13

Selerie Calborides Zelt war aus blauem und silbrigem Leder, den Farben von Ith, mit Goldblatt um den Eingang und einer Standarte in Form eines goldenen Hirsches mit einem Geweih, das in Adlerköpfen endete. Felle auf dem Boden, zwei leichte Klappstühle, ein versilberter Tisch, eine Feuerschale unter dem Rauchloch, hinter dem zurückgezogenen Vorhang, der den Schlafbereich abtrennte, ein gemachtes Bett. Sogar eine Frau, gekleidet in schimmernden grünen Samt, das Haar mit Gold geflochten, mit einem Tablett, auf dem ein Krug warmer Gewürzwein stand, aus dem Dampf aufstieg und das Licht ihrer Augen umwölkte.

»Neffe.« Selerie erhob sich von seinem Stuhl. »Möchtest du dich setzen?«

»Onkel.« Die prächtige Umgebung, der König in seiner juwelenbesetzten Robe, das Mädchen. Absolute Erniedrigung. Aber Marith empfand auch einen Hauch Stolz, dass sein Onkel ihn als würdig genug für diese Erniedrigung ansah. Er setzte sich und reckte die Hände in Richtung Feuer.

Ein seltsamer Mann war dieser Selerie Calboride, der König von Ith. Einige behaupteten, er sei verrückt. Doch das sagte man eigentlich über jedes Mitglied der Familie Calboride. Hochgewachsen, rötlicher Teint, große, hervorquellende blassgraue Augen. Ganz anders als die Augen von Mariths Vater, und er erinnerte sich nicht mehr an seine Mutter, die diesem Mann angeblich recht ähnlich gesehen hatte. Aber Marith fühlte sich so unsicher, als würde er seinem Vater gegenüberstehen.

Das Mädchen trat vor und bot ihm etwas zu trinken an. Marith nahm sich einen Becher. Spürte, wie seine Hände zitterten. Natürlich war der Wein sehr gut. Die angenehme Wärme breitete sich in seinen Fingern aus. Auf einmal war der Becher fast leer. Seine Hände zitterten, und er hätte ihn beinahe fallen gelassen. Er gab sich die größte Mühe, das Mädchen mit dem Krug nicht anzustarren.

Selerie hob seinen Becher. »Von einem König zum anderen, Marith von den Weißen Inseln.«

»Von einem König zum anderen, Onkel.« Er versuchte, seinen Onkel beim Reden anzusehen. »Du bist gewiss gekommen, um mir zu meinem Erfolg zu gratulieren. Was für ein Triumph! Aber selbstverständlich hast du immer gewusst, dass ich dazu fähig sein würde.«

Selerie verlagerte ein wenig das Gewicht auf seinem Stuhl. Ich hasse dich, dachte Marith. Ich hasse dich. Ich bin ein Mann, ein König. »Ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten«, sagte Selerie langsam. »Und um dir zu deiner Krone zu gratulieren. Dir zu versichern, dass ich das Bündnis ehren würde. Die alten, heiligen Bande zwischen Calboride und den Altrersyr, die bis zu Amrath und Eltheri zurückgehen und von deinem Vater abgelehnt wurden. Ich werde dir helfen, den Sohn der Hure zu töten, der an deiner statt Erbe sein will. Ich kam, um mich selbst zu vergewissern, dass das einzige Kind meiner Schwester noch am Leben ist. Meiner Schwester würden vor Scham die Tränen kommen, könnte sie dich jetzt so sehen.«

Dann können wir ja von Glück reden, dass mein Vater sie getötet hat. Denkst du, mir kämen nicht ebenfalls vor Scham die Tränen? Aber Marith sagte: »Es war deine Entscheidung herzukommen, Onkel. Ich war völlig zufrieden damit, in meinem Zelt im Dreck zu sitzen. Meines Wissens hatten meine Soldaten gerade etwas Alkoholisches für meinen Becher besorgt.«

»Zufrieden warst du?«, wiederholte Selerie spöttisch. »Vielleicht sollte ich dann lieber wieder abziehen.«

Sie wandten den Blick ab und fühlten sich beide ertappt. Der eine kann nicht abziehen. Der andere kann ihn nicht darum bitten, wieder zu gehen. Oder zu bleiben. Beiden sind die Hände gebunden.

