Als sie alle gegangen waren, wandte sich Orhan erneut seinen Büchern zu und versuchte zu arbeiten. Die uralten Folianten der imperialen Hauptbücher. So kam er wenigstens auf andere Gedanken.
Jeder Narr konnte einen Menschen ermorden, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dafür gab es in der Geschichte von Irlast mehr als genug Beweise. Die Dinge besser zu machen, das kostete Mühe. Das war harte Arbeit. March Verneth liegt im Sterben. Na und? Das anstrengende Unterfangen, die Welt neu zu erschaffen, musste weitergehen. Die Stadt liegt im Sterben, das wohlhabendste Reich, das die Welt je gekannt hatte, dessen Bettler Seide und Satin tragen und verwesende Brocken von goldenen Tellern essen. Immish und Chathe und die anderen Großmächte lachen uns aus und versuchen gar nicht erst, das zu verhehlen. Sorlost ist der Traum eines toten Mannes. Ein nutzloser Haufen zerbröselnden Steins. Schwach und schutzlos und abgenutzt. Aber ich, redete sich Orhan jede Nacht im Dunkeln ein, bin ein fähiger Mann, ein belesener Mann, und kann das ändern.
Mehrere Straßen waren bei den Aufständen nach dem Angriff auf den Palast zerstört worden. Schöne, vornehme Geschäfte und Stadthäuser und dahinter Mietshäuser mit eingestürzten Wänden und Decken, Böden voller menschlicher Exkremente, ganze Familien, die sich in ein fensterloses Zimmer zwängten. »Reißt alles nieder«, hatte Orhan befohlen. »Baut es neu auf und säubert die Gegend.«
»Und die Kosten, mein Lord Nithque?«, hatte Sekretär Gallus ihn gefragt.
»Erhebt Steuern auf irgendetwas. Appelliert an den guten Willen der hohen Familien. Borgt es Euch.«
»Und die Kosten für die Erweiterung der imperialen Armee, mein Lord Nithque?«
»Erhebt Steuern auf irgendetwas. Appelliert an den guten Willen der hohen Familien. Borgt es Euch.«
»Wir brauchen keine größere Armee. Wir müssen die wenigen zerstörten Häuser nicht wieder aufbauen. Das hier ist Sorlost!«, hatten der Kaiser und die Hohen Lords des Kaisers ihm knapp beschieden, als er mit diesen Vorschlägen an sie herantrat.
Das Tieffieber in Chathe wütete schlimmer denn je. Die Tore mussten chatheanischen Reisenden verschlossen bleiben, der Handel würde darunter leiden, jeder, von den Hathasüchtigen in der Gosse bis hin zu den Hohen Lords, die ihm seine Armee nicht finanzieren wollten, würde sich beschweren.
Die Immish waren außer sich, weil man sie beschuldigte, hinter dem Angriff auf den Kaiser zu stecken, und verlangten eine Entschädigung für die Angehörigen ihres Volkes, die bei den Aufständen ums Leben gekommen waren. Sie hatten als Vergeltung mehrere Hundert sorlostianische Händler aus Alborn ausgewiesen. Einige von ihnen sprachen so gut wie kein Literanisch, und der Großteil von ihnen war nun bettelarm. Sie machten den Kaiser und den Nithque des Kaisers für ihre Notlage verantwortlich.
Der Regen in Mar war ausgeblieben, und die Kornernte würde in diesem Jahr mager ausfallen, was steigende Preise nach sich zog, selbst wenn man die Tatsache ignorierte, dass Chathe als Mittelsmann bei dem Kornhandel zwischen dem Reich und Mar fungierte. Jene, die nicht auf die Barrikaden gingen, weil es ihnen an Hatha mangelte, würden es vielleicht bald aufgrund des Mangels an Kuchen tun.
Das Wachhaus am Tor der Maskenspieler im Osten der Stadt war endgültig eingestürzt. Eine Vertriebenenfamilie aus Alborn war bei dem Unglück ums Leben gekommen. Die Händler hatten mit den Zähnen geknirscht, weil die Steuern erhöht wurden, um die Reparaturen zu bezahlen. Nun wusste niemand, wie genau die für die Reparaturen erhöhten Steuergelder ausgegeben worden waren.
