Er konnte auch nicht schlafen. Dachte an March und Darath. An den jungen Mann in seinem schäbigen Zimmer, das an einer nach Pisse stinkenden Gasse lag. Hände auf seinen Händen, ein Mund auf seinem Mund, ficken und keuchen und mit einem Triumphschrei auf dem verrottenden Körper zusammenbrechen, nach Feuerwein stinkender Schweiß auf der herrlichen, schillernden, strahlenden Haut. Intensives, bitteres Verlangen. Anders als alles, was er je für Darath oder jemand anderen empfunden hatte. Ich glaube, in diesem Moment habe ich es genossen, dachte er. Und es wollten sich noch immer keine Schuldgefühle einstellen. Vielleicht war es einfach zu unwirklich. Es konnte nicht geschehen sein. Er war den ganzen Abend zu Hause gewesen, hatte geschlafen, geträumt. Der Mann war eine Erinnerung aus einem Traum.
Er lag mit geschlossenen Augen da und sah schwarzes Haar und schwarze Haut und March, der im Fieberwahn um sich schlug, bis der schwitzende, zappelnde March mit dem jungen Mann verschmolz, der sich zuckend und schwitzend unter Orhans Gewicht krümmte. Er fühlte sich selbst ganz krank und fiebrig. Auf Schlafentzug. Als er nicht einschlafen konnte, stand er auf und kleidete sich an.
Bil war wach, saß im Garten und ließ sich von dem Mädchen Nilesh etwas vorlesen. Bei ihrem Anblick durchzuckten ihn Schuldgefühle, als er sie, ihren Bauch, das Kind darin vor sich sah. Sie ignorierte ihn. Sie wusste, dass er etwas Schreckliches getan hatte. Er stand verloren im Flur seines eigenen Hauses.
Vielleicht sollte er zum Palast gehen. Etwas tun, während er darauf wartete, dass Darath herausfand, was er getan hatte, und sich auf die Suche nach ihm machte.
Bitte such nach mir, flüsterte ein Teil von ihm. Mit einem Mal beschlich ihn die entsetzliche Vorstellung, Darath könnte ihn ignorieren. Würde nicht kommen. Würde sich nicht darum scheren. Würde den Mann selbst ficken, länger und härter und besser, und ihm mehr bezahlen.
Würde allen und jedem die Wahrheit über jene Nacht, seine Pläne und über March und Tam erzählen … Gut gemacht, Orhan! Du hast soeben die eine Sache getan, die man normalerweise niemals tun sollte, wenn man intrigiert, um an Macht zu gelangen. Aber vielleicht wird er dir vergeben, wenn du ihm nur erzählst, er wäre noch immer der bessere Liebhaber?
Bil betrat den Gang. Sie sah sehr müde aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie strich mit den Händen über ihren Bauch. »Wir sollten einen Vorkoster einstellen«, sagte sie.
»Einen Vorkoster? Was? Wo im Namen des Gottes sollen wir denn einen Vorkoster herbekommen?«
Bil deutete auf die Tür. »In Sorlost gibt es mehr als genug hungrige Menschen.«
»Das ist widerwärtig!«
Sie errötete. »Möchtest du lieber sterben?«
Wir sollten einen Vorkoster einstellen, dachte er. March bereut gewiss, das nicht getan zu haben.
Geh wieder in den Palast. Tu so, als wäre alles normal. Vergrab dich in Arbeit. In ernste, langweilige, ruhige Dinge. Gestern hatte das doch noch gut funktioniert. Er nahm ein ganzes Kontingent an Wachen mit und ließ nur vier für das Haus und zwei als Wachposten zurück. Sie marschierten durch die Straßen, die er auch am Vorabend genommen hatte. Man ging ihnen aus dem Weg. Dennoch gab es hin und wieder respektvolle und bewundernde Blicke für Lord Emmereth, der die Stadt vor dem Schlimmsten gerettet hatte. Aber da waren weitaus mehr flüsternde Stimmen und ängstliche Augen. Lord Verneths Mörder. Ein Haufen Männer mit Schwertern.
»Er stirbt an der Hitze!«, hätte Orhan den Leuten am liebsten zugerufen. »An der Hitze!« Wenn er es nur oft genug sagte, würde es vielleicht irgendwann wahr.
