Kapitel 17

Muckefuck im Bienenhotel

Ein Jahr später war schon wieder vieles anders am Lustholz: Zweihundertfünfzig Gramm Butter kosteten inzwischen zwei Euro fünfzig, ein Kilo Zucker ein Euro fünfundsiebzig, und eine Kugel Erdbeer-Minze in meiner Lieblingseisdiele zwei Euro vierzig. Die örtlichen Zugvögel waren zurückgekehrt, und auch sonst hatte sich in Sachen Bevölkerungsstruktur einiges getan: Ich lebte wieder in der Großstadt und holte mir morgens völlig übermüdet in einem französischen Straßencafé ein Buttercroissant und einen Cappuccino. Der Verkäufer flirtete mit mir, was mir schmeichelte. Ich schätze, er war halb so alt wie ich, volle Lippen, wirkte griechisch. Ich stellte mir vor, wie er bei seinen Großeltern aufgewachsen war und dort Französisch gelernt hatte.

»Have a nice day!«

»Danke schön!«

Ich drehte mich um und drückte die Ladentür vorsichtig mit meinen Sneakern auf, weil ich keine Hand mehr frei hatte. In meiner Linken hielt ich die Papiertüte mit dem warmen Hörnchen und mein Handy fest, in meiner Rechten den Autoschlüssel und den viel zu heißen Kaffee in meinem Metallbecher. Bis zum ersten Schluck musste ich noch ein paar Minuten warten.

»Wichser!«

»Halt die Fresse!«

Radfahrer und Paketbote, natürliche Feinde im Großstadtdschungel, begegneten sich weit weniger romantisch als die Bäckerei-Fachkraft und ich. Jetzt war ich wach und versuchte vorsichtig, meinen alten Wagen auszuparken, ohne dabei einen weiteren Straßenkampf auszulösen. Langsam tuckerte ich durch die Stadt in Richtung A 1, die vertraute Strecke zu meiner Lebensabschnitts-Mitbewohnerin. Ich war am Abend zur Eröffnung im Kornhaus eingeladen.

Den Weg in der Holsteinischen Schweiz hätte ich auch im Schlaf gefunden, doch unterwegs traf ich ein paar alte Bekannte. Ein Turmfalke im Rüttelflug stand über einer gemähten Wiese in der Luft und beobachtete seine Beute. Zwei kleine Rehe streiften seelenruhig durch ein Kornfeld, schauten zu, wie ich mit meinem Mercedes vorbeirollte, und überlegten kurz, ob sie weglaufen sollten. Als ein verstaubter Traktor mit dreckigem Anhänger auf die Straße bog, dabei jede Menge Erde verlor und nicht überholt werden konnte, versuchte ich, mich an die Lektion in Sachen Entschleunigung zu erinnern, die ich vor einem Jahr gelernt hatte. Meine geplante Ankunft verzögerte sich um zehn Minuten.

Vivi hatte frischen Rhabarberkuchen gebacken. Die Zutaten kamen selbstverständlich aus ihrem Garten. Als »Topping« hatte sie mir zu Ehren Zitronen-Thymian für den Belag gepflückt, die frischen Eier kamen aus Brigittes Hühnerstall. Außerdem hatte mein Nachmieter Rex erfolgreich mit kaltgepresstem Rapsöl experimentiert. Die Säure des Rhabarbers harmonierte perfekt mit der Süße. Leicht karamellisiert, allerdings nicht aus herkömmlichem Industriezucker. Alles andere hätte mich auch schwer verwundert. Die kleine Kommune zog ihren Plan durch und versorgte auch mich mit einer Art persönlicher Bio-Kiste ganz hervorragend.

»Kaffee?«, fragte mich Vivi, während sie über das ganze Gesicht grinste.

»Auch aus dem Garten?«, wollte ich wissen, bevor ich einen Schluck aus der Tasse nahm.

»So ähnlich.«

»Nebenwirkungen?«

»Keine. Probier mal!«

»Mmmh.« Ich machte eine Pause.

Der Geschmack erinnerte mich an den Instantkaffee bei meiner Tante in Griechenland. Das reife Obst und der zuckrige Kuchen verstärkten die Sommerterrassen-Erinnerungen, die in mir aufstiegen, noch.

»Das ist mein selbst gemachter Muckefuck«, half mir Vivi auf die Sprünge.