»Dein Bruder, der Sohn dieser Hure, hat sich des Throns bemächtigt«, stellte Selerie schließlich fest. »Aus diesem Grund bin ich gekommen. Es gibt Dinge, die kann ich nicht zulassen. Dass der Sohn der Hure die Krone der Altrersyr trägt, gehört dazu.«

Ich …

»Mein Bruder, der Sohn der Hure, beansprucht den Thron für sich«, erwiderte Marith dumpf.

»Und du scheinst dich ihm ganz hervorragend entgegenzustellen.«

Marith starrte die Wand an. Schatten. Hass. Schmerz. Lass mich in Ruhe, dachte er. Lass mich einfach in Ruhe.

»Verzage nicht, Neffe«, fuhr Selerie fort. »Der Krieg ist ein schweres Spiel, mit dem du sehr wenig Erfahrung hast. Ich könnte mir vorstellen, dass selbst Amrath gelegentlich Fehler gemacht hat. Du wirst es schon noch lernen.«

»Das werde ich mit Sicherheit.« Sein Becher war schon wieder leer. Er hielt ihn dem Mädchen zum Nachschenken hin. Sein Blick zuckte zu Selerie. Seleries Blick zuckte zu ihr. Sie trat zur Seite, ohne Mariths Becher zu füllen.

»Das ist ein sehr feiner Teppich, auf dem du da sitzt«, erklärte Selerie freundlich. »Ich möchte nicht, dass er Flecken bekommt, falls du dich erbrichst.«

Es fühlte sich an wie damals, als sein Vater tobte, weil er wieder einmal stockbetrunken bei irgendeiner wichtigen Feier über seine eigenen Füße gefallen war. Er kam sich vor wie in dem Augenblick, in dem er von Skie ausgelacht worden war, weil er einen Drachen getötet hatte und es ihm seltsamerweise ein bisschen peinlich war. »Ich bin der König, Onkel. Nicht Ti. Ein größerer König als du sogar. König der Weißen Inseln und von Illyr und Immier und dem Ödland und dem Bittermeer. Ansikanderakesis Amrakane. Du bist nur König, weil meine Ahnen die deinen verschont haben. Ich sollte dich dazu zwingen, vor mir niederzuknien.«

Selerie sagte nichts. Er sah sich mit seinen hervorstehenden, irren Augen um. Das vergoldete Leder. Die feinen Möbelstücke. Die Felle und der Wein und die Juwelen und das Mädchen. Marith drehte den leeren Becher zwischen den Fingern. Gold. Tu nicht so, als hättest du das nicht gewollt, Onkel. Du sitzt in deinem Turm, trinkst Quecksilber und siehst dieselben Dinge wie ich. Es dauert Tage, von Ith zu den Weißen Inseln zu gelangen, selbst wenn Magie die Segel bläht: Du bist schon vor meinem Scheitern in Malth Elelane aufgebrochen, um dich mir anzuschließen und meine Stellung als König zu sichern. Du musst deine Truppen bereits in dem Augenblick herbeigerufen haben, in dem du erfahren hast, dass ich noch am Leben bin. Sieh dir nur dieses Zelt, diese Einrichtung, die Männer mit strahlenden Bronzespeeren am Eingang an. Warum sonst bist du gekommen, wenn nicht deswegen?

Selerie starrte die Wand an und schien dort etwas in dem Leder in der einen Ecke zu sehen, in die das Licht des Feuers kaum gelangte. »Und was würdest du tun, König Marith von den Weißen Inseln und von Illyr und Immier und dem Ödland und dem Bittermeer, Ansikanderakesis Amrakane, Vatermörder und Drachenfürst und Drachentöter und Schänder der heiligsten Frau in ganz Irlast, wenn ich mich vor dir hinknie?«

Ich würde dir sagen, dass mein Vater gut daran getan hat, meine Mutter zu töten. Dass glücklicherweise beide nicht mehr am Leben sind und nicht sehen können, was aus mir geworden ist. Ich würde dich bitten, mich zu töten und neben Carin im selben Grab beizusetzen. Du würdest das möglicherweise sogar tun, Onkel, du, der mir einst ein altes Schwert gab mit einem im Knauf eingelassenen Rubin, der aussah wie ein Blutfleck.