So sinnlos. Großer Tanis: Lord Emmereth und Lord Rhyl und Lord Verneth sind sich deswegen an die Gurgel gegangen?
Laste dem Palast den Unterhalt für deine Wachen an und gewähre dir ein oder zwei neue Bezüge, Orhan. Dazu bist du in der Lage.
Goldene Tinte und altes Leder, die Worte verschwammen. Hier, sieh nur, auf dem Titel eines Hauptbuches: ein Honigfleck, den Darath hinterlassen hatte, als er sich beim Lesen mit kandierten Aprikosen vollstopfte. Wäre es zu symbolisch, den Schmutz zu bemerken, der jetzt am Honig klebte, fragte sich Orhan, auf dem Leder, das angeblich aus Menschenhaut bestand? Aber bei dem Wort »Bezüge« fiel ihm etwas ein: Orhan blätterte um und entdeckte die Liste mit March Verneths kaiserlichen Bezügen. »Erster Lord und Vizekönig von Riva.« »Beschützer von Maun.« Ulkige, absurde, leere Lügen. Orhan strich sie erbittert durch. Ganze sechs Talente mit einem Federstrich eingespart!
Unten auf der Seite klebte ein Haar an einem Honigfleck. Orhan kam die Galle hoch.
Er riss die Hände in die Luft. Knallte das Buch zu.
Sah die Dämmerung heraufziehen. Die Zwielichtglocke läutete. Seserenthelae aus perhalish. Die Nacht bricht an. Wir überleben. Das kleine Mädchen im Tempel tötet. Bringt den Tod jenen, die sterben, das Leben anderen, die darauf warten, geboren zu werden. Aus Bils Gemächern kam der Klang einer singenden Jungenstimme; Bil lauschte Liedern und Musik, die dem Kind in ihrem Leib zuträglich sein sollten.
Ich werde ausgehen, dachte Orhan. Einen Spaziergang machen. Mal aus dem Haus kommen.
Wie töricht, schoss es ihm durch den Kopf, allein hinauszugehen. March und Eloise werden auf Rache sinnen.
Das ist mir egal, stellte er fest. Dann ist es halt gefährlich. Er zog sich schlichte Kleidung an; man konnte einfach verschwinden, indem man einige Edelsteine entfernte und sich einen schlecht geschnittenen Umhang überwarf. Zu einem anonymen Mann auf der Straße wurde.
Der Wind hatte nachgelassen; überall lagen Sandhaufen herum, die Blätter von Bäumen und Büschen, völlig zerfetzt. Die Stadt war dabei, wieder ordentlicher zu werden; eingestürzte Vordächer und Gerüste wurden wieder aufgebaut, Glasscherben und Steintrümmer beseitigt. Noch war es sehr heiß, aber nach dem Wind fühlte sich die Luft sauberer an.
Er ging in Richtung Palast. Rein aus Gewohnheit nahm er den Weg, den er in letzter Zeit so oft einschlug. An den Toren blieb Orhan stehen und betrachtete den Palast. Die im Mondlicht unheimlich aufragende goldene Kuppel. Die silbernen Türme. Die weißen Porzellanmauern. Aber die Fenster des Palastes waren tot und leer. Kein Magierglas schimmerte mehr darin. Da waren dunkle Streifen auf dem Weiß, dem Gold und dem Silber, die kein Mensch erreichen konnte, um sie sauber zu schrubben. Ich habe das getan, dachte Orhan. Das ist meine Schuld. Unvergleichlich, unersetzlich, das Magierglas des Kaiserpalastes des Asekemlene-Kaisers: womit er natürlich meinte, dass kein Geld da war, um die Fenster ersetzen zu lassen.