»What the … ?«

Ich hätte den Kaffee vor Lachen fast ausgespuckt, als Vivi mir erklärte, was es mit ihrer Wildkräutermischung auf sich hatte:

Der Blümchenkaffee war früher immer dann beliebt, wenn Zölle oder Kriege die Kaffeepreise explodieren ließen. Stattdessen sammelten die Normalsterblichen dann mehr oder weniger alles, was links und rechts am Wegesrand lag, stand, wuchs, wie zum Beispiel Gerste oder Malz, Eicheln oder Bucheckern. Geröstet, gemahlen und aufgebraut entstand daraus ein ziemlich bitteres Gesöff. Besonders gut eignete sich die Wurzel der Zichorie, der gemeinen Wegwarte. Das war auch die Zutat für den Homebrew-Coffee, der gerade in meiner Tasse schwappte. Das Video, in dem Vivi die Herstellung beschreibt und vorführt, ist das bis heute meistgeklickte in ihrem YouTube-Kanal.

Vielleicht war das auch der Grund, warum sie so strahlte. Am Geschmack dieser Brühe lag es definitiv nicht. Mir fehlte vor allem der Energieschub, der sonst mit Kaffee! einhergeht, und Vivi schlug daher vor, eine Runde Richtung Wald zu gehen:

»Mit Hund – nicht dein Ernst, oder?«, wunderte ich mich. Normalerweise wäre sie ja nicht mal alleine in den Wald gegangen. Sollte das Tier die gefährlichen Zecken von ihr fernhalten?

»Einen Hund wollte ich doch schon als Kind haben.«

»Na gut, du nimmst aber die Kacki-Tüten mit.«

»Komm, Rocky!«

Rex und Vivi passten offenbar gut zusammen und beide gut aufs Land: Er hatte sich hier großartig eingelebt, »war schon mit den anderen Jungs im Kornhaus«, wo sie eine Anlage für die Livemusik aufbauten. Neben Vivis Studio, ihrem allerersten Projekt und daher für uns beide etwas Besonderes, hatten er und »die Jungs« sich nebenan im alten Schweinestall einen Proberaum eingerichtet und über den zurückliegenden Winter offenbar ein kleines Set geprobt. Ich ahnte schon, dass die Besetzung der Dorfkapelle eine der vielen Überraschungen für mich werden würde. Vivi wollte mir heute drei Dinge zeigen, von denen sie mir am Telefon nichts erzählt hatte: »Lieber persönlich!«

Der Hund war offenbar gut erzogen. Wir gingen, wie ich früher, über den Feldweg Richtung Wald, Rocky war allein unterwegs und steckte seine Schnauze in sämtliche Erdlöcher, schnappte nach Fliegen und schlabberte nach jedem längeren Sprint Wasser aus den Pfützen oder einem der vielen Bachläufe zwischen den Feldern. Vivi hielt unterdessen Ausschau nach den ersten strahlend blauen Blüten der Wegwarte, um die Wurzel im Herbst zu ernten. Wollte sie wirklich mit dieser Ersatzkaffeebrühe weitermachen? Dann käme ich in Zukunft mit Thermoskanne und eigenem Espresso zu Besuch. Ich schaute über die verblühten Rapsfelder und suchte das Meer, das am Horizont immer wieder für einen Augenblick zwischen den Bäumen zu sehen war.

Kurz vor dem Wald wartete Rocky auf uns.

»Hörst du es schon brummen?«

»Nein. Steht hier etwa ein Kühlschrank?«

»Das wäre nicht schlecht«, sagte Vivi und nahm mich an die Hand.

»Ich zeige dir jetzt mal ein paar Fluglöcher.«

Am Ende der Lichtung sah ich mehrere bunte Holzkisten stehen, und je näher wir den Boxen kamen, umso lauter wurde tatsächlich das Summen. Vivi hatte mich direkt zum Versteck eines Imkers geführt und wirkte dabei völlig unerschrocken. Vor zwei Jahren wäre sie noch durchgedreht, wenn sich eine Wespe ihrem Prosecco Spritz genähert hätte. Jetzt steckte sie ihre Nase quasi in das Flugloch. Das ist so etwas wie eine Einflugschneise, wie sie mir deeskalierend zurief. Ohne Imkerhut und Anzug öffnete Vivi den Deckel und fuhr mit der Hand durch den Bienenstock wie durch einen Aktenschrank. Dabei zog sie immer wieder einen der Rahmen hoch, prüfte die Honigwaben mit dem kritischen Blick einer … Steuerberaterin und klappte alles zu. Ich war schwer beeindruckt, wie cool sie mit dem Bienenvolk umgegangen war.