»Du weißt, was ich tun würde«, sagte Marith.

Selerie bedeutete dem Mädchen, seinen Becher aufzufüllen. »Tue ich das? Weißt du es denn?«

»Ich würde dich bitten, mir deine Schiffe und deine Männer zu geben und mir die Treue zu schwören.«

»Und warum sollte ich das tun, Neffe?«

Marith sah ihm in die Augen. »Du weißt, warum.«

Selerie erwiderte sein Lächeln. »Ich erinnere mich noch gut daran, wie du als Kind warst, Neffe. Du hast immer so fröhlich gewirkt. Voller Lachen. Doch selbst damals konnte man bereits vermuten, dass du letzten Endes hier landen würdest. König Ruin, hat man dich angeblich getauft. König des Todes. Nun gut. Ich gebe dir meine Schiffe. Und meine Männer. Und schwöre dir Treue.« Er nippte an seinem Wein. »Aber ich bezweifle, dass du mir dafür danken wirst.«

Nein, dachte Marith. Ich bezweifle auch, dass ich das tun werde. Ich sagte ja bereits, dass ich in meinem Zelt völlig zufrieden gewesen bin.

Da erhob sich Selerie und stellte seinen Becher auf das Tablett, das die Frau noch immer in den Händen hielt. »Ich habe noch weitere zehn Schiffe, die hinter dem nächsten Kap ankern. Insgesamt zwanzig Schiffe. Zweitausend Männer. Wir setzen uns heute Abend wieder zusammen und besprechen alles. Kommst du danach mit deiner Frau zum Essen? Ich würde sie gern kennenlernen, diese heilige und unvergleichliche Kreatur, die Gott und Imperium für dich aufgegeben hat. Hierfür.«

Hasserfüllter alter Mann. Seleries Augen wirkten abermals wie die seines Vaters. Ja, ich habe versagt. Ja. Das weiß ich selbst. Aber beim nächsten Mal … Marith versuchte, an etwas anderes zu denken. An Thalia. Das Abendessen. Pläne. Hier würde sie weitaus besser versorgt als mit dem, was seine Soldaten in den Sümpfen und den Hütten des Dorfes aufgetrieben hatten. Einige Stunden in einem warmen, trockenen Zelt. Ein hübsches Kleid, einige Edelsteine und die Gelegenheit, so behandelt zu werden, wie sie es verdiente. Oh, sie hatte so perfekt ausgesehen, als sie neben ihm auf einem der hohen Ehrenplätze in Malth Calien gesessen hatte, strahlend im Schein des Feuers, von den Männern mit Eifersucht und Verlangen in den Herzen beäugt.

»Ich habe einen Mann bei mir, den du gewiss gern kennenlernen würdest«, meinte Selerie, »vor allem angesichts deiner momentanen Umstände.«

»Etwa einen Hathahändler?«

Seleries Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. »Eine Wetterhand.«

»Eine Wetterhand?« Marith stutzte. Er war noch nie einer begegnet und hatte fast schon geglaubt, sie würden gar nicht existieren. Es wären einfach nur Glückspilze. Ungeliebte noch dazu, jedenfalls auf den Weißen Inseln. Sturmboten, Todesbringer, Gruselgeschichten für Fischerkinder. Aber er hatte die Schiffe am Vorabend gesehen, deren Segel gegen den Wind gebläht waren. »Wirklich? Das wäre … hilfreich.«

Selerie schnaubte. »Das dachte ich mir auch, als ich ihn gefunden habe. Hilfreich. Allerdings fehlt ihm die rechte Hand.«

Marith stand auf. »Dann bei Sonnenuntergang. Osen sollte ebenfalls dabei sein, auch einige der anderen Lords. Irgendwo hier hält sich auch ein Fischhändler auf, der mir sein Haus und seinen Besitz zur Verfügung gestellt hat, nachdem ich die Festung seines Lehnsherrn in Schutt und Asche gelegt hatte. Ich habe ihm einen hohen Posten versprochen.«

Selerie schwieg. Er starrte das Gold, die Felle und das Mädchen an.

