Es klopfte an der Haustür. Ein kräftiges, lautes Klopfen. Das konnte eigentlich nur Holger sein. Oder die Polizei. Wir hatten an unserer Holztür einen alten, massiven Klopfer aus Messing. Um überhaupt bis zur Tür zu gelangen, musste man ein Scheunentor öffnen, um in den Vorraum zu kommen. Früher konnte hier das Futter für die Tiere eingelagert werden – vom Heuwagen direkt unters Dach. Das ursprüngliche Bauernhaus war im Jahr 1876 erbaut und 1920 das erste Mal fotografiert worden. Zum Einzug hatten wir eine alte Dorfchronik geschenkt bekommen und so überhaupt einen Eindruck erhalten, wer hier früher wie gelebt hatte. Auf den Bildern in der Chronik stand vor unseren Schlafzimmern ein Tisch mit Decke auf einem Weg, der heute eher Beet ist. Eine Frau mit Kopftuch und weißer Schürze hielt ein Tablett in der Hand und bedient die Gäste. Aus dem offenen Fenster heraus wurden Getränke für die Dorfbewohner verkauft, genau wie im Kiosk meiner Eltern damals in Harburg. Kein Wunder, dass ich mich hier wohlfühlte. Auf dem Foto war auch zu erkennen, dass an der Hauswand Landarbeiter in ihrer schwarzen Arbeitskleidung und mit Hüten lehnten und sich unterhielten. Ein gemütlicher Treffpunkt nach der Arbeit? Daneben parkte eine Pferdekutsche vor dem Torbogen. Heute standen hinter dem großen Scheunentor unsere Kisten mit Mineralwasser, außerdem Gummistiefel und jede Menge gespaltenes Brennholz. Vivi hatte bei Brigitte im Schuppen eine alte, verrostete Milchkanne gefunden und sie als Blumenvase für getrocknete Kräuter und Äste verwendet.
»Einen Moment«, rief ich und sprang nach dem zweiten Klopfen in meinen Jumpsuit. Ich machte mir noch schnell einen Zopf und streckte meinen verschlafenen Kopf aus der Tür.
»Viertelstunde?«
»Okay«, willigte ich ein. Holger hatte mir einen Becher Kaffee vorbeigebracht und verschwand direkt wieder. Er kannte mich und meine Vorlieben mit der Zeit immer besser. Ich brauchte morgens meine Ruhe und saß gerne allein am Küchentisch bei meinem ersten Kaffee, mit etwas Milch, ohne Zucker – und ohne Holger. Ohne Feuer war es sehr kühl in unserer Wohnküche, ich trug eine Daunenweste über meinem grauen Wollpulli und meinem Jumpsuit und dazu noch eine Wollmütze. Bei fünf Grad Luft- und Wassertemperatur fand ich es ziemlich albern, mein buntes Badehandtuch überhaupt einzupacken, aber ich hatte es Holger versprochen, nachdem Vivis Ausfall in Sachen Eisbaden allzu offensichtlich geworden war (Rex!). Zumindest bis zum Knie wollte ich es probieren: das Eisbaden. Alles für eine bessere Gesundheit. Bei Vivi stand die Tür offen, ihr Bett war leer.