Er entfernte sich vom Palast, lief durch die Straße der Geschlossenen Augen, wo Menschen herumhuschten, durch die Schatten glitten, schimmernd im flackernden Fackelschein. Aufblitzende Edelsteine, das Rascheln von Seide, das Klingeln von Dirnenglöckchen. Weiter zum Hof des Brunnens, wo sich die Messerkämpfer umkreisten. Einer hatte gekämpft und lag sterbend am Boden, die Hände noch um den Griff seines Messers gelegt, während das Blut aus seinen Wunden den Staub am Boden in Schlamm verwandelte. Orhan schnippte ihm einen Silberdhol auf die Brust. Begräbnisgeld. Der sterbende Mann blinzelte schwach und bewegte die Lippen. Ich könnte ihn töten, dachte Orhan. Seinem Leid ein Ende setzen. Aber das werde ich nicht tun. So etwas tun wir nicht. Er bekommt nicht einmal einen Schluck Wasser aus dem Brunnen, neben dem er stirbt.
Orhan unterbrach seinen Spaziergang an der Straße der Gelben Rosen. Der Lärm aus einer Weinschenke hallte zu ihm herüber, die Stimme eines singenden Mannes, der Klang einer Flöte. Er stand da und beobachtete, wie das Licht durch den dünnen Vorhang vor der Tür drang. Der Poet sang von den Wüstenhügeln im Osten, wo die Sonne über goldenem Sand aufging, und wechselte zu einem langen, wortlosen Trauergeheul, mit dem er einen Vogel nachahmte. Sein Publikum applaudierte; die Flöte setzte wieder ein und spielte eine ruhige, besinnliche Melodie. Diese Musiker hatten einen guten Geschmack. Die Zuhörer ebenfalls. Orhan schob den Vorhang beiseite und trat ein. Ein enger, überfüllter Raum, sauber und gepflegt, größtenteils alte Männer, die bei winzigen Bechern voller Hochprozentigem dasaßen, faltenübersäte Gesichter, die einander schweigend zunickten und dem Lied lauschten. In der Ecke spielten ein Mann und eine Frau Yenthes, und die Elfenbeinspielsteine klackerten. Ein paar der anderen sahen ihnen zu und kommentierten den Spielverlauf leise. Es roch schwach nach Kelethsamen.
Einige drehten sich nach ihm um, bemerkten nichts besonders Interessantes an ihm, wandten sich wieder ab. Eine Frau musterte ihn eingehender. Sie war nicht attraktiv und wies Alterserscheinungen auf, silbrige Strähnen im Haar, der Körper nicht mehr straff, aber sie bewegte sich elegant und schien von einer ruhigen, weichen Aura umgeben zu sein, die den Flötentönen glich. Orhan schüttelte den Kopf. Er bestellte einen Wein und einen Teller Zimtstückchen und setzte sich, um der Musik zu lauschen, stellte dann jedoch fest, dass sein Blick vom Yenthesspiel angezogen wurde. Die Spielsteine klapperten. Es kam ebenso auf Glück wie auf Geschick an. Ein Glücksspiel. Nichts, was Orhan gern spielen wollte, aber ihm gefiel das Geräusch, das die Spielsteine machten. Die Frau zog Grün und breitete grüne und blaue Spielsteine in einer Spirale auf der Tischplatte aus. Der Mann mahlte mit dem Kiefer. Er zog Blau und legte ein blaues Rechteck über die Spirale der Frau. Die Zuschauer nickten anerkennend.
Das Spiel ging noch eine Weile weiter, Muster bewegten sich über den Tisch, Spielsteine klapperten, die Ruhe der alten Männer, die zufrieden damit waren, einfach hier zu sitzen, die Klänge der Flöte. Dann erhob sich der Poet abermals, um zu singen. Er war älter, als seine Stimme klang, seine schwarze Haut hatte einen aschegrauen Hauch, sein Haar war weiß. Oh, aber seine Stimme war wunderschön. Er sang dieses Mal ohne Begleitung, mit leichtem Schwanken der Stimme am Ende jeder Zeile, tief und klar wie eine Bronzeschüssel.
»Oh goldenes Sorlost, aus dessen Armen ich verbannt,
Die Schöne, immer Glänzende.
Die Braut aller Städte der Erde.