Hasserfüllter alter Mann.

Er blieb vor dem Zelt seines Onkels stehen und beobachtete die Soldaten aus Ith, die soeben den letzten Teil einer einfachen Palisade errichteten. Alles ordentlich und effizient. Eintausend Ither waren schon da, weitere tausend auf dem Weg. Und dann waren sie bereit. Bereit und besiegelt und zu spät. Ich wünschte, Carin wäre hier, ging es ihm unverhofft durch den Kopf. In letzter Zeit hatte er nicht mehr oft an Carin gedacht. Er schien in seinem Kopf zu verblassen. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich an sein Gesicht, die genaue Haar- und Augenfarbe zu erinnern. Carin hätte all das verhindert. Er hätte ihn zum Trinken geschleift, damit er das Ganze vergaß. König Marith, der Vergessliche, der rein gar nichts tat. König Marith, der Unfähige, zu betrunken, um ein Schwert zu führen. Es fiel einem auch wirklich schwer, angemessen ernsthaft über das Töten nachzudenken, wenn man inmitten von Erbrochenem, Pisse und Sabber in der Gosse lag.

Bei den Göttern, du warst gut zu mir, Carin, dachte er.

Aber diesmal werde ich nicht versagen.

 

Der Mann mit der Wetterhand hieß Ranene. Er war mittleren Alters, hatte eine Warze auf der Nase und konnte den Wind rufen, das Meer verändern und ein Schiff durch jeden Sturm sicher in den Hafen bringen. Schwarze Haut und schwarzes Haar, der Akzent aus Allene. Seine Stimme glich einem heiseren Flüstern, das an das Rascheln toter Blätter erinnerte, weil man ihm mal die Kehle aufgeschnitten hatte. Er trug einen mit Saatperlen besetzten Kragen, um die Narbe zu verbergen. Für Geld hatte er Schiffe in Sicherheit gebracht und andere untergehen lassen und das Schicksal eines Schiffes an den Meistbietenden verschachert, bevor Selerie ihn gefunden und in seine Dienste genommen hatte. Es war für ihn sicherer, wenn er an Seleries Hof lebte und die Schiffe des Königs führte. Seeleute fürchteten und hassten eine Wetterhand, da sie genau wussten, was diese aus einer Laune heraus mit ihrem Schiff machen konnte. Marith fand ihn recht angenehm. Der Mann grinste Marith freundlich an, nachdem Selerie sie einander vorgestellt hatte.

»Ich bringe Euch als meinen König über die See, mein Lord«, sagte er mit seiner leisen, kratzigen Stimme. »Was passiert, nachdem Ihr an Land gegangen seid … liegt nicht in meiner Hand.« Er hielt inne. Marith musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen. »Aber wenn Euer Bruder Euch mit seinen Schiffen entgegenkommt … starke Winde und hohe Wellen könnten da hilfreich sein. Verfügt Euer Bruder über eine Wetterhand, mein Lord?«

»Nein.« König Illyn hatte nie eine gehabt. Sie waren selten. Fast schon ein Mythos. Verhasst. Gefürchtet. »Nein.« Marith schloss die Augen und stellte sich das Meer bei einem Sturm vor. Den schlimmsten Sturm hatte er als Kind gesehen, mit gerade mal zehn Jahren, staunend durch das Fenster blickend, während die Wellen an die Felsen von Morrkopf und die Dächer von Morrstadt schlugen. Schiffe waren an der Landzunge zerschellt, Leichen weit im Landesinneren angespült worden, da sich das Wasser bis in die Straßen der Stadt ergoss und Bäume und Mauern mit sich riss. Wie das Feuer in Malth Salene hatte es die Küste reingewaschen. Die Luft hatte nach Seetang und Leichen gestunken, fahle, aufgedunsene Fischwesen waren aus den Tiefen nach oben gerissen worden, ebenso zerbrochene Steine von alten, lange versunkenen Städten. Sand und Salz waren bis auf die höchsten Balkone von Malth Elelane geweht worden.