Holger saß bereits auf seinem alten moosgrünen Rixe-Damenrad und wartete auf mich. Die Chrom-Teile waren alle schön poliert, nur auf seiner Klingel war etwas Rost, weil irgendjemand das Rad bei einer Panne einfach auf den Kopf gestellt hatte, um den Platten zu flicken. Dabei war die alte Klingel dann zerkratzt worden, aber immerhin ein Original. Das war Holger enorm wichtig. Auch das Schutzblech hinten war seit der Werksauslieferung unverändert geblieben und deshalb perforiert. Früher war in den vielen Löchern ein Gumminetz befestigt gewesen, damit sich die Radfahrerinnen nicht mit ihrem Rock in den Speichen verhedderten. Holger liebte den schweren, robusten Stahlrahmen, der sehr gut verarbeitet war, und er behauptete, die alten Lager seien nach 50 Jahren erst richtig eingerollt und deshalb so schnell. Zum Beweis nahm er auf dem ersten Streckenabschnitt mit Gefälle die Füße von den Pedalen, senkte dabei den Kopf wie ein Rennfahrer bei der Tour de France und legte sich mit dem Damenrad ohne zu bremsen in die Kurve. Ich holte ihn erst an der übernächsten Kurve vor einer Steigung wieder ein, wo er seinen Fuß auf einer Sitzbank abgestellt hatte und mich glücklich anstrahlte wie ein Kind, das sein erstes Rennen gewonnen hatte.
»Hier riecht’s nach Kuhkacke«, beschwerte ich mich bei meinem Reiseleiter.
Holger kletterte über ein Gitter und zeigte mir einen Kuhfladen zwischen dem satten Gras.
»Riech mal«, forderte er mich auf und vertrieb die Mücken, deren Flügel in der Sonne glänzten, während sie sich von der Kuhscheiße nährten.
Ich rümpfte die Nase. Der Haufen war nicht mehr ganz frisch und roch tatsächlich etwas säuerlich nach Erde und Gras, viel weniger nach Kuhkacke, als mir meine noch immer müden Synapsen zunächst vermittelt hatten. Es war noch kalt, und die Wiesen waren in den schattigen Mulden mit Reif überzogen. Die Sonne hatte allerdings schon viel mehr Energie als noch vor einigen Wochen und wärmte unsere roten Gesichter etwas auf. Es fühlte sich gut an auf der Haut. Mit der nächsten Brise kam wieder der typische Geruch von frisch gedüngten Feldern zu uns rüber geweht. Holger erklärte mir, warum die Jauche aus dem Düngewagen so faulig roch, was ich an dieser Stelle aber unmöglich wiedergeben kann – vergessen.
»Wenn Kacke und Pisse sich mischen, ist das also gut für das Wachstum der Pflanzen«, fasste ich seinen landwirtschaftlichen Vortrag zusammen.
Im Prinzip gab er mir recht. Leider würde aber ein Großteil der Stickstoffe von den Feldern mit dem nächsten Regen in die Ostsee fließen. Auch dort sorgte die stinkende Brühe dann für viel Wachstum – und im Sommer für Algenblüte. Die Natur sah zwar auf den ersten Blick so friedlich und schön aus, das System war aber mindestens so kompliziert wie eine moderne Beziehung in Hamburg-Eimsbüttel. Jeder Eingriff in das Gleichgewicht konnte schlagartig alles verändern.
»Apropos Kacke, was hat deine Stuhlprobe eigentlich ergeben?«
Holger war ratlos und überlegte, was das jetzt schon wieder für eine komische Frage war.
»Der Kot und die Spuren im Wald auf dem Heimweg?«, half ich ein wenig nach.
»Wir haben Wölfe hier, deshalb die Haare«, sagte Holger nicht übermäßig beunruhigt und winkte einem Bekannten zu, der am Horizont mit einer Moto-Cross-Maschine über eine Weide fuhr. Er trieb viele Holstein-Kühe vor sich her, große, kräftige Tiere mit schwarzen Flecken auf weißem Fell. Der Bauer versuchte vergeblich, seine Herde von der Wiese in ein Gatter zu bewegen. Obwohl die Tiere sehr muskulös waren, humpelten viele über die Wiese, als hätten sie einen Hüftschaden. Vielleicht war es auch gar nicht so einfach, mit einem riesigen Euter zwischen den Beinen zu laufen. Ich kannte ähnliche Beschwerden über Rückenschmerzen, weshalb sich Freundinnen von mir ihre großen Brüste hatten verkleinern lassen. Das Letzte, was man da wollte, war ein Macker auf einem Motorrad, lenkte ich mich mit Gedanken an Kühe vom bösen Wolf ab.
