20

Glück. Trauer. Hoffnung. Verzweiflung.

Lan stand im Schnee vor den Toren von Morrstadt und blickte zu den Mauern hinauf.

Sie, die Sorlost in der goldenen Wüste gesehen hatte, die Weiße Stadt Alborn, die sich auf fünf Hügeln über dem Iannetsumpf erhob, sie hätte Morrstadt nicht mehr imposant finden dürfen. Und bei ihrem letzten Besuch waren noch alle am Leben gewesen. Dennoch stockte ihr der Atem, als sie die hohen Steinmauern erblickte, das offene Tor, die roten Umhänge der Wachen, den mittleren Turm von Malth Elelane, der in der Sonne glänzte, Eltheias leuchtender Diamant an der Spitze, um die Schiffe der Altrersyr-Könige nach Hause zu rufen. In der Tat der Turm der Freude und Verzweiflung. Unverändert. Unveränderlich.

Der Schnee türmte sich an den Stadtmauern hoch auf. Die Wachen stampften mit den Füßen, die Gesichter bläulich angelaufen. Immerhin trugen sie Felle. Zudem sahen sie gelangweilt aus, wie sie da herumliefen und die Straße im Auge behielten. Im Schnee und einen Tag nach Ende der Sonnenrückkehr waren nur wenige Menschen unterwegs. Es gab keinen Grund, zu kommen oder zu gehen. Nichts wuchs. Nichts war am Leben. Eine der Wachen gähnte und ließ den roten Mund erkennen. Der Atem dampfte. Der Wachmann stampfte erneut auf und schüttelte den Kopf. Der Schnee zu seinen Füßen war zu hartem, schlammigem braunem Eis festgetreten. Es war derselbe Mann, der gestern hier gestanden hatte und am Tag zuvor.

Seit drei Tagen kam sie nun schon zum Tor, wappnete sich, um hindurchzugehen, und schaffte es dann doch nicht. Sie schlief in einer leerstehenden Scheune einen einstündigen Fußweg von der Stadt entfernt. Zwei Tage nach ihrem Aufbruch aus Rus Hütte hatte es angefangen zu schneien, der Wind hatte aufgefrischt, und sie hatte so einen langen Weg vor sich, musste sich mit eiskalten Fingern und frierenden Zehen ihren Weg durch die Kälte bahnen. Sie hätte umkehren sollen. Zurück in die geschützte Hütte gehen, und sie machte sich Sorgen um Ru bei dem vielen Schnee und ob das Mädchen aus dem Dorf sich gut um sie kümmerte. Der Winter war wie eine grausame Mutter, die ihre eigenen Kinder verschlang; die Armen ließen Opfergaben im Freien liegen in der Hoffnung, sie würde ihren Hunger zügeln und sie und die Ihren verschonen. Lan hatte an einem Hof haltgemacht, wo man sie im Heuschober schlafen ließ und ihr etwas Brot gab, wofür sie als Gegenleistung die Böden schrubbte, und als sie die Arbeit nicht länger ertragen konnte, war sie weitergezogen. Es war so kalt. Sie kam nur langsam voran, einen schmerzvollen Schritt nach dem anderen. Manchmal krümmte sie sich wie eine alte, verkrüppelte Frau, und der Schnee stach ihr ins Gesicht. Es war ein Kampf. Sie hätte zu Ru zurückkehren können, und sie machte sich Sorgen um Ru. Aber wenn sie umkehrte, würde sie nie mehr weggehen. Es war schrecklich kalt in der Scheune, der Schnee wehte durch die rissigen Wände herein, der Frost ließ den Boden und die Wände gefrieren, Lan verbrannte in der Scheune Holz, um sich zu wärmen, saß hungrig und mit zitternden Händen in der Kälte. Rote, offene Wunden zeichneten sich auf ihren Händen ab. Sie konnte nicht umkehren. Aber sie konnte auch nicht in die Stadt gehen. Wenn sie vor dem Tor stand, kam sie nicht mehr weiter. Sie machte sich auf den Rückweg zur Scheune. Ich sterbe, dachte sie. Sie musste an Ru ohne ihre Haut denken. So stolz.

Die Wachen traten zur Seite, als die Gruppe durch das Tor kam. Große, wunderschöne Pferde, prachtvolle Felle, bewaffnete Männer um eine Frau auf einem cremefarben-weißen Pferd. Sie kamen näher. Lan blieb stehen. Ohne nachzudenken, trat sie vor die Pferde. Thalia, in schwarze Felle gehüllt, blickte auf sie herab. Eine Wache brüllte sie an, der Königin aus dem Weg zu gehen. Sich in den Schnee zu knien. Die Pferde kamen näher. Lan wich ein Stück zurück aus Angst vor den Tieren und den Wachen.

Zum ersten Mal hatte sie Angst vor Pferden und bewaffneten Männern. Sie wich langsam an den Straßenrand und in den Schnee zurück.

»Halt«, sagte Thalia. Die Pferde blieben stehen. Lan atmete erleichtert auf und wollte sich auf den Rückweg zur Scheune machen.

Eine Männerstimme brüllte: »Halt hat die Königin gesagt! Du! Knie nieder!« Lan schrak zusammen. Stand reglos und wie erstarrt da, fiel im Schnee auf die Knie. Kalt. Oh, so kalt. Sie fing an zu zittern.