Als er seine Räume im Palast betrat, rückte Sekretär Gallus Briefe auf dem Schreibtisch zurecht. Er musterte Orhan einen Moment lang mit der gleichen Nervosität, wie es die Menschen auf den Straßen getan hatten. Ich sollte ein großes Fest geben, dachte Orhan. Um mit anzusehen, wie sie alle Ausreden erfinden, um nichts essen oder trinken zu müssen. Wir hätten es vor der Hochzeit tun sollen, dann wären Darath die hohen Kosten für die Bewirtung erspart geblieben.
»Guten Morgen, Gallus«, sagte er und hörte, wie seine Stimme leicht brach. Ein neuer, grober, rauer Ton schwang darin mit.
»Guten Morgen, mein Lord Nithque«, begrüßte Gallus ihn förmlich.
Orhan warf müde einen Blick auf den Stapel Papiere. »Etwas Interessantes?«
Nach einer kurzen Pause: »Ein weiterer Brief vom Großen Rat von Immish, der Entschädigung für die Immish-Händler verlangt, die während der … der Immish-Invasion angegriffen wurden. Eine weitere Petition der Geldverleiher, die Wiedergutmachung für die Zerstörung ihres Eigentums während der, äh, selben Krise fordern.« Noch eine Pause. »Klatsch vom Hof in Chathe: Prinz Heldan scheint sich vernünftigerweise gegen eine ithische Frau zu sträuben. Klatsch vom Hof in Allene: Königin Amnaia ist erneut schwanger, der Vater unbekannt. Ihre älteren Kinder sind gekränkt, wie zu erwarten war.« Pause. »Und das hier.« Er reichte Orhan ein Pergament.
Klatsch vom Hof, diesmal aus Malth Tyrenae, wo der ithische Hof residierte. Dort war man ebenso zurückhaltend darin, Prinz Heldan als Gatten der ithischen Prinzessin in Betracht zu ziehen, und die chatheanische Delegation rümpfte derart empört die Nasen, dass sie sich beinahe etwas ausrenkten. Sie reisen übereilt ab und drohen schreckliche Dinge an, weil ihr Prinz beleidigt wurde. Ja. Aber all das ist von geringer Bedeutung für den König, und am Hof ist man viel stärker mit den Nachrichten von den Weißen Inseln beschäftigt und redet von kaum etwas anderem. Dort gab es große Unruhen, der alte König ist angeblich tot. Seine beiden Söhne erheben an seiner statt Anspruch auf den Thron. Es wird wahrscheinlich zum Krieg zwischen ihnen kommen, ist die allgemeine Annahme. Ungeachtet der Tatsache, dass es noch vor wenigen Monaten offen hieß, wie ich Euch auch berichtet habe, der ältere Junge, Prinzessin Marissas Sohn, wäre tot … Orhan starrte das Schreiben erstaunt an. »Bürgerkrieg. Großer Tanis. Die Dummheit dieser Menschen. Aber es könnte das Volk von Ith vereinen, schätze ich. Selbst Immish könnte es ablenken. Zwei Jungen. Die Immish könnten sich verpflichtet fühlen, dem Jüngeren gegen Ith beizustehen. Oder …« Aber ich begreife nicht, warum Ihr so nervös seid, dachte Orhan und blickte Gallus ins Gesicht. Du hast Angst, Gallus. Warum im Namen des Großen Tanis solltest du dich deswegen fürchten?