Wir radelten weiter, und Holger erzählte, dass sich der Milchhof von seinem Bekannten kaum noch rechne, das Kraftfutter sei zu teuer geworden. Die 200 Kühe würden überwiegend im Stall stehen, und ihre Aufgabe sei es, jeden Tag über 25 Liter Milch zu produzieren, an guten Tagen auch das Doppelte. Aber Kühe produzieren eben nicht nur Milch, sondern auch Methan (davon fange ich hier lieber gar nicht erst an) und Gülle, Gülle wiederum im Grunde Algen. Verkleinern kann nicht nur bei Brüsten helfen, wieder in den Flow zu kommen. Wir hatten unseren Milchverbrauch deshalb schon reduziert. Ich mochte tatsächlich den etwas nussigen Geschmack von Hafermilch, die Vivi jetzt immer für uns kaufte. Umso besser, wenn das am Ende auch gut für die Ostsee war.
»Schau mal, die hier haben richtig Kraft«, sagte Holger und zeigte auf ein paar zottelige Kühe mit riesigen Hörnern. Die Galloway-Rinder würden – anders als die Milchkühe – das ganze Jahr draußen weiden und auf salzigen Böden grasen. Tatsächlich waren sie viel beweglicher, wenn sie sich mit ihren Hörnern duellierten und dabei auch mal in die Luft sprangen. Sie erinnerten mich an Feldhasen (frühkindliche Prägung, Sie erinnern sich bestimmt noch an Hoppel, das Kaninchen meiner Jugend), wenn sie sich mit den Hinterbeinen abdrückten, dabei brachten sie bestimmt über 500 Kilo auf die Waage.
»Wer ihr Fleisch isst, der ist auch Klimaaktivist.«
So langsam wurde es komplizierter als eine Beziehung in einer Altbau-WG.
Ich dachte immer, Rindfleisch sei schlecht in der Klimabilanz. Und das nicht nur wegen der Blähungen und den Methangasen, die dabei freigesetzt werden (davon wollte ich doch eigentlich gar nicht anfangen). Holger widersprach mir. Hühnerfleisch und Schweine aus dem Stall seien das große Übel. Weideflächen seien dagegen wichtige CO2-Speicher. Eigentlich dürften deshalb auch nur Tiere von der Weide auf den Tisch, erklärte er mir. Rinderbraten oder Lammkeule beispielsweise. Vivi hatte mir das neulich bei einer Portion Kichererbsen ohne Fleischbeilage noch ganz anders erklärt. Holger aber setzte wieder auf das Zusammenspiel der Natur. Die Hälfte unserer Tiere und Pflanzen sind abhängig von den Blüten auf den Weiden, dozierte er auf dem Rad. Also am Ende auch: angewiesen auf den Kuhfladen.
Warum bauen wir also Mais an, fragte er mich, wenn die Körner im Futter landen und das Grünzeug für Biogas verheizt werde: »Was ist daran bio?«
Plötzlich nahm ich jede Blüte auf den Wiesen und Feldern viel intensiver wahr: Winterling, Huflattich, Löwenzahn oder Hahnenfuß. Früher waren das für mich nur »gelbe Blumen«, heute erkannte ich sie an ihren Blättern und freute mich auch über jedes Unkraut, was wieder anfing, neben den Wegen zu blühen. Ich hätte noch ein ganzes Stück weiterfahren können, aber Holger stellte sein Rad direkt an einem bunten Holzhaus ab. In einer Lichtung am Ende des Waldweges war ein kleines Badeparadies mit großer Wiese und Sandstrand versteckt. Die Bucht war größtenteils mit Schilf zugewachsen, am Ufer standen alte Buchen und Eichen, die die Badegäste vor Wind und Sonne schützten. So früh am Tag (und ehrlich gesagt wahrscheinlich auch: so früh im Jahr) war noch kein Mensch außer uns zu sehen. Ich lief das Gelände ab und fand Holger wieder, wie er sich mit einer Hand an einer Holzwand abstützte und dabei auf einem Bein stehend seine Unterhose auszog. Für einen kurzen Moment war er splitternackt, drehte sich aber sofort um und verschwand im Eiswürfelwasser. Er drückte sich kräftig wie ein Galloway-Rind von den Holzbohlen ab. Es spritzte zwar kaum, trotzdem scheuchte er vier, fünf Blesshühner auf, die sich im Schilf zurückgezogen hatten.