»Der Königin geht es gut«, versicherte sie mir.

»Dir oder der Bienenkönigin?«

»Uns allen.«

Vivi war tatsächlich in die Honigproduktion eingestiegen und berichtete mir ganz stolz, wo genau sie ihre verschiedenen Bienenstöcke aufgestellt hatte, damit sie einen »gesunden« Honig erzeugen konnte. Die Gläser verkaufte sie unter dem Namen »Vivibee«, ihre im Grunde selbst gezimmerten Bienenhotels waren der Renner. Sie überlegte, demnächst auch Seminare anzubieten: Imkern für Anfänger.

Ich fragte neugierig nach, warum weder Rocky noch Vivi vom Bienenvolk angegriffen worden waren.

»Die Bienen spüren das«, erklärte sie, als sie mir plötzlich eine Biene auf die Nase setzte.

»Ganz ruhig, nur atmen«, flüsterte Vivi nachdrücklich und blieb ungerührt stehen.

Ich wurde panisch, schielte zur Biene runter, hielt es nicht mehr aus und sprang wie Rumpelstilzchen in hektischen Bewegungen von einem auf das andere Bein.

»Aua!!!!!« Natürlich wurde ich gestochen und meine Nase innerhalb weniger Sekunden noch etwas größer.

Vivi zog den Stachel im Rahmen einer Sofortmaßnahme aus der Nase, gab mir zu Hause gleich Eiswürfel und später auch noch eine Zwiebel.

Für einen Essigwickel hatten wir keine Zeit. Ich hatte noch versprochen, zur Einweihung etwas Selbstgebackenes mitzubringen. Jetzt kam ich also mit Bienenstich und Apfelkuchen zum Kornhaus und hätte ihn an der Türschwelle fast fallen gelassen. Im umgebauten Gasthof war es um 18 Uhr schon richtig voll. Heiko empfing mich überschwänglich, redete sehr laut und langsam auf mich ein und stellte mir seinen Kumpel vor. Der hatte offenbar keinen Namen, dafür eine Handynummer, die er auf einen Bierdeckel geschrieben hatte und mir in die Hosentasche steckte. In dem Moment befreite mich Roman aus der unangenehmen Situation, legte seine Arme auf meine und Heikos Schultern und schleppte uns an die Bar.

»Lasst mal kornern!«

Corny aus der Probierstube hatte offenbar den Arbeitgeber gewechselt, zumindest für den sensationellen Eröffnungsabend. Der Gastraum war sehr stilvoll, eine Mischung aus einer spießigen Gaststube der 70er-Jahre, die durch etwas Shabby-Look, große Spiegel und bunte Poster auch genauso gut in Berlin-Kreuzberg hätte eröffnet werden können. Oder auf dem Kiez. Die Gäste kannten sich, es ging zu wie auf einem 50. Geburtstag, und man erzählte sich lustige Anekdoten, deren Heldinnen häufig Vivi, manchmal andere und ganz selten auch ich waren.

Heiko erinnerte sich mit glänzenden Augen an ihren Sturz bei der Hebefigur. Auch Corny hatte keine Erinnerungslücken, stellte uns ungefragt einen Korn hin und kümmerte sich sofort um die nächsten Gäste, ohne lange sentimental zu werden.

»Unser Korn ist sogar bei Harry’s Getränkemarkt und Rewe in Lütjenburg gelistet.«

Roman war sehr stolz auf den ersten Jahrgang und verschwand mit seinem Glas im Hinterzimmer.

Ich studierte die Karte und fand auf der Rückseite tatsächlich auch 2 cl Ouzo für drei Euro.

Bei meinem Lieblingsgetränk war allerdings mit Kugelschreiber ergänzt: »Ouzo ab 2024 wieder da. Wegen Ernteausfall.«

Einschränkungen gab es auch auf der Speisekarte.

»Wild nach Lust und Wolf«

»Mangold mal so, mal so«

»Achtung, Spießer nur im Frühjahr!«

Am Ende stand der freundliche Hinweis, sich doch bei der Bedienung nach der Tagesform zu erkundigen. Irgendwie gefiel mir die Einstellung. In der Ecke stand zur Abschreckung tatsächlich eine »Heiße Hexe« zur Erinnerung an die Zeit, als Convenience-Food eben noch aus der Mikrowelle kam, sich die frische Küche von Brigitte noch nicht durchgesetzt hatte und ich sehr viel Zeit in einem charmanten Kiosk in Hamburg-Harburg verbrachte. Wie hätte ich damals wohl reagiert, hätte einer der örtlichen Trinker nach meiner Tagesform gefragt?