Ein Schiff inmitten davon. Ein Schiff inmitten davon …

»Das könntest du tun?«

»Ja.«

»Wie?«

»Ich spüre die Wellen«, antwortete Ranene. »Ich spüre das Wasser. Ich spüre den Himmel.« Er hielt inne. »Ich weiß nicht, wie ich es mache, mein Lord. Es ist umso sonderbarer, dass ich einen Monatsmarsch vom Meer entfernt geboren wurde.«

Na, das war ziemlich enttäuschend. Aber er hatte auch Thalia gefragt, wie sie das Licht entstehen ließ, und sie hatte nur erwidert: »Ich tue es einfach.« »Magie ist etwas Raffiniertes.« »Magie ist kompliziert.« »Wenn ich das nur wüsste« war wenigstens eine ehrliche Antwort gewesen.

»Dann tu es.« Zerstöre sie. Zerschmettere sie in tausend Stücke, zertrümmere sie, zerbrich sie. Sie hatten sich ihm widersetzt. Sie hätten ihm die Stadt öffnen sollen. Ihn willkommen heißen sollen. Sein Bruder! Seine Mutter! Seine Heimat!

Zerstöre sie. Zerbrich sie. Ertränke sie. Verfluche sie.

Ranene neigte den Kopf. »Wie mein Lord befiehlt.« Er schien überaus zufrieden zu sein. Wahrscheinlich bekam eine Wetterhand nicht oft die Gelegenheit, sich mal richtig auszutoben.

»Die Schiffe des Sohnes der Hure werden vernichtet«, sagte Selerie. »Schön und gut. Dann hast du die Vorherrschaft auf See. Aber du musst auch Malth Elelane einnehmen. Und Morrstadt.« Er sah Marith durchdringend an. »Idealerweise, ohne die Häuser in rauchende Asche zu verwandeln. Es sei denn, du überlegst es dir anders, Neffe?«

»Wir bringen die Schiffe im Schutz der Nacht die Küste entlang«, schlug Lord Bemann vor. »Marschieren bei Anbruch der Dämmerung nach Malth Elelane und befehlen ihnen, die Tore zu öffnen.«

»Nein.« Lord Stansel. Ein armer Mann, der eine arme Insel hielt und nur wenige Männer befehligte. Ein Krüppel, an seinen Rollstuhl gebunden. Aber ein kluger Mann mit dem Ruf, einen scharfen Verstand zu besitzen. »Würden wir eine fremde Stadt einnehmen oder sogar eine andere auf den Weißen Inseln … Aber Malth Elelane … Wir kommen nicht als Invasoren. Vielmehr bringen wir den rechtmäßigen König zu seinem Thron. Wir kommen, um den letzten König im Grabmal seiner Ahnen beizusetzen, wo Altrersys höchstselbst liegt. Wir schleichen uns nicht wie Ausgestoßene in der Dunkelheit hinein. Wir drohen nicht. Wir schmeicheln nicht. Ja, Tiothlyns Schiffe müssen zerstört werden. Wir schicken Stürme in der Nacht, um die Schiffe zu zertrümmern und den Menschen Angst einzujagen. Wir segeln bei Tagesanbruch in den Hafen, unter den Bannern von Amrath und König Marith, seinem Erben. Wo Tiothlyn, der Thronräuber, den Zorn des Meeres heraufbeschworen hat, wird Marith, der wahre König, Stärke und einen günstigen Wind bringen. Die Stadt und Malth Elelane werden sich uns huldreich unterwerfen, wie es Euch zusteht.«

»Und was ist, wenn sich uns Morrstadt nicht huldreich unterwirft? Wenn Morrstadt wieder anfängt, Bannfeuer auf uns zu schleudern? Wenn der gute Herr Hand hier es doch nicht schafft, einen Sturm herbeizuzaubern?«