»Nein, mein Lord Nithque.« Gallus deutete auf einen Absatz etwas weiter unten auf der Seite. »Ich … Lest … diesen Abschnitt. ›Der ältere Prinz, Prinzessin Marissas Sohn, ist in Begleitung …‹«
Der ältere Prinz, Prinzessin Marissas Sohn, ist in Begleitung einer Frau, und um sie ranken sich einige höchst seltsame Geschichten. Sie behauptet, die Hohepriesterin des Großen Tanis zu sein, des Herrn über die Lebenden und Sterbenden, der über Alles herrscht, des Einen Gottes Eures Kaiserreiches Sorlost. Es heißt, der Prinz hätte sich höchstpersönlich dessen gerühmt. Ihr werdet gewiss darüber informiert sein, dass er in der Tat behauptet, in Sorlost gewesen zu sein und gar einen Angriff auf den Kaiserpalast angeführt zu haben. Diesbezüglich sind auch einige höchst denkwürdige Geschichten im Umlauf, denen ich allerdings keinen Glauben schenke. Denn ich weiß ja von Euch persönlich, dass die Immish den Palast angegriffen haben. Auch wenn die Immish es leugnen. Aber das war zu erwarten. Doch zurück zu meiner Geschichte: Die Frau soll sehr jung sein, kaum dem Kindesalter entwachsen, und wunderschön, mit dunkler Haut, schwarzem Haar und blauen Augen. Meines Wissens wurde die Hohepriesterin genau so beschrieben, nicht wahr? Alle hier sind sich diesbezüglich unsicher, denn es kursiert eine weitere Geschichte, dass sowohl die Hohepriesterin von Sorlost als auch der Kaiser den Tod gefunden hätten. In dieser Hinsicht herrscht große Unsicherheit; dass der Kaiser tot ist, kann ich mit Sicherheit als Lüge abtun, da Ihr mir selbst das Gegenteil versichert habt. Doch was ihre Person angeht, so soll der Prinz vernarrt in sie sein, und er hat befohlen, sie mit ›Königin‹ anzureden, und plant, sie zu heiraten – auch wenn Ihr Euch sicher erinnern werdet, dass er noch im letzten Jahr ähnlich vernarrt in einen jungen Adligen war, der längst tot ist …
Tot.
Tot.
»Versteht Ihr es jetzt, mein Lord?«, fragte Gallus.
Orhan legte das Schriftstück auf den Tisch. Seine Hände zitterten. Plötzlich hatte er den beißenden Geruch von verbranntem Fleisch und sich ausbreitendem Blut in der Nase. Ihm wurde speiübel. Die Welt drehte sich um ihn, der Boden schien einer wankenden, umherwabernden Dunkelheit zu weichen. Das ist nicht wahr. Das sind nur Geschichten. Fantasien. Träume. Lügen. Eine schwere Last legte sich auf seine Schultern, er fühlte sich unendlich alt, und sein Innerstes verkrampfte sich. Mir ist nicht gut, dachte er. Ich muss mich übergeben.
»Mein Lord?« Gallus beäugte ihn. Wirkte verängstigt.
»Wer … wer weiß noch davon? Hat das irgendjemand gesehen?«
»Keiner außer Euch und mir, mein Lord Nithque«, antwortete Gallus. »Bisher«, fügte er hinzu.
Die Geschichten wurden noch am selben Tag in den Weinschenken in Umlauf gebracht. Ein Freund eines Freundes hatte einen Händler getroffen, der mit einem Mann aus Reneneth oder Skerneheh verkehrte, der wiederum einen Mann aus Ith oder Illyr gesprochen hatte, dem ein Mann von den Weißen Inseln begegnet war, der eine seltsame Kunde zu berichten hatte. Die Altrersyr regten sich, kämpften untereinander, machten sich bereit für den Krieg. Ein neuer König war ausgerufen worden, der angeblich der wiedergeborene Amrath war. Er sei groß wie ein Berg, wunderschön wie der Sonnenaufgang, von seinem Schwert tropfe Blut, seine Parolen lauteten Ruin, Tod und Schmerz. An seiner Seite stehe eine Hexe, die sich dem Großen Tanis, dem Herrn über die Lebenden und die Sterbenden verschworen und sich für seine Liebe von ihrem Gott abgewandt habe. Um ihretwillen hatte er den Großen Tempel niedergebrannt, den Sommerpalast angegriffen, gegen Drachen gekämpft, die Wache des Kaisers getötet. Er war König der Weißen Inseln, und jeder Mann auf den Weißen Inseln liebte ihn. Er war König der Weißen Inseln, und jeder Mann, der nicht vor ihm niedersank und ihm huldigte, wurde getötet. Sein Gesicht schimmerte wie strahlendes Licht. Seine Augen waren zu schrecklich, um hineinzublicken. Seine Auserwählte war die schönste Frau in der Geschichte der Welt.