»Wusstest du, dass es auch betrunkene Bienen gibt?«, fragte mich eine tiefe Stimme, die ich sofort erkannte. Holger füllte mit seinen breiten Schultern den ganzen Raum aus, war wie immer gut gebräunt und hatte dafür, dass er ja eigentlich trocken ist, schon ganz schön tief ins Glas geblickt. Er war offenbar so etwas wie ein Flexitarier. Montag bis Sonntag viel Obst und Gemüse und dazwischen auch ein paar Cheat-Days, also Schummeltage, mit Burger oder Würstchen, Bier oder Korn. Heute gönnte er sich zur Feier des Tages einen »Bee’s Knees«. Ein Gin Sour auf Honig-Basis, der auch aus den Zutaten von unserem Hof stammte. Wenn Bienen zu viel vergorenes Obst naschen, dann müssen sie auch erst mal ausnüchtern, bevor sie wieder weiterfliegen können, erklärte er mir das Naturspektakel.

»Ladies and Gentleman, wir sind Vollkorn. 1,2,3,4 …«

Romans Ansage lockte alle Gäste ins Hinterzimmer. Vollkorn hatte zur Premiere ein kleines Podest aufgebaut. Kümmel saß am Schlagzeug und hämmerte auf Becken und Snare. Rex war Leadgitarrist und konzentrierte sich sehr verbissen, damit er die Akkorde einigermaßen traf. Brigitte versuchte sich als Backgroundsängerin, während sie ihren Schellenkranz zum Takt von Kümmel schüttelte. Holger spielte Bass und benahm sich dabei wie Duff McKagan auf Welttournee, der einen kurzen Zwischenstopp bei seinen Freunden zur Jamsession in Ostholstein einlegte und den Auftritt nicht so ernst nahm. Das Niveau der Musiker lag irgendwo zwischen Feuerwehrfest und Top-40-Coverband auf einer Hochzeit: Rolling Stones, The Smiths, »Rex« Gildo. Das Repertoire von Vollkorn passte perfekt zum Ambiente. Das zehnte Lied des Abends war eine Mitgröl-Nummer von Coldplay. »Viva La Vida«. Lebe das Leben! Alle standen jetzt auf den Stühlen, auf dem Tresen oder lagen auf den Knien und feierten die Band wie einen Reverend beim Gottesdienst in den Südstaaten. Holger bückte sich etwas beim Refrain, um das Mikrofon von Kümmel am Schlagzeug zu treffen. Dabei rutschte er auf einem Teppich aus und lag plötzlich auf dem Rücken wie ein Maikäfer. Rex war inzwischen komplett erschöpft und feierte sein Comeback als Musiker nach dreißig Jahren mit einem frisch gezapften Bier von Corny. Aus der Livemusik entwickelte sich eine Karaoke-Party, und es war viel zu laut für eine Unterhaltung. Ich ging kurz vor die Tür, wo Vivi ganz allein auf einer Bank saß und auf den Boden schaute. Ich setzte mich zu ihr und fragte, ob ihr schon wieder schwindelig sei. Sie fasste sich an den Bauch und antwortete:

»Ja, seit vier Monaten.«

Ich war sehr gerührt. Vivi würde ein echtes Landei zur Welt bringen.


 

Nachbemerkung:

Natürlich fragten sich (und mich) an diesem Abend alle, wann ich wieder zurück an die Ostsee ziehe. Aber ganz ehrlich: Landleben ist kein Leben für mich. Und ich mag auch Chrissi nicht so lange allein lassen. Zwar sprach Vivi gleich davon, dass wir – neben FaceTime – eine App nutzen könnten, mit der ich mich auch dann mit meiner Mutter unterhalten kann, wenn sie gar nicht da ist. Man muss dafür lediglich vorher längere Gespräche aufnehmen und damit die künstliche Intelligenz trainieren, die dann die Unterhaltung fortsetzt. So entstehen neue Dialoge, die den Witz und Wahnsinn kopieren. Ich will das nicht. Jenseits dessen glaube ich auch nicht, dass eine KI Chrissis Raps von »Rote-Rosen«-Handlungen, Familiengeschichten und Feedback zu meiner Arbeit (»Rosa war gut!«) glaubhaft nachstellen kann. Und: Ich bin einfach ein Kind der Stadt.