Irgendwo in dem Fass voller Honig regte sich der tote König und bewegte sich. Schatten tanzten über die Zeltwände. Selerie schaute sich um und konnte sie beinahe wahrnehmen. Angst in seinen Augen wegen dem, was er angefangen hatte. Marith holte tief Luft. Sprich es aus. Sag, was getan werden muss. »Lord Stansel hat recht. Wir segeln direkt in den Hafen von Morrstadt. Und dieses Mal werden sie mich so empfangen, wie es mir gebührt. Malth Elelane wird sich ergeben. Die Festung wurde für die Könige von Amraths Blut erbaut. Sie gehört mir. Daher wird sie sich mir unterwerfen. Morrstadt wird sich ergeben oder Widerstand leisten. Wenn die Stadt sich widersetzt, wird sie zerstört. Morrstadt ist unwichtig. Die Stadt kann wieder aufgebaut werden. Oder ich errichte irgendwo anders eine neue Stadt und lasse die Ruinen als Warnung zurück.« Er sah seinen Onkel an. »Morrstadt verfügt über Bannfeuer. Nun denn. Das ist nur eine Flüssigkeit, die brennt. Morrstadt hat Verteidiger. Nun denn. Das sind nur Männer mit Schwertern. Wir haben eine Armee. Wenn die Hälfte dieser Armee fällt, sind es auch nur Männer. Männer sterben. Es müssen nur genug am Leben bleiben, damit die Stadttore geöffnet werden und die Leiche meines Bruders darüber in Ketten aufgehängt werden kann.«

Die Männer regten sich. Die Lords der Weißen Inseln. Die Kapitäne des Königs, die auserwählten Gefährten des Ansikanderakesis Amrakane. Gauner und Opportunisten, Männer, die selbst jüngere Brüder hatten, Männer, die nach Chaos und Blutvergießen gierten, Männer, die sich blind an das Recht des erstgeborenen Sohnes als Erben klammerten. Strahlende Gesichter. Eingefrorenes Grinsen, das Entsetzen verbergen soll. Was habt ihr erwartet?, dachte Marith. Was dachtet ihr, dass wir tun würden? Osen erschauderte und sah von Marith zu Selerie zu Ranene. Angst in den Augen aller. Sie schienen auf einmal zu begreifen, was sie zu tun beabsichtigten.

»Meister Hand kann gewiss einen Sturm herbeizaubern«, versprach Ranene. Seine Stimme erinnerte an ein hohles Schilfrohr, das von einem Jungen geblasen wurde. Ausgesprochen irritierend. Aber darin schwang etwas mit. Der Mann verfügt über Macht, stellte Marith fest und musterte die warzenbesetzte Knollennase. »Den gewaltigsten Sturm, den ihr Inselmänner je gesehen habt. Mein Lord Selerie kennt bereits ein geringes Ausmaß meiner Fähigkeiten. Aber für den König hier, den König, der Herr über Tod und Schatten und zerstörte Dinge ist … für ihn werde ich einen Sturm herbeirufen, den man nie mehr vergessen wird. Ich werde einen Sturm herbeirufen, der die Insel Seneth zutiefst erschüttert. Die Menschen in Morrstadt werden dem König voller Freude und jubelnd die Tore öffnen. Zumindest die wenigen, die nicht ertrunken sind.«

Augen, die ihn voller Schrecken anblickten. Die Schatten blinzelten und lachten in den Zeltecken.

»Dann also ein Sturm«, sagte Selerie leichthin. »Das dürfte für heute Abend alles sein. Ich glaube, das Essen wurde aufgetragen und steht bereit. Meine Lords der Weißen Inseln. Meister Wetterhand. Bis morgen.« Selerie erhob sich. »Trinken wir etwas, während wir auf deine Dame warten, Neffe?«

 

Selerie hatte irgendwie Weißbrot, Pralinen und geräuchertes Hirschfleisch mit auf den Feldzug genommen und nicht nur Wein, vergoldete Stühle und ein Mädchen.