Vorsichtig ritt Thalia auf ihrem Pferd näher. Blickte mit ihrem traurigen, liebreizenden Gesicht herab, weißen Schnee im lockigen dunklen Haar. Es glich einem schlechten Witz, wenn man an ihre erste Begegnung dachte, Lady Landra hoch zu Ross, die auf das verzweifelte, erbärmliche Mädchen hinabblickte. Sie konnte Thalia ansehen und es spüren, dass sie sich ebenfalls daran erinnerte.

»Steh auf.«

Lan erhob sich zitternd. Ich habe dich gebrochen, dachte sie. Ich habe dich verletzt. Ich habe dir die Haut genommen.

Aber er hat dich geliebt. Er hätte dich nicht lieben dürfen. Er hat Carin geliebt.

»Sie friert«, sagte Thalia. »Garet, gib ihr deinen Umhang.«

Verwirrung. Jemand war nicht besonders glücklich über diesen Befehl. Aber man legte ihr ein dickes Fell um, warm und weich und nach Holzrauch duftend. Sie stand da und starrte. Thalia starrte zurück. All dies war wie eine Umkehrung dessen, was einst gewesen war.

»Wir können nicht hier herumstehen«, meinte Thalia. Sie musterte ihre Wachen. »Jemand muss sie auf sein Pferd nehmen. Du, Brychan.« Der Mann nickte unzufrieden und verwirrt. Sie ritten weiter, bogen mit den Pferden auf einen Weg ein, der hinunter in den dicht verschneiten Wald führte. Lan saß da und atmete den Geruch nach Pferd und Fell ein. So viele Schmerzen, so große Angst. Aber es war für sie unvorstellbar, dass Thalia ihr etwas antun könnte. All das ist nur ein Traum, sagte sie sich. Nicht wirklich. Nichts war mehr wirklich gewesen, seitdem Malth Salene niedergebrannt war. Oder seit dem Tod ihres Bruders. Der Geruch nach Pferd und Fell und die Bewegungen des Tieres waren wirklich.

Sie gelangten auf eine kleine Lichtung im Wald. Ganz ruhig und still: Die Wälder rings um Morrstadt gehörten dem König, keiner betrat sie. Eine Laube aus Buchenstämmen stand in der Mitte der Lichtung. Junge Bäume mit leuchtenden kupferfarbenen Blättern, die noch an den Ästen hingen, umgeben von silbrig-weißem Frost. Bei den Bäumen rings um die Lichtung handelte es sich um Graubirken, deren Stämme weißer waren als der weiße Schnee, so weiß, dass die Haut an Lans Händen zu jucken begann, weil sie so trocken aussahen.

Ein Mann half Thalia beim Absteigen. Er wollte auch Lan helfen, aber sie rutschte mit einem abfälligen Schnauben vom Pferderücken, von dem sie genau wusste, wie töricht es war.

»Nehmt die Pferde«, verlangte Thalia. »Wartet auf dem Weg.« Brychan musterte sie unsicher; er ist halb voller Liebe und halb voller Verlangen, dachte Lan, er betet sie an. Sie riss die blauen Augen auf, und Brychan nickte. Die Männer ließen sie allein. Thalia deutete auf die Laube.

Für einen Moment war es wärmer und eine Erleichterung, vor dem Wind geschützt zu sein. Das seltsame metallische Rascheln der Blätter. Schatten. Weißer Schnee hell auf dem Fell von Thalias Umhang.

»Du hast überlebt«, sagte Thalia.

»Wirst du es ihm sagen?«

Ein Seufzen. »Nein. Ich werde es ihm nicht sagen.«

»Er hat Tiothlyn getötet.« Die Gerüchte waren auf allen Straßen zu hören gewesen, der Prinz und die Königin tot nach schwerer Folter, lebendig an die Mauern von Malth Elelane genagelt. Geopfert wie Pferde auf dem Grab des alten Königs. Selbst ohne die Gerüchte wäre sich Lan sicher gewesen – wenn Marith am Leben war, musste Ti tot sein.

Thalia verzog das Gesicht. Kalte, traurige Furcht. Trauer. Der schwache, geisterhafte Geruch nach Blut.

»Er … Das war Selerie. Er … er wollte nicht, dass das geschieht. Ebenso wenig wie ich.«

»Hat er sich betrunken und deswegen geweint?« Ein rauer, spöttischer Unterton schlich sich in Lans krächzende Stimme. Sie dachte: Ich habe keine Angst vor dir, Frau, was immer du auch bist, ebenso wenig, wie ich mich vor ihm fürchte, was immer er auch sein mag. Siehst du, wie ich ihn verschmähe? Aber sie erschauderte. Die blauen Augen flackerten, und alle Härchen in Lans Nacken stellten sich auf, als hätte sie einen Falkenschrei vernommen.

»Manchmal ruft er im Schlaf ihre Namen. Tiothlyns. Illyns. Den deines Bruders.« Thalia hielt inne, und Lan wollte schon etwas sagen, doch dann sprach sie weiter. »Er hat sich betrunken und deswegen geweint.« Sie sah beinahe so aus, als müsste sie lachen.

»Und Königin Elayne?«

»Sie … Er ruft auch ihren Namen. ›Mutter‹, ruft er sie. Dann versucht er, sich zu korrigieren. Aber sie … sie lag ohnehin im Sterben. Sie hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, als ihr bewusst wurde, dass sie verloren hatten.« Eine erneute Pause. Mit der Stimme der Priesterin des Totengottes von Sorlost fügte Thalia hinzu: »Sie hat seine leibliche Mutter getötet.«