Ihre hohen Türme aus Zedernholz, ihre hohen Kanzeln,
Ihre Bronzemauern so stark wie Liebende,
Ihre Gärten, in denen die Penthevögel fliegen.
Süße Abende voller Trauer, Liebe und Musik,
Lange Nachmittage unter den Fliederzweigen,
Der süße Duft ihrer Straßen in der Morgenwärme.
Wie kann man nur fern von ihr leben?
Ich gleiche einer verlassenen Frau,
Einem mutterlosen Kind, einem leeren, verriegelten Haus.
Ich gleiche einem verdurstenden Mann, verloren in der Wüste.
Die Lippen trocken vor Staub.
Oh Sorlost, du Perfekteste, Wunderschönste.
Meine Worte sind wie Asche, mein Herz grabesschwer.
Oh Stadt aus Gold und Leiden …
Lieber sterben,
Als an dich denken zu müssen,
Ohne dass meine Füße deine Steine berühren.«
Das letzte Beben der Stimme erstarb. Orhan erschauderte. Einige der Männer wischten sich Tränen aus den Augen. Die Klage um die Stadt. Die insgeheime Furcht aller, die in Sorlost lebten, dass sie aus ihrer geteilten Illusion aufwachen und sie nie wiedersehen würden. Die Bronzemauern, das goldene Licht, die Korridore des Großen Tempels: Die Perfektion dieses Ortes, an dem wir leben, ist die Erinnerung an eine Erinnerung aus einem Traum. Inmitten der Erhabenheit von Ruinen zu leben, der Ewigkeit des niemals ganz Sterbens, Staub und Staub und Staub, der unsere schlagenden Herzen vergoldet – wie soll irgendein anderer Ort auf der Welt da mithalten?
In Wirklichkeit ist die Trauer ob des Exils natürlich nur eine Metapher für die Unausweichlichkeit des Todes. Warum wir diese Lieder singen. Die Stadt betrauern, die wir nie verlassen werden. Eine Erinnerung daran, dass alles vergänglich ist und wir dennoch weitermachen.
Tam Rhyls Familie musste ins Exil gehen. Sie lebt jetzt in Immish von der Hand in den Mund. Verlassen und allein.
Ein verzweifeltes Verlangen in Orhan, mit jemandem über etwas Normales zu reden. Unerkannt. Er wandte sich an die Person, die ihm am nächsten saß. »Er ist sehr gut, der Sänger.«
Die Frau, die Yenthes gespielt hat. Sie kaute Kelethsamen, ihr Atem roch milchig süß. Tote Hautschuppen hingen in ihrem Haar.
»Wäre er beleidigt, wenn ich ihm Silber anbiete?«
Die Frau lachte auf. »Nein. Aber er wäre ohne besser dran.«
Der Poet war in seine Ecke zurückgekehrt und nippte an einem Becher, aus dem Rauchfäden aufzusteigen schienen. Ein Feuerweintrinker. Älter, als die meisten es jemals wurden. Nun, wo er es wusste, konnte Orhan erkennen, dass die Hände des Mannes ebenso zitterten wie seine Stimme. Dieselbe Andeutung langsamen, schmerzlichen Verfalls.
»Er hat einst für den Kaiser gesungen, in seiner Jugend«, sagte die Frau. »Der Kaiser gab ihm einen Armreif voller Perlen. ›Der Perlensänger‹ wurde er danach genannt.«
»Der Perlensänger? Aber ich habe ein Buch mit seinen Gedichten! Das ist er?« Dieser Mann hatte das Leben mit dem Sandwind verglichen, bei dem man am Rande der niemals erreichten Erleichterung entlangtaumelte. Bei den Gottesmessern, dachte Orhan, er muss uralt sein. Das war nicht der Kaiser gewesen, der nun herrschte, und auch nicht der davor.
»Das ist er.«
Orhan gab der Frau eine Handvoll Silberdhol. »Würdet Ihr ihm die hier nach und nach geben? Oder, nein, sorgt dafür, dass der Wirt sie bekommt und ihm etwas zu essen gibt.« Sie nahm die Münzen lächelnd entgegen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie sie behielt und für Kelethsamen ausgab.
