10

Brauchst du etwas aus dem Dorf, Ru?«, fragte die Frau Lan. »Wenn ich schon mal hingehe.«

Ru überlegte. »Nicht aus dem Dorf. Aber du könntest nach den Ziegen sehen, dann muss ich das später nicht mehr tun.«

»Wird erledigt.« Lan rückte ihr Kopftuch zurecht und ging hinaus. Sie holte tief Luft, was nach dem rauchigen, talgigen Dunst des Hauses sehr erfrischend war, an den sie sich einfach nicht gewöhnen konnte. Körperliche Abgeschlagenheit. Hunger. Juckende Haut, juckendes Haar, juckende Kleidung. Sie hatte den schrecklichen Verdacht, dass sie voller Läuse war.

»Wenn dir das Junge Ärger macht, gib ihm einen Klaps auf die Nase und sag laut ›Nein‹«, rief Ru ihr hinterher. Lan gab ein Ja zurück. Ihre Hände waren rau und voller Schwielen, die Nägel abgebrochen, die Knöchel rot und aufgescheuert. Gib ihm einen Klaps auf die Nase. Sie ging schnellen Schrittes den Weg zum Dorf entlang, der über die Klippen oberhalb von Telornaquell führte.

Ein Bett am Feuer, drei Mahlzeiten am Tag und ein sauberes Kleid. Das bekam sie von Ru für ihre Arbeit. Sie kümmerte sich um die Ziegen, machte Botengänge ins Dorf, kehrte zu Ru ans Feuer zurück und kochte ihnen das Abendessen. Manchmal überlegte sie, nach Morrstadt zu gehen. Aber sie tat es nie.

Am ersten Tag war Lan auf zitternden Beinen den Strand hinauf und über das Sumpfland von Seneth gelaufen, immer in Richtung des Rauchs aus einem Dorf, in dem sie hoffte, den Weg nach Morrstadt beschrieben zu bekommen. Die Dorfbewohner hatten sie recht freundlich behandelt, ihr die Richtung gewiesen, wenngleich nicht nach Morrstadt, sondern zu einer Stadt namens Ath westlich die Küste entlang, von wo die Straße weiter nach Morrstadt und zum Sitz des Königs führte. Sie kannte den Namen, glaubte sie. Und der Weg war zunächst recht einfach gewesen, ein Marsch über eine gut befestigte Straße, gesäumt von Buchen mit trockenen feuerroten Blättern und angenehm knirschender Buchenmast unter den Füßen. Am zweiten Tag hatte sie am ganzen Leib gezittert, ihr Verstand hatte getobt, und sie hatte nicht weitergehen können, weil sie überall brennende Feuer sah. Sie war von der Straße fort in die Wildnis getaumelt und auf ein heruntergekommenes Haus gestoßen sowie eine alte, kränkliche Frau, die Ru genannt wurde.

»Hat das Junge dich geärgert?«, fragte Ru.

»Ja. Aber ich habe ihm einen Klaps auf die Nase gegeben, wie du vorgeschlagen hast.«

»Wir schlachten es als Nächstes. Wenn es sein muss. Das ist ein schwieriges Tier.«

Lan trug das Essen auf, und sie setzten sich schweigend an den Tisch.

Als sie fertig waren, meinte Ru: »Ich bringe dir das Spinnen bei, wenn du möchtest. Falls du hierbleibst.«

»Ich kann nicht bleiben«, erwiderte Lan.

»Mein Mann ist gestorben«, sagte Ru. Lan musterte sie verwirrt. »Vor langer Zeit. Jahren. Vielen Jahren. Er war noch jung. So wie ich. Er starb bei einer Schlägerei in einer Taverne, der Wirt sagte, Strolche hätten ihn angegriffen, aber … Er starb, und ich blieb hier und lernte all das, was ich lernen musste, tat, was ich tun musste, arbeitete hart. Das ist kein bemerkenswertes Leben. Doch er hatte meine Haut irgendwo versteckt, musst du wissen, und ich habe sie nie gefunden. Daher musste ich bleiben. Ich lehre dich das Spinnen, das Kochen und das Arbeiten, wenn du möchtest. Falls du bleibst.«

Diese dünne, müde alte Frau, krumm von der vielen Arbeit. Sie war eine Selkie. Eine Maid aus dem Meer. Ein göttliches Wesen. Sie schwamm als Robbe im Meer, warf ihre Robbenhaut ab, um als Frau an Land zu tanzen, bis ein Mann ihr die Haut raubte. Und solange der Mann die Haut besaß, musste sie bei ihm bleiben. Ihn heiraten.