»Lügen.« »Absurditäten.« »Blasphemie.« »Die Hohepriesterin Thalia ist tot.« »Der Erbe der Weißen Inseln ist tot.« »Der Erbe der Weißen Inseln war ein verschriener Hathasüchtiger und Trunkenbold.« »Der Erbe der Weißen Inseln hatte den Verstand verloren.« »Die Hohepriesterin Thalia ist tot.«
So lauteten die Gerüchte am ersten Tag. Der Freund eines Freundes hatte mit einem Händler gesprochen, der selbst betrunken, hathasüchtig oder verrückt war. Wenn doch wenigstens einer den Namen seines Informanten nennen oder Beweise vorlegen könnte. Da war dieser Zwischenfall vor zehn Jahren, die Belagerung von Telea, als die Immish dieses arme Mädchen verkleidet und behauptet hatten, sie wäre die Tochter des Rädelsführers, um sie sodann zu töten. Der letzte König von Tarboran war vor zweihundert Jahren gestorben, und noch immer gab es irgendjemanden, der behauptete, sein Erbe zu sein. Seltsame, bizarre Ereignisse. Unmöglich zu begreifen, nicht wahr, dass eine wunderschöne junge Frau von zwanzig Jahren, die ihr ganzes Leben in einem beengten Gebäude verbracht hatte, mit einem glamourösen jungen Fremden durchbrennen könnte, was?
Am zweiten Tag der Gerüchteküche setzten sich der Kaiser und die Hohen Lords im Rat zusammen. Der Kaiser naht! Der Kaiser naht! Kniet nieder für den Kaiser, den Ewigen Herrscher über die Goldene Stadt Sorlost! Der laute Knall der Bronzetüren, die geöffnet und wieder geschlossen wurden. Die energischen Schritte der Soldaten.
Orhan saß dem Kaiser gegenüber am Tisch.
Feindselige Gesichter rings um ihn herum.
»Ihr habt behauptet, sie wäre tot«, sagte Cammor Tardein, der Lord der Trockenen See, Bewohner des Hauses der Brechenden Wellen.
»Ihr habt uns ihre Leiche gezeigt und eine Rede gehalten«, fügte Aris Ventuel hinzu, der Lord der Leeren Spiegel, Bewohner des Hauses des Glases. »Dass wir dafür sorgen müssen, dass ihr Tod nicht vergebens gewesen ist.«
»Ihr habt uns erzählt, die Eindringlinge wären Immish«, schaltete sich Samneon Magreth ein, der Lord des Südlichen Himmels, Bewohner des Hauses des Nebels. »Und dass sie alle tot wären.«
Tot. Alle Anwesenden sahen zu den leeren Stühlen, auf denen March Verneth und Tam Rhyl hätten sitzen sollen. Darath und Elis saßen nebeneinander und ein Stück von Orhan entfernt, wobei sich Elis’ Platz neben dem verwaisten seines Schwiegervaters befand.
Tot. Alle tot.
Orhan öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Erinnerungen. Augen, die ihn anstarrten. Augen wie Messerklingen. Eine schreiende Stimme. Ein Junge, bis zu den Augäpfeln in Blut getränkt, lodernd wie ein Stern.
Tot.
»Tot.« Seine Stimme schien durch dicken, trockenen Staub zu kommen. Er hatte den Geschmack von Blut im Mund. »Die Eindringlinge sind alle tot.«
»Lord Emmereth?«, fragte Cammor Tardein.
»Die Hohepriesterin Thalia ist tot, und die Eindringlinge kamen aus Immish«, fuhr Orhan fort. »Was immer auf den Weißen Inseln geschieht, ist Wahnsinn und gelogen.«
Ein Junge. Ein wunderschöner, schimmernder, schreiender, blutgetränkter Junge. Tot. Tot. Tot.
»Die Hohepriesterin Demerele hat das rote Los gezogen«, sagte Darath. »Die Hohepriesterin Demerele, die jetzige Hohepriesterin, hat das rote Los gezogen. Nur wenige Tage vor dem vorzeitigen Tod der Hohepriesterin Thalia. Hätte der Große Tanis Demerele nicht erwählt, hätte sie das rote Los nicht gezogen.«
»Das muss doch etwas zu bedeuten haben, oder nicht?«, sagte Orhan sehr, sehr langsam und mit trockener, rissiger Stimme.
»Die Altrersyr sind Lügner und Betrüger. Verfluchte Dämonen«, schimpfte Darath. »Aber der Asekemlene-Kaiser lässt sich nicht täuschen. Der Kaiser hat die Leiche der Hohepriesterin Thalia mit eigenen Augen gesehen. Der Gott selbst, der Große Tanis, der Herr über die Lebenden und die Sterbenden, hat dafür gesorgt, dass uns eine neue Hohepriesterin zur Verfügung steht und dass wir nach dem Tod der Hohepriesterin Thalia nicht im Stich gelassen wurden. Wer würde es wagen, dem Asekemlene-Kaiser und dem Gott zu widersprechen?«
Orhan Emmereth war ein vernünftiger Mann. Es hatte ihn fünfzehn Taler gekostet, damit Demerele das rote Los zog. Ja, dachte er, ja, so ist es.
