag Fisch, genau wie du.«
Brigitte erklärte mir, dass diese Tiere in Europa fast schon ausgestorben waren und seit ein paar Jahren in einem Schutzgebiet im Wald um die Ecke in Ruhe brüten durften, ziemlich erfolgreich sogar. Ruhe, genau das war es ja, was wir hier oben auch suchten.
Holger unterbrach sie mit seinem Akkuschrauber, den er mit durchgestrecktem Arm in Richtung Seeadler in die Luft hielt wie eine Pistole. Dreimal drückte er wie ein Schütze am Schießstand ab, der Elektromotor drehte dabei laut und schrill auf.
Den Vogel interessierte das Geräusch nicht, er verschwand am Horizont, wo ihn keiner störte. Brigitte erzählte noch, dass sich Seeadler für ihre Horste alte, massive Buchen aussuchten, weil ihre Holznester teilweise bis zu 600 Kilo schwer wurden. Wenn also ein Wintersturm über ihr Schutzgebiet am Bungsberg zog, war es nicht ungewöhnlich, dass ein Horst aus der Krone auf den Waldboden krachte.
»Seeadler unterscheiden sich eigentlich kaum vom Landadel oder von hochnäsigen Besuchern aus der Großstadt«, klärte mich Holger etwas herablassend auf. Wie im Landgasthof würden sie gerne Enten, Gänse oder auch mal einen Saibling verspeisen. Brigitte, die sonst selten Holgers Meinung war, pflichtete ihm bei und erzählte, dass der Förster nach einem Wildunfall auf der B202 schon mal ein totgefahrenes Reh auf die nächste Lichtung warf und sich die Seeadler über das Aas freuten.
»Kennst du den Unterschied zwischen einem Adler und einem Löwen?«, wollte Holger wissen. Ich zuckte mit den Schultern.
»Der Adler hat Montag Ruhetag, der Löwe am Mittwoch.«
Der schlechte Witz über die Gasthöfe der Region hätte um Mitternacht in der Probierstube vielleicht noch gezündet. Jetzt blieb alles ruhig. Holger holte als Jäger tatsächlich auch Wildvögel vom Himmel. In seinem Wohnzimmer hing beispielsweise ein ausgestopfter Fasan. Vivi nannte ihn häufig als Grund dafür, weshalb sie als Vegetarierin sich auf keinen Fall zu ihm aufs Sofa setzen würde. Während der Brutzeit waren Schüsse im Wald verboten, damit sich die Seeadler nicht erschreckten und ihre Eier allein zurückließen. Auch ein großes Schild am Waldrand hinter den Feldern erinnerte daran: »Brut und Setzzeit, Hunde an die Leine!« Plus Holger, hatte ein Unbekannter mit einem wasserfesten Filzstift ergänzt.
»Im Gegensatz zum Seeadler-Pärchen bist du noch auf der Suche nach dem richtigen Vogel, oder?«, versuchte ich auf Probierstuben-Niveau, etwas aus ihm herauszulocken, aber Holger wurde plötzlich ganz ernst. Schade. Ich hatte eigentlich gehofft, dass auch Brigitte auf die Frage ansprang.
Die Vögel seien fast vergiftet worden nach dem Krieg, erzählte er mit nachdenklicher Stirn. Das Pflanzenschutzmittel DDT sei damals so eine Art Allzweckwaffe in der Landwirtschaft gewesen. Sogar in Kinderzimmern sollte es Insekten vernichten, im Wald Borkenkäfer bekämpfen. Wissenschaftler wiesen die Rückstände des Gifts schließlich unter anderem in den Eiern der Seeadler nach. Entweder machte es die Schalen brüchig oder vergiftete die Embryos. Lärm und Gift waren ein tödlicher Mix für die Vögel. Aber jetzt beobachteten Ornithologen wieder eine Population Seeadler-Paare ganz bei uns in der Nähe, die sich fortpflanzten und deren Kinder sich in ganz Europa niederlassen würden.
»Ist doch mit dem Glyphosat das Gleiche, wird ewig diskutiert und so lange gespritzt, bis es zu spät ist«, schimpfte Brigitte. Auf die Agrarindustrie war sie – wie Holger – nicht gut zu sprechen. Zu viel Gift, zu wenig Liebe für Pflanzen und Tiere. Brigitte stellte das Prinzip auf den Kopf und verteilte deshalb Pferdemist und Kompost in ihrem Garten. Auch bei besonders hartnäckigen Schädlingen kam sie ohne Chemie aus und mixte stattdessen lieber eine Tinktur mit Oregano oder setzte ein Fass Brennnesselgülle auf. Alles sollte im Gleichgewicht bleiben. Dafür stand sie mit ihrem Garten und auch mit der kleinen Parzelle, die sie im letzten Jahr dazugepachtet hatte, um noch mehr Kohlrabi, Grünkohl, Kürbis, Auberginen und Zucchini anzubauen. Zwischen den Gemüsebeeten blühten im Sommer bunte Blumen wie Dahlien, Malven oder Strohblumen. Das Gemüse war vielleicht auf den ersten Blick nicht so perfekt wie die gewachsten und in Folie abgepackten Produkte im Supermarkt, schmeckte aber einfach viel besser. Selbst Monate nach der Ernte zauberte Brigitte noch eingelegte Tomaten, Zwiebeln oder Rote Bete aus ihren Weckgläsern, die ein ganz intensives, süßes Aroma hatten. Was sie selbst nicht verbrauchen oder verschenken konnte, nahm sie in schwarzen, grünen und gelben Plastikkisten mit auf den Markt, wo sie auch die Kräuter verkaufte. Die Nachfrage auf dem Wochenmarkt in Kiel wurde Jahr für Jahr größer, schon morgens um sieben bildete sich eine lange Schlange an ihrem übersichtlichen Stand. »Kräuterhexe« nannten sie die Kinder.