»Für irgendjemanden ist die Welt immer zerbrochen, Lan«, fuhr Ru fort. »Ich habe nur nicht aufgegeben. Sehne mich noch immer danach, ins Meer zurückkehren zu können. Träume davon. Aber es war vor langer Zeit. Vor so vielen Jahren.«

Sie starrten ihre leeren Teller an. »Mein Bruder wurde ermordet«, sagte Lan, »und ich konnte die Trauer nicht ertragen. Daher ging ich weit weg, um zu vergessen. Und als ich in der Ferne weilte, trat ich aus der Tür eines Ladens und blickte dem Mörder meines Bruders ins Gesicht. Und ich zerrte den Mörder meines Bruders den ganzen Weg bis hierher, um ihn zu bestrafen. Doch dann mussten alle, die mir am Herzen lagen, deswegen sterben. Wäre ich doch nur nie durch diese Tür gegangen. Hätte ich sein Gesicht doch bloß nie gesehen.«

»Wäre«, murmelte Ru. »Hätte.«

»Ich könnte für dich im Haus danach suchen. Nach deiner Haut.«

»Ich habe danach gesucht. Denkst du etwa, ich hätte das nicht getan? Sie ist nicht hier. Wo immer er sie hingetan hat, sie ist gut versteckt. Unter einem Stein an der Küste. Vergraben in einer Kiste in der kalten Erde.«

»Lass mich danach suchen. Bitte.«

»Und was soll ich tun, wenn du sie findest?«, wollte Ru wissen. »Zurück ins Meer gehen?«

Diese dünne, müde alte Frau, krumm von der vielen Arbeit, die Hände knotig und zittrig, die Augen halb blind. Schwimmende Robben, geschmeidig, glänzend und wunderschön, zuckend und durchs Wasser tauchend, wild, namenlos und frei.

»Such nicht danach«, bat Ru. »Es gibt tausend Grausamkeiten auf der Welt, Lan«, erklärte sie. »Grausame, tote Dinge. Monster. Zufall. Räum die Teller weg. Dann bringe ich dir das Spinnen bei.«

Die Frau Lan nickte, trug die Teller zum Futtereimer und dann zur Schüssel mit Abwaschwasser, das sie über dem Feuer erwärmt hatte. Heißes Wasser, Laugenseife, von der ihre Hände trocken und wund wurden. Die Seife war neu, genau wie das Brot, aus dem Dorf, in das sie die von Ru gesponnene Wolle brachte. Große, massige Knäuel, gut zum Weben, dick genug für das Stricken von Decken, Handschuhen und Mützen gegen die Winterkälte. Ru hatte sie gesponnen und aufbewahrt, da sie nicht dazu in der Lage war, das Dorf auf der anderen Seite des Pelenbachs aufzusuchen und sie gegen andere Dinge einzutauschen. So hat mein Ruin doch wenigstens etwas Gutes bewirkt, dachte Lan. Die Welt einer anderen bleibt am Leben. Das Häuschen war schmutzig, weil Ru den Dreck nicht sehen konnte. Die Ziegen waren wild, ihr Fell ungekämmt, da Ru nicht mehr zu ihnen hinauszugehen vermochte. Wenn ich gehe, wird sie sterben, dachte Lan.

Sie saßen im Halbdunkel am Feuer, und Ru brachte ihr das Spinnen bei.

 

»Ich zeige dir etwas Besonderes«, sagte Ru einige Tage später, nachdem Lan vom Melken der Ziegen zurückgekehrt war. Sie ging zu einem Schrank, der im hinteren Teil des Hauses neben ihrem Bett stand, und holte ein in Leder eingeschlagenes Bündel heraus. Als sie es vorsichtig auswickelte, kam ein Stück gelben Stoffs zum Vorschein. Zart wie Spinnweben, glänzend wie Kinderhaar. Ru hielt ihn hoch. Er schimmerte und leuchtete und funkelte. Nicht, wie von der Sonne beschienen, sondern als würde er von innen heraus strahlen. Wie magisches Glas. Wie magisches Feuer. Wie lachende Augen.