Der Kaiser regte sich. Ergriff das Wort. Ein schwacher, blasser Mann, der Kaiser, weder klug noch gut aussehend, Gesicht und Bauch aufgedunsen, zerplatzte rote Adern auf der Nase. Der Sohn eines Fischhändlers in einer Wüstenstadt. Ein Rabe war auf den Füßen des Jungen gelandet und hatte »Kaiser« gekrächzt, und die Hohepriesterin Caleste hatte seufzend bestätigt, dass es sich bei dem Kind tatsächlich um den wiedergeborenen Asekemlene-Kaiser handelte, den Ewig Lebenden, den Immerwährenden, den Gatten der Stadt, das Gesegnete Goldene Licht der aufgehenden Sonne.
»Ich habe ihre Leiche in einem silbernen Sarg gesehen«, bestätigte der Kaiser. »Ich hatte den Vorsitz bei ihrem Begräbnis. Ich habe die Immish-Attentäter gesehen. Ich schrieb einen Brief an den Hohen Rat von Immish, um gegen den Angriff auf mich zu protestieren. Wurde ich getäuscht? Habe ich gelogen?«
Schweigen.
»Der Kaiser kann nicht getäuscht werden«, erklärte der Kaiser.
»Wenn jemand diese Lügen wiederholt, sollte er wegen Blasphemie gegen den Gott und wegen Verrat gegen den Kaiser exekutiert werden«, verlangte Darath.
Das waren die falschen Worte. Abermals zuckten die Blicke zur Seite. Zu den leeren Stühlen von March Verneth und Tam Rhyl. Orhan spürte, wie er zusammenzuckte. Er hatte furchtbare Angst, sich übergeben zu müssen.
»Und dann kann sich diese Stadt vielleicht vom Blutvergießen erholen«, schloss der Kaiser.
»Darum beten wir alle«, erwiderte Cammor Tardein und sah Orhan dabei an.
Der Kaiser erhob sich. Die Hohen Lords des Sekemleth-Reiches standen auf und knieten sich vor ihn auf den Boden. Die Doppeltür des Ratszimmers fiel mit dem lauten Knall frisch geschmiedeter Bronze zu.
Ein Junge mit Augen wie Messerklingen. Wunderschön. Schimmernd. Aber sie waren alle tot. Sie stammten aus Immish, ein angeheuerter Trupp, gemeine Söldner aus Immish, sie waren alle tot. Und die Erinnerung, Großer Tanis, die Erinnerung an die Leiche der Frau, erstochen und gebrochen, und wie sein Schwert auf sie herabfuhr und ihr Gesicht in eine blutige Masse verwandelte, damit man sie nicht mehr erkennen konnte. Das war nicht einmal das Schlimmste, was er getan hatte.
»Die Hohepriesterin Thalia ist tot, die Eindringlinge kamen aus Immish, und sie sind alle tot.«
»Orhan.« Darath nahm seinen Arm. »Auf ein Wort.« Darath hatte dunkle, schrecklich hasserfüllte Augen. Er weiß, dass ich ihm untreu gewesen bin, dachte Orhan. Sie hatten seit dem Tag, an dem March vergiftet worden war, nicht mehr miteinander gesprochen. Trotz allem hätte er am liebsten eine Krankheit vorgetäuscht, um Darath hier nicht sehen zu müssen; trotz allem machte sein Herz schon bei dem Gedanken, dass er Darath hier sehen würde, einen Satz. Eine Ausrede, um mit ihm zu reden. Diese neue Katastrophe, vielleicht ist sie eine Brücke zwischen uns und kann glätten, was wir getan haben. Wir werden von noch mehr Chaos heimgesucht, und du hast gut daran getan, March zu töten, Darath, das ist mir nun bewusst geworden. Denn was hätte March aus dieser neuen Möglichkeit, uns anzugreifen, wohl gemacht?
»Auf ein Wort«, wiederholte Darath. »Jetzt.«
Sie gingen schweigend den ganzen Weg zum Haus des Ostens. Darath versuchte, Orhan weder in die Augen zu sehen noch seine Hand zu berühren.
»Du hast mich betrogen«, sagte Darath, als sie sich allein in Orhans Schlafzimmer befanden. Seine Stimme klang verbittert und eisig.