»Amrath hat seinen Männern einen harten Feldzug zugemutet«, sagte Marith abwehrend, als Thalia die Augenbrauen hochzog. »Man kann sich nicht schnell bewegen, wenn man so viel mit sich herumschleppt. Hier auf den Weißen Inseln führen wir noch anständig Krieg.« Er dachte an Skies karges Zelt, wo allein die Tatsache, dass es nicht nach Schimmel stank, seine Macht symbolisierte. Ein Schlafsack. Ein Umhang. Ein Hemd zum Wechseln. Eine Tagesration Brot. Alles andere war unnötig und wurde nicht benötigt. »Ja, gut, zugegeben, ich hätte mir etwas mehr Gedanken über die Logistik machen sollen.« Der erste Gang bestand aus in Honig gebackenen Äpfeln. Der Geruch des Honigs bewirkte, dass ihm übel wurde. Als er den Löffel in die Frucht bohrte, musste er an den Kopf seines Vaters denken. Eine Hautfalte an der anderen, die braunen Flecken wie zwinkernde Augen; sein Vater, der wie ein Ungeborenes herumtrieb, ganz weich und formlos … »Oder überhaupt irgendwelche Gedanken über die Logistik. Aber Osen hat sich ebenfalls nicht damit beschäftigt, und er war die meisten Nächte nüchtern.«

»Ich habe etwas für dich«, sagte Selerie zu Thalia. »Hier.« Er machte eine Handbewegung, und das Mädchen trat mit einem kleinen Holzkästchen in den Händen vor. Zedernholz mit einem zarten Blumenmuster und einigen Überresten von Blattgold. Es war umso schöner, weil es alt und abgenutzt war, das Holz geglättet und von sorgsamen, liebevollen Händen abgedunkelt. Thalia klappte langsam den Deckel auf und nahm mit ihren perfekten Fingern eine kurze Silberkette heraus, verziert mit Saphiren, die beinahe die gleiche Farbe hatten wie ihre Augen.

»Oh!« Sie hielt das Schmuckstück hoch, sodass es im Kerzenlicht glänzte. Blaue Sterne. Blaues Feuer. Blaue Lichter, die im Meer schimmern.

»Ich bin der nächste Blutsverwandte meines Neffen«, erklärte Selerie. »Daher erschien es mir angemessen, dich so willkommen zu heißen, wie es dir gebührt.«

Thalia schenkte Selerie ein freundliches Lächeln. Das Mädchen verschwand mit dem leeren Kästchen. Diener trugen kaltes Räucherfleisch und warmes Brot auf. Gewürztes Gemüse. Cimmakekse. Hippocras. Sogar Kelethsamen in einer Silberschale. Es war ein recht angenehmer Abend. Danach gingen sie im Fackellicht, das sich auf Tals Rüstung spiegelte, zurück zu ihrem Zelt. Auf dem Weg dorthin verharrten sie eine Weile und blickten aufs Meer hinaus. Ebenso blieben sie vor ihrem Zelt stehen, um sich die Sterne anzusehen. Es war klar und kalt, ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Starker Frost.

Morgen also.

 

Ein Kind, ein Junge von dreizehn Jahren, als er nach Ith segelte, um seinen Onkel zu besuchen. Ein Kind, kräftig und glücklich, das im Obstgarten auf Bäume kletterte, saure Äpfel stibitzte und wie ein Verrückter durch das wilde Land seines Königreiches rannte, mit dem Wind in den Haaren in die Sonne lief. Selbst damals folgten ihm bereits die Schatten, was er genau wusste. Er spürte sie. Kannte sie. Schattenaugen, die ihn beobachteten. Die sich nach ihm sehnten. Ein Kind, ein Junge von dreizehn Jahren. Träumt solche Träume. Sein Bruder war keine zwei Jahre jünger; er liebte ihn so sehr, passte auf ihn auf, seinen besten Freund. »Wenn ich König bin«, sagte er immer, »und du mein engster Ratgeber bist, mein Stellvertreter, der Heerführer meiner Armeen – dann werden wir beide, du und ich, die Welt erobern, nicht wahr? Ich werde auch für dich ein Königreich finden, Ti. Ein großes. Reich und gewaltig. Wir teilen uns die Welt.«

Er fuhr nach Ith.

Selerie erzählte ihm Geschichten.

Er kam nach Hause.

Sein Bruder wartete dort auf ihn.