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Danke.«
Etwas später sang der Poet noch einmal, ein weiteres Lied über das Exil. Seine Stimme zitterte stärker, er nuschelte, kam aus dem Takt; mehrmals vergaß er die Worte. Orhan ging, als das Lied vorbei war, und machte sich durch die stickige heiße Nacht auf den Heimweg. Der Wind war wieder stärker geworden, wirbelte den Staub auf, ließ Fensterläden gegen Wände knallen und bewarf Orhan mit totem Laub. Seine Haut prickelte vor Sorge, ein Messerstecher oder ein Blitz aus Magierfeuer könnte ihn irgendwo erwarten. Es war äußerst töricht von ihm gewesen, allein auszugehen. Für einen Augenblick überlegte er, Darath aufzusuchen und sich ihm zu Füßen zu werfen, als er an der Straße des Allerleids vorbeikam. Oder vielleicht wäre es besser, zum Haus des Silbers zu gehen und sich vor March auf den Boden zu werfen. Vergebung. Vergebung. Vergebung.
Auf den Straßen wimmelte es weiterhin von Menschen, in Glöckchenschnüre gewickelte Huren schlichen über den Marmorboden, Straßenhändler boten kühle Getränke feil, die nach Staub stanken, ein Messerkämpfer in Weiß mit Hathanarben drehte seine Kreise und hielt Ausschau nach jemandem, der ihn töten und dafür sorgen würde, dass er sich kurz wieder wie ein Mann fühlen konnte. Aus einer dunklen Gasse war eine Kinderstimme zu hören. Eine der Frauen blieb stehen und blickte in die Finsternis. Dinge bewegten sich. Sie machte ein paar Schritte, schrie etwas und floh zurück auf den hellen Platz, wo ein Zauberwirker soeben farbenfrohe Vögel durch den Wind sausen ließ. Die Stimme lachte. Einiges blieb besser im Ungewissen.
Ich sollte in den Tempel gehen, dachte Orhan. Beten. Mich an die Gnade des Gottes erinnern.
Ich sollte nach Hause gehen. Dann liegt March eben im Sterben. Na und? Ich wusste von Anfang an, dass er den Tod finden würde. Er oder ich. Ich hätte Darath sagen sollen, dass ich dankbar bin. Ich hätte ihm von dem Kind erzählen sollen. Ich bin ein Narr. Es ist spät. Geh nach Hause.
Stattdessen verharrte er abermals, um dem Zauberwirker zuzusehen. Er fürchtete sich davor, in sein Haus und sein Leben zurückzukehren: Wenn ich für immer weitergehe, wird nichts von all dem Wirklichkeit. Es bleibt ein ewiger Traum. Der Mann war nicht schlecht; eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt und applaudierte. Die Frau sah zu. Neben ihr ein junger Mann, der sich zu Orhan umdrehte, seinen Blick zu spüren schien. Orhan stockte der Atem.
Ein junger Mann in der Blüte seiner Männlichkeit. Glänzende tiefschwarze Haut, lange, seidige schwarze Locken. Lippen so rot wie der Saft von Granatäpfeln. Augen so groß wie der Nachthimmel. Eine schmale Taille, zarte, glatte, muskulöse Arme und Beine. Wie eine antike Statue. Wie ein Gemälde auf Elfenbein. Zu schön, um echt zu sein. In der wirklichen Welt sahen Männer nicht so aus.