»Ich … ich kann es nicht erklären. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was über mich gekommen ist.« Sag ihm einfach, dass es dir leidtut. Sag ihm …
Darath schlug ihn ins Gesicht; ein Ring verletzte seine Haut, die zu bluten begann.
»Du manipulativer, gemeiner, böser, verlogener Mistkerl! Du hast mich benutzt! All diese wundervollen Reden darüber, dass du die Stadt retten willst, dass wir wieder groß werden sollen, über die Armen und Hungernden, dass wir uns vor der Gefahr durch die Immish schützen müssten. Und du hast uns an die dreifach verdammten, vermaledeiten Altrersyr verkauft! Ich habe dafür bezahlt! Ich habe dafür gekämpft! Die Altrersyr! Was im Namen des Gottes haben sie dir dafür angeboten? Wie viel kann dafür wohl genug gewesen sein?«
Schrecken. Erstaunen. Entsetzen. Einen Augenblick konnte Orhan ihm nicht einmal folgen.
»Ich habe Elis versichert, dass ich an dich glaube! Dass er seinen Teil zum Wiederaufbau des Reiches beiträgt, indem er Leada heiratet! Meinen Bruder! Ich habe meinen Bruder dazu gebracht, seinen eigenen Schwiegervater in seinem eigenen Haus zu vergiften!«
»Elis? Du hast es Elis tun lassen?«
Daraths Gesicht war inzwischen dunkelrot angelaufen. »Ja, ich habe es Elis tun lassen! Ich habe Elis dazu gebracht, den Vater seiner Frau zu töten! Für dich! Wie hätte ich das deiner Meinung nach denn sonst anstellen sollen?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken. Ich … Es tut mir leid. Ich …«
Darath schlug ihm noch einmal ins Gesicht, und seine Augen brannten. »Es tut dir leid! Du hast uns an die verdammten Altrersyr verkauft! Was in aller Welt haben sie dir angeboten? Wie kann irgendetwas für all das genug gewesen sein? Du weißt, was sie Tams Tochter angetan haben. Du weißt, wie sie sind, verdammt noch mal. Seit Abertausenden von Jahren unsere Feinde! Tod und Ruin! Und du hast uns an sie verkauft!« Speichel sammelte sich auf Daraths Lippen. Tränen liefen ihm über die Wangen. Orhan hatte ihn noch nie so wütend gesehen. »Monster! Du hast uns an sie verkauft, Orhan!«
»Nein! Darath, nein, bitte!«
»Du hast mich verkauft! Du hast mich dazu gebracht, dir zu helfen! Ich habe ihnen Geld gegeben!«
»Nein …«
Darath bleckte wie ein Hund die Zähne. »Du Mistkerl! Du verlogener, giftiger, hasserfüllter Mistkerl!«
»Ich verstehe das nicht. Nichts davon.« Orhan fühlte sich wie ein Mann ohne Schwert und Rüstung, der sich zusammenkauerte und mit ausgestreckter Hand versuchte, den Todesstoß abzuwehren.
»Was zum Henker gibt es da nicht zu verstehen, Orhan? Du hast dafür gesorgt, dass der neue König der Weißen Inseln den Palast niederbrennen, den Tempel entweihen und die Hohepriesterin entführen konnte. Damit er vor seinen Saufkumpanen damit prahlen kann! Warum im Namen des Gottes? Warum? Warum? Hat er dir etwas versprochen? Land? Titel? Gold? Seine Liebe? Läufst du fort auf die Weißen Inseln, um an seinem Hof zu leben? Seit wann planst du das schon?« Ein furchtbares Glitzern war in Daraths Augen zu sehen. »Hast du mich darum wieder in dein Bett gelassen? Um mich auf deine Seite zu bringen? Damit ich dir helfe, deinen hübschen Freund zum König zu machen?«
»Aber sie … sie waren nur angeheuerte Söldner aus Immish. Ich wusste nicht, dass sie Verbindungen zu den Weißen Inseln hatten. Woher hätte ich das auch wissen sollen? Warum hätte ich das tun sollen? Warum hätte … warum hätte dieser Mann, dieser König, so etwas überhaupt in Betracht ziehen sollen? Und sie sind tot. Sie sind alle tot. Ich habe sie gesehen. Die Hohepriesterin Thalia ist tot, und die Eindringlinge stammten aus Immish, und sie sind alle tot.«
Tot. Tot.