»Oh!«, rief Lan. Wie wunderschön. So etwas Wunderschönes! »Ist das … ist das Magie?« Magischer Stoff, aus Träumen gefertigt. Eine Prinzessin, die im Glanz ihres eigenen Kleides erstrahlt. Eltheia musste solche Gewänder getragen haben.

»Riech daran«, verlangte Ru.

Lan beugte sich vorsichtig über den Stoff und befürchtete beinahe, sie könnte ihn durch ihr Atmen beschädigen, weil er so unfassbar zart aussah. Er sollte nach Gewürzen, Honig und frischen Blütenblättern duften. Mit einem Anflug von Zorn dachte sie, er sollte nach Thalias Haaren duften. Sie atmete den Geruch des Leders ein und den der abgearbeiteten Haut an Rus Händen. Und darunter lag … Salz. Seetang. Fisch. Sie blickte erschrocken auf.

»Meeresseide«, erklärte Ru. »Die Fäden winziger Meereskreaturen. Er leuchtet im Sonnenlicht. Lässt man ihn in der Sonne liegen, leuchtet er in der Nacht. Fass ihn an.« Weich wie Distelflaum. So weich, dass Lan ihn kaum spüren konnte. Dieses Leuchten. Aber der Geruch der See. Ein Kleid für eine Meeresprinzessin vielleicht, eine Selkie, die darin im Mondlicht auf dem Sand tanzt. Keine Menschenfrau würde es bei diesem Geruch tragen.

»Gehört er dir?«, fragte Lan. Sie stellte sich Ru als junge, wunderschöne Maid aus dem Meer vor, mit silbrigem Haar und schlanken Fesseln. Und dies war das letzte kostbare Stück ihres Kleides.

»Ich habe ihn gewebt«, antwortete Ru. »Ich habe die Seide gesammelt und ihn eigenhändig gewebt.«

»Aber ich habe noch nie von so etwas gehört.« Es musste doch einen Weg geben, den Gestank zu beseitigen, dann würden sich alle Lords, Könige und Königinnen von Irlast um einen solchen Stoff reißen. Eltheia und Amrath, schimmernd wie die Sonne. Landra Relast hätte einen Schrank voll solcher Gewänder haben müssen.

»Ich habe ihn gewebt«, wiederholte Ru. »Den schönsten Stoff der Welt. Außer mir weiß niemand, wie man ihn anfertigt. Es hat vierzig Jahre gedauert, ihn zu erschaffen.« Sie hielt ihn abermals ins Sonnenlicht, und er leuchtete wieder. »Wenn du bleibst, kann ich es dich lehren.«

Kurz tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, die Seehexe und die verbrannte Frau, über ihre Arbeit gebeugt, wie sie Träume und Licht in Stoff weben, von dem nie genug da sein würde und der nach Salz, Meer und Fisch roch, sodass ihn niemand tragen wollte, selbst wenn sie jemals genug weben könnten, um ein Kleidungsstück daraus zu fertigen. Schimmerndes, stinkendes Gold, das ihnen durch die Hände glitt. Die Lords von Irlast konnten einen derartigen Schatz gar nicht begreifen.

»Ich kann nicht bleiben«, beharrte Lan. Noch immer fasziniert von der Seide, aber die Seide ließ sie an andere Dinge denken. An Seidenkleider, goldene Armreifen, das Glitzern der Trinkbecher in der Halle ihres Vaters.