Der April war die letzte Chance, an neue Samen und somit alte, seltene Gemüsesorten zu kommen. Wir begleiteten Brigitte zur Samenbörse im Gemeindezentrum von Aukrug. Sie hatte ihren Kofferraum bereits beladen und den Wagen gestartet, der nach der sternenklaren Nacht noch eine dünne Eisschicht auf der Frontscheibe hatte. Der Motor ruckelte, es kamen dicke weiße Schwaden aus dem Auspuff. Die Heckklappe ihres weißen VW Jetta war noch genauso weit geöffnet wie die Tür zum Schuppen. Ich schaute in den verstaubten Raum, der zugestellt war mit Rechen, Hacken, Sägen und jeder Menge Kram. In der Mitte des Raumes waren mehrere alte Türen auf Holzböcken abgelegt wie Tischplatten. Darauf lagen unzählige Papiertüten neben getrockneten Kapseln, Bohnen und Zwiebeln. Ich nahm eine Tüte in die Hand und versuchte, die Schreibschrift zu entziffern. Heilpflanze Kornrade. Aussaat: März bis Ende Mai. Brigitte griff in ein Glas, nahm eine Handvoll Samen mit vor die Tür, um sie dann auf eine Wiese zu werfen.
»Müsst ihr für die Bienen auch in eurem Bauerngarten pflanzen.«
Die purpurfarbene Blüte der Kornrade soll mit ihrem Nektar angeblich ganz viele Hummeln anlocken. Die brauchten wir, damit auch unsere Pflanzen bestäubt würden, soweit ich Frau Weber im Biologieunterricht verstanden hatte.
»Wir bauen keine Insektenhotels, wir bauen ganze Ferienanlagen!«, rief Vivi euphorisch. Sie ließ keinen Zweifel an ihrem Plan, den Planeten zu retten, aufkommen und wollte sich auf der Samenbörse richtig eindecken.
Auch auf den anderen Tütchen standen viele witzige Namen: Kohlrabi »Superschmelz«, Wirsing »Winterfürst«, sogar Erbsen der Marke »Wunder von Kelvedon«. Zu jeder Sorte konnte Brigitte eine Geschichte erzählen. »Merkt euch vor allem die Termine für den Saatkalender«, gab sie uns als goldene Regel mit. Deshalb hätten viele Besucher der Saatbörse auch einen Schreibblock dabei und machten sich Notizen, bevor Tütchen, Briefumschläge, Joghurtbecher oder alte Marmeladengläser den Besitzer wechselten.
Die Hobbygärtner, die die Börse nutzten und belieferten, waren alle stolz auf ihre Gemüsesorten und hatten diese mit zahlreichen Bildern dokumentiert.
»Ich würde ›Rudi‹ immer einem ›French Breakfast‹ vorziehen«, klärte mich ein älterer Mann auf, der sich auf Radieschen spezialisiert hatte.
»Und was kann ›Rudi‹ für ein Kunststück«, wollte ich wissen.
»Schmeckt einfach gut.«
»Und wonach?«
»Ja, nach Radieschen eben.« »French Breakfast« sei wässriger, im Abgang fader, daher ja der Name.
Ich lernte so viel über die richtige Aussaattemperatur, den korrekten Pflanzabstand und die Saattiefe, dass es mir bald vorkam, als umkreiste meinen Kopf ein Bienenschwarm. Auch der Unterschied zwischen geschlechtlicher Vermehrung durch Samen im Gegensatz zu dem durch Absenker (das hatte irgendwas mit der Wurzel und Teilung zu tun) wurde mir an verschiedenen Tischen vertiefend erklärt. Lernen durch Wiederholung. Besonders gespannt war ich auf meine Tüte mit griechischem Strauch-Basilikum. Ob die Samen auch ohne Fön die richtige Aussaattemperatur bekämen und keimen würden?
Ich kam mir bei den ersten Gesprächen so verloren vor wie an meinem ersten Tag in der Holzabteilung im Baumarkt. Vivi tänzelte von Tisch zu Tisch, als würde sie schon seit Jahren zum Tauschen kommen. Sie drehte die Gläser im Licht und stellte nebenbei interessierte Fragen: Ob mexikanische Sonnenblumen eigentlich auf der Fensterbank vorgezogen werden müssten? Oder wann man die Blätter der Winterheckenzwiebel ernten könne. Wann finge die Aussaat im Freiland an? »Warte mal lieber bis zu den Eisheiligen und stelle so lange noch eine Kerze ins Gewächshaus. Ein Teelicht reicht manchmal schon bei Frost«, gab ihr ein Hobbygärtner als guten Rat zu einer Tüte Paprikasamen mit, den wir auch schon von Brigitte bekommen hatten.
Bei der Heimfahrt vom Samenfestival lief im Radio ein Beitrag über Gentechnik:
Deutsche hätten Angst vor der Genschere und wollten nix davon auf dem Teller.
Dabei könnte die Technik helfen, dass auch Pflanzen von Biobauern vor Schädlingen oder Extremwetter besser geschützt würden. Eigentlich seien eh alle Pflanzen, die wir zu uns nähmen, gentechnisch verändert, erklärte ein Wissenschaftler. Die Gegner fürchteten aber, dass neue Sorten alle gleich schmecken würden. Ich dachte sofort an Radieschen-Rudi und war gespannt, wie mein neuer Samen dieser alten Sorte aufgehen würde. Bei all den Teelichtern, die wir demnächst in Gewächshaus, Schuppen und Scheunen anzuzünden hatten, lohnte schon fast wieder ein Besuch in der Stadt. Also bei IKEA.