Der junge Mann öffnete den Mund und lächelte. Orhan durchfuhr ein Schauder. Er erwiderte das Lächeln. Geh nach Hause. Geh in den Tempel. Geh nach Hause. Geh nach Hause. Der junge Mann kam auf ihn zu, anmutig, geschmeidig, wie es die Musik gewesen war. Das gleiche feine, kaum merkliche Zittern aus der Stimme des Poeten zeichnete sich in seinen Bewegungen ab. Aus dem gleichen Grund. Verrottende Zähne im perfekten Mund, fleckig von Feuerwein, Überreste von Kelethsamen auf den Lippen. Süßer, drogenberauschter, verzweifelter Atem. Seine Finger trommelten auf den Stoff an Orhans Arm. »Fünf Dhol.« Geh nach Hause. Geh nach Hause. So wunderschön und unbrauchbar wie der Poet. Zu schön für das hier. »Fünf Dhol. Oder für dich, Bernsteinauge, nur vier Dhol.« Geh nach Hause. Geh nach Hause. »Wer hat dich geschickt?«, hätte Orhan beinahe gefragt. »Nur, um mich zu töten? Bitte tu das nicht. Nicht dieses erste Mal.« »Vier Dhol.« Orhans Hand wanderte zu seiner Geldbörse. »Vier Dhol.«
In der Dämmerung kehrte Orhan nach Hause zurück. Es war still im Haus. Einige Diener, die schon sehr früh auf den Beinen waren, huschten mit Lappen an den Füßen herum, um kein Geräusch zu machen. Vögel trällerten in den Gärten. Er musste natürlich anklopfen, um den Türwächter zu wecken; der Mann starrte ihn gähnend an und wirkte verängstigt, weil er eingeschlafen war. Orhan ging hinunter in die kühlen Baderäume und schrubbte sich ab. Er fühlte sich dreckig. Billiges Parfüm war auf seiner Haut und seiner Kleidung verschmiert. Süß, sinnlich und ranzig wie der Geruch zwischen den Beinen eines Mannes. Ein Bademädchen, das der Türwächter panisch geweckt hatte, kam herein, um ihm zu helfen; ferne Schritte waren zu hören, als andere herbeieilten, um das Feuer anzufachen und das Wasser zu erhitzen. Orhan schickte das Mädchen, um Tee zu holen.
Seine Augen waren trocken vor Müdigkeit, sein Kopf schmerzte. Fühle ich mich schuldig?, fragte er sich. Tue ich das? Ich sollte es tun. Habe ich es genossen?, dachte er dann träge. Ich weiß es nicht.
Das kalte Wasser brachte ihn nach und nach wieder zur Vernunft. Als das Mädchen mit dem Tee zurückkehrte, zitterte er. Nach dem Bad saß er in seinem Schlafgemach und starrte seine Hände an.
Bei den Gottesmessern, dachte er. Bei den Gottesmessern. Warum?
Bil kam herein, ohne anzuklopfen, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Ihre sehr weißen Brüste schimmerten hindurch. Ihr draller Bauch. Einst hatte sie ihm versprochen, sein Schlafzimmer nie zu betreten. Sie setzte sich auf ein Sofa und starrte ihn an.
»Orhan … geht es dir gut?«
»Ja.«
»Du siehst aber nicht so aus.«
»Es geht mir gut.«
»Soll ich einen Boten zu Darath schicken?«
»Nein!« Viel lauter als beabsichtigt. »Nein. Lass mich einfach in Ruhe.«
»Eines der Bademädchen hat Nilesh geweckt. Sie ist zu mir gekommen. Sie hatten Angst um dich.«
»Geh einfach wieder. Sag Nilesh und den Bademädchen, sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Ich werde mich in meinem eigenen Haus nicht bemitleiden lassen, dachte Orhan.
»Es ist doch nichts mit Darath, oder?« Ihre Narben verfärbten sich, echte Furcht zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. »Beim Herrn über die Lebenden und die Sterbenden! Ihm ist doch nichts zugestoßen?«
»Nein! Es ist nichts! Geh einfach. Lass mich in Ruhe.«
»Ich bin deine Frau, Orhan. Mir liegt etwas an dir.« Bil erhob sich seufzend. »Dann gehe ich eben wieder.«
Als sie zur Tür ging, hätte Orhan sie beinahe angefleht zu bleiben. Um es ihr zu sagen. Sie zu fragen, was er tun sollte. Sie verharrte im Türrahmen, als würde sie darauf warten, dass er etwas sagte. Das Schweigen hing schwer zwischen ihnen in der Luft. Als würden sie beide darauf warten, dass der andere den Mund aufmachte. Aber er sagte nichts.