Das Schwimmen tat ihm sichtlich gut. Sein Rücken war kräftig und sah aus wie ein V. Auf seinen Schulterblättern war eine große Narbe, die in ein Tattoo auf dem Schulterblatt überging. Die Bedeutung war aus der Ferne nicht zu erkennen.
»Sorry, aber ich gehe nicht mal im Hochsommer kalt duschen«, wimmelte ich ihn ab, als er mir mit einer Herrlich-hier-drinnen-Geste bedeutete, ihm ins Wasser zu folgen.
Holger zuckte mit den Schultern und machte eine Art Kopfsprung. Weg war er.
Ich wartete zwanzig Sekunden ab. Nix passierte.
»Ab wie viel Grad treiben Wasserleichen eigentlich wieder an die Oberfläche?«, fragte ich mich leicht besorgt. In dem Moment tauchte Holger mit einem Urschrei auf und kreiste wild mit seinen Armen. Danach drehte er sich auf den Rücken und strampelte mit der Energie eines Mississippi-Dampfers zurück zur Leiter und zog sich aus dem eiskalten Wasser.
Laut schnaufend trocknete er sich ab und tanzte dabei von einem auf das andere Bein. Seine Haut war gerötet, das Wasser in seinen Haaren tropfte auf das Holz.
Ich bot ihm mein buntes Badehandtuch an und vertröstete ihn, im Sommer an meiner Kopfsprungtechnik zu arbeiten. Ich musste mich erst langsam an den Norden gewöhnen. Heute kostete es mich schon viel Überwindung, meine Finger überhaupt in das Wasser zu halten.
Holger rubbelte sich die Haare trocken, atmete in das Handtuch und schaute mich auch weiterhin auffordernd an. Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich ihm gegeben hatte; zog ganz langsam meine Socken aus und krempelte die Jeans hoch. Was für eine Kackidee, dachte ich mir, als ich über die eiskalte Wiese zum Sandstrand lief.
»Mehr packe ich nicht«, gab ich mich nach zehn Sekunden Fußbad geschlagen wie eine Zimperliese.
Holger schaute mich mit ernstem Blick an und fragte besorgt, ob alles gut sei. Ich bejahte diese Frage und fragte, wieso.
»Weil du blau bist! Jeansblau. So was habe ich noch nie gesehen.«
»Eisbaden mag ja für dich gesund sein. Für mich ist es offensichtlich kurz vor tödlich«, antwortete ich frostig.
Auf dem Rückweg ging mir allmählich die Puste aus. Mein Körper kam langsam an seine Grenzen: Erst die Kneippkur am See, jetzt auch noch bergauf. Statt zu reden, konzentrierte ich mich auf die Atmung. Wir waren fast angekommen, als Holger plötzlich sein Rad ein paar Meter vor mir in einen Graben legte und schnell die Wiese herunterlief. Als er wiederkam, hatte er ein totes Schaf auf seinem Rücken. Das weiße Fell war blutüberströmt, Holger sah ein wenig aus wie in einem schlechten Horrorfilm und erklärte mir außer Atem, dass heute schon Schlachttag sei.
Anders als geplant, denn Holgers Lämmer sollten ja eigentlich noch einen Sommer vor sich haben. Die Natur war wegen des bösen Wolfes aus dem Gleichgewicht geraten.