»Nein.« Ru schlug das Leder wieder zusammen und legte das Bündel zurück in den Schrank neben ihrem Bett. Ich habe ihr gerade gesagt, dass sie diesen Winter sterben wird, dachte Lan. Wenn ich nicht mehr hier bin, wird sie sterben. »Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Du willst gehen. Du willst es, willst es aber auch nicht. Doch du wirst gehen.«

»Ich könnte den Winter über hierbleiben. Jemanden suchen, der sich um dich kümmert. Ich könnte deine Haut suchen.«

»Ich will meine Haut nicht, Lan, Mädchen. Nicht jetzt. Würdest du meine Haut finden, würde ich dich bitten, sie zu verbrennen, und müsste sterben. Aber du wirst sie nicht verbrennen, und du wirst sie nicht finden. Und ich werde nicht sterben.«

»Ich werde noch ein paar Wochen bleiben. Dir Vorräte besorgen. Damit du es leichter hast. Vielleicht finde ich ja jemanden, der dir zur Hand geht.«

»Ich habe auch alles geschafft, bevor du hergekommen bist. Daher gehe ich davon aus, dass es mir auch weiterhin gelingen wird. Aber es ist sehr freundlich von dir, es in Erwägung zu ziehen.« Rus trübe Augen flackerten. »Sei nicht auf Rache aus, Lan.«

»Auf Rache?«

»Das Meer und der Himmel tragen Blut in sich. Dir wurde großes Unrecht angetan. Aber du solltest nicht auf Rache sinnen.«

Warum nicht?, dachte Lan, und Ru beäugte sie und schien ihr den Gedanken anzusehen.

Dann nahm Ru ihre Spinnarbeit wieder auf. »Setz dich zu mir, dann versuchen wir es noch einmal mit dem dicken Faden fürs Stricken.«

Aber was ist mir außer Rache noch geblieben?, fragte sich Lan. Darum bin ich doch noch da, während die anderen sterben mussten, oder nicht? Damit ich sie rächen kann? Es sprudelte aus ihr heraus wie Wasser: »Ich habe meine Schwester sterben sehen. Und meine Mutter. Ich lief hinunter ins Dunkel und habe mich versteckt. Ich bin weggelaufen. Habe sie sterben lassen. Damit sie gerächt werden können.« In ihrem Kopf das Knacken brechenden Mauerwerks, das Brüllen des Feuers, das in Wellen hereinbricht, die Schreie. Mehr als nur Menschenschreie. Klauen am Himmel. Wenn sie jetzt daran dachte, sah sie blutige Augen. »Ich habe ihn zurückgebracht, um mich zu rächen«, sagte Lan. »Darum habe ich ihn wieder hierhergeschafft. Um Rache zu üben. Um ihn zu vernichten. Und aus diesem Grund ist all das geschehen. Weil ich ihn zurückgebracht habe.«

All das, weil Lady Landra nicht ertragen konnte, dass er noch am Leben war. All das, weil Lady Landra voller Rachsucht war.

Schweigen.

»Halt es nicht zu fest«, sagte Ru, »mit lockerem Handgelenk. Siehst du? Vorsichtig. Der Faden wird weich, während du drehst. Guter, weicher Stoff. Eine Knochenspindel ist am besten. Bringt Glück. Kräftig und geschmeidig wie junge Gliedmaßen, so soll er sein. Kräftig, geschmeidig und weich. Pferdeknochen sind natürlich die allerbesten, wenn man sie beschaffen kann. Genau so ist es richtig, immer locker halten, siehst du? Spürst du jetzt den Unterschied?«

Die Spindel drehte sich. Ein kleiner Wurm aus gräulichem Faden. Die Frau Lan nickte.

»Hel für Wärme und Trost. Benth als Schutz vor Krankheiten. Anneth, um die Läuse abzuwehren. Sag die Namen beim Spinnen. Hel. Benth. Anneth. Hel. Benth. Anneth. Wärm den Stoff. Mach ihn weich. Wärm den Träger. Mach den Stoff weich.«

Damit es jemand warm und tröstlich hatte. Damit er sicher und frei von Läusen war. Es gab gewiss Schlimmeres auf der Welt? Und es war nützlicher als vieles andere.

»Hel. Benth. Anneth. Hel. Benth. Anneth. Ein Umhang als Schutz im Winter. Eine Decke in einer kalten Nacht. Ein Bett, um darin zu schlafen und Kinder zu gebären. Ein Leichentuch für einen alten Mann. Hel. Benth. Anneth. Hel. Benth. Anneth.«

Lady Landra war in Sorlost durch eine Ladentür getreten und hatte den vermeintlich toten Marith an sich vorbeigehen sehen. Sie hatte den Blick nicht abwenden können. »Ich bringe dich um!«, hatte sie ihn angeschrien. Er hatte sie nur angesehen und gesagt: »Ihr seid diejenigen, die sterben werden.«

Wenn sie doch nur einen Augenblick früher aus der Tür getreten wäre. Einen Moment später.