Es klang so erbärmlich. Seine Stimme leise wie raschelndes Laub. Augen wie Messerklingen starrten ihn an. Eine Stimme schrie: »Jetzt seid Ihr an der Reihe.« Ein Junge, bis zu den Augäpfeln mit Blut getränkt, der rücklings durch zerbrechendes, strahlendes Glas stürzt. Wir hatten zu große Angst, um ihn zu suchen, dachte Orhan. Keiner wollte sich auf die Suche nach ihm machen. Nicht da draußen in der Dunkelheit. Seine Augen, die einen auch im Dunkeln sahen … Der Junge hob sein Schwert, und Tam zitterte, schrie, verlor die Kontrolle über seinen Körper. Tam, der im Sterben »Lebendig« keuchte.
»Was haben wir getan? Was hast du getan? Er wird uns töten, Orhan!«
Wir haben die Männer, die den Palast angriffen, fürs Sterben bezahlt. Wir haben sie getötet. Wir haben sie alle getötet. Daran erinnere ich mich. Ich dachte, ich hätte es getan, hätte sie getötet. Tot.
Tot. Tot. Tot. Tot.
»Sie sind genau so, wie alle behaupten. Und schlimmer«, hatte Tam Rhyl bei seiner Rückkehr von den Weißen Inseln gesagt. Er war in der Annahme losgesegelt, Tiothlyn Altrersyr würde seine Tochter heiraten. Er war zurückgesegelt, während der Schoß seiner Tochter von innen heraus verrottete und sie vor Schmerzen zum Krüppel wurde. »Das hat er selbst getan«, hatte Tam Rhyl geschrien. »Er hat ihr einen Brief geschickt. Ihr alles gestanden. Wäre der Große Tanis gnädig, würde er Malth Elelane vom Angesicht der Erde tilgen.«
»Ich wusste es nicht! Bei den Gottesmessern, ich schwöre, dass ich nichts davon wusste!«
»Lügner! Nichts als verdammte Lügen. Du bist ein Lügner, Orhan!«
»Ich schwöre es! Ich wusste es nicht! Ich schwöre beim Großen Tanis …«
»Lügner!«
»Nein … Bitte, Darath. Bitte!«
»Ich bringe dich um! Das schwöre ich! Ich werde dafür sorgen, dass du und alle, die zu dir gehören, einen qualvollen Tod erleiden! Das schwöre ich!«
Und das, das war wohl das Schrecklichste, was er je gehört hatte und jemals hören würde.
Sie verharrten, und die Worte hingen schwer zwischen ihnen in der Luft, sichtbar, hell wie Sonnenstrahlen, zu schrecklich, um sie zurücknehmen zu können. Beide atmeten schwer, weinten, ihre Seelen bluteten vor Trauer, Angst in ihren Augen.
Orhan sank langsam vor Darath auf die Knie. »Ich schwöre dir bei meinem Leben und meiner Liebe und meinem Todestag, dass ich es nicht gewusst habe.«
Darath blickte eine gefühlte Ewigkeit auf ihn herab. Starr. Reglos wie Stein.
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Bei meinem Leben und meinem Tod und meiner Liebe zu dir. Ich habe es nicht gewusst.«
Darath seufzte, und dieses zerhackte, erschaudernde Geräusch durchfuhr ebenso seinen Körper wie Orhans. »›Bei deiner Liebe zu mir‹? Du fickst eine dreckige Straßenhure und schwörst mir deine Liebe?«
»Ja. Ja. Ich habe eine dreckige Straßenhure gefickt und schwöre dir meine Liebe.«
Langes Schweigen. Dann lachte Darath auf wie ein Mann, der an einer schweren Krankheit starb. »Und das tut dir vermutlich ebenfalls leid?« Er lachte und weinte und trommelte gegen Orhans Brust. »Und ich schätze, er wird sich als der letzte wahre König von Tarboran herausstellen, dein Straßenköter?« Und Orhan umklammerte ihn so fest, dass es wehtat, rang beinahe mit ihm, stieß immer wieder schluchzend »Es tut mir leid« hervor, während ihm die Tränen über die Wangen strömten.
Und dann kam ein Diener hereingestürmt, überaus verängstigt, weil er sie unterbrach, um ihnen mitzuteilen, dass bei Bil die Wehen eingesetzt hatten.