Ihn in Ruhe gelassen hätte.

Marith muss sterben, dachte sie.

»Ich muss gehen, Ru«, sprach sie laut aus.

»Das hast du gesagt. Bleib noch ein paar Wochen, um Vorräte für mich zu besorgen.« Ru unterbrach das Spinnen und legte den Faden beiseite. »Jemanden aus dem Dorf, der mir hilft, wäre ein Segen. Der sich um die Ziegen kümmert und das Feld am Pelenbach. Aber such nicht nach meiner Haut.« Abermals griff Ru nach der Spindel. »Und sinn nicht auf Rache.«

 

Es war also geregelt. Ein Bauer aus dem Dorf hatte eine Tochter, die er zu Ru schicken wollte, damit sie bei ihr im Haus leben, die Arbeit machen und sich um sie kümmern konnte, während Ru dort lebte und Wolle spann und in der Ecke schlief, in der Lan geschlafen hatte.

Ru gab Lan den stinkenden goldgelben Stoff. »Er hat keinen Zweck«, sagte sie zu Lan. »Ich kann nicht mehr ans Ufer gehen, um weitere Fäden zu sammeln.«

»Du könntest es Kova beibringen, wenn sie bei dir lebt.«

»Das könnte ich.«

Ich habe getan, was ich tun konnte, sagte sich Lan. Kova wird hier bessere Arbeit leisten, als es mir je möglich wäre. Sie kann sich besser um die Ziegen kümmern und besser kochen. Vielleicht findet Kova einen Mann, der sie heiratet, oder sie hat gar längst einen im Dorf, sie bekommen Kinder, und Ru wird wie eine Großmutter auf sie aufpassen. Sie werden ihr nach ihrem Tod ein anständiges Grab am Meer ausheben.

Und Gold- und Silberstücke werden über ihrem Grab erscheinen, und sie werden alle glücklich und zufrieden in einem Marmorpalast leben, dachte Lan, und die Sonne wird immer scheinen. Töte sie alle, verbrenn sie und spuck auf die Asche. Die Welt ist ein grausamer Ort.

»Die hier sollst du auch haben.« Ru drückte Lan eine kleine Knochenspindel in die Hände. Lan blickte darauf hinab. »Pferdeknochen«, sagte Ru. »Der Vater meines Mannes hat sie gemacht.« Abgenutzt und vergilbt. Alt.

»Wie alt bist du, Ru?«, fragte Lan und musste an die Geschichten über das Meeresvolk denken, die sie gehört hatte. Todlos. Alterslos. Götter. Carin war von ihnen fasziniert gewesen, sie hatte sich jedoch nie groß für sie interessiert. Bauern. Seewesen. Menschenwesen auch. Vergewaltigung, Entführung und Verlangen. Man behielt etwas, das einem nicht gehörte.

Schwache Dinge.

»Alt«, antwortete Ru.

Ich muss mir keine Sorgen machen, dass sie sterben könnte, begriff Lan auf einmal. Ich Närrin! Sie steckte den gelben Stoff und die Knochenspindel in ihr Bündel zum Weidenstab. Hel für Wärme und Trost. Palle, das glatte Schimmern der ruhigen See.

 

Kova kam am nächsten Morgen, kräftig und schlicht mit grünen Augen. Sie wirkt recht freundlich, stellte Lan fest und urteilte auf eine neue Art und Weise, die Landra Relast nie gekannt hatte. Ihre Hände waren das Anpacken und harte Arbeit gewohnt. Ihr Blick wirkte zaghaft. Sie schien sich ein wenig vor Ru zu fürchten. Vielleicht wusste sie, was Ru war.

»Im Schrank neben deinem Bett sind Seife und Kerzen«, sagte Lan zu Ru. Sie fügte nicht hinzu, dass sie ihren Silberring dafür eingetauscht hatte. Kova erklärte sie: »Im Vorrat ist Brot, in den Krügen sind Mehl und Butter. Ich habe die Ziegen heute Morgen gemolken. Sie geben nicht viel Milch. Am Pfad hinunter zum Pelenbach ist ein Fleck, an dem Winterminze wächst, gleich neben einer hohen Esche. Ru kocht damit gern Eintopf.« Sie führte Kova in den Gemüsegarten hinter dem Haus, in dem nun abgesehen von Schwarzkohl, der zerklüftet wie Leder war, nichts wuchs. »Sie will immer mehr machen, als sie tun sollte«, teilte sie Kova mit. »Sie hält sich für stärker, als sie ist. Pass auf sie auf, und sie wird freundlich zu dir sein.« Kova sah sie mit kräftigen grünen Augen an, hatte kräftige Hände, die das Arbeiten gewohnt waren, und einen zaghaften Blick.

»Ich habe eine Schwester, die einen Fischer heiratet, Herrin«, sagte Kova.

Einige in dieser Welt mussten gütig sein.

Das war somit geklärt. Lan ging langsam den Weg hinab ins Dorf.

Es gingen Gerüchte um von Dingen, die in den Hallen der Lords passierten, von Schiffen und Soldaten, die nach Malth Elelane gerufen worden waren, man sprach von Krieg. Lan marschierte mit langsamen Schritten die Küstenstraße entlang. Wieder allein über die Straße zu laufen war das Schlimmste. Ohne ihren Namen und ihren Wohlstand war sie ein Nichts. Das kam ihr so seltsam vor. So muss es auch für Marith gewesen sein, dachte sie dumpf und setzte einen Fuß vor den anderen. Namenlos und machtlos. Sie erinnerte sich an Thalia, die in der Kälte des Sumpflands getaumelt war, wie Mariths Augen ausgesehen hatten, wenn er sie anblickte. Kein Wunder, dass er jetzt so wütend war. Aber dies ist auch das, was er gewollt hat, dachte sie. Ein Nichts sein. Derjenige sein, der verletzt wird, nicht derjenige, der den Schmerz zufügt. »Ich war glücklich«, hatte er gesagt. »Ich wollte nicht zurückkehren oder König werden.« Für kurze Zeit, dachte sie, für kurze Zeit war er entkommen.

Sie lief den ganzen Tag weiter. Dabei versuchte sie, nicht an Ru in dem feuchten, schmutzigen Haus zu denken, in dem es warm war. Am Abend machte sie an einer Schutzhütte Rast, legte sich in die Ecke, die am weitesten von der Tür entfernt war, und hatte Angst, dass jemand kommen könnte. Kalte, fettige Fleischstücke, Brot, Wasser: Sie legte vorsichtig von jedem etwas vor den Götterstein am Eingang und sah seine Dankbarkeit in dem leeren, gesichtslosen, augenlosen Antlitz. Bevor sie sich zum Schlafen hinlegte, holte sie ihr Bündel hervor und sah sich ihren Besitz an. Eine Spindel aus Pferdeknochen. Ein Stück gelber Stoff. Ein zerbrochener Ast, der an ihre Haut gebunden war. Ein goldener Ring mit der Prägung eines fliegenden Vogels, das Wappen ihres Vaters.

»Eltheia«, betete sie, während sie sich auf den Stein legte. »Eltheia, du Schönste, wache über mich. Wache über mich.« Sie schlief mit der Knochenspindel in der Hand, trocken und glatt und angeschlagen am Rand, alter gelber Knochen voller winziger Löcher an den Bruchstellen, geschaffen aus dem Schulterknochen eines alten, klapprigen Ackergauls, den sie im Traum galoppieren hörte. Die Dinge, die auf der Straße der Toten wandelten, gingen an ihr vorbei und ließen sie in Ruhe.

»Ich werde nicht versuchen, Rache zu üben«, sagte sie laut, als sie auf dem eiskalten, mit Raureif überzogenen Boden erwachte. »Ich werde ihn zu einem Nichts machen. So, wie er es sich gewünscht hat.« Ein Vogel flog krächzend aus den Bäumen hinter der Schutzhütte auf. »Aber es hat nichts mit Rache zu tun.«

Die Dinge, die auf der Straße der Toten wandelten, gingen an ihr vorbei und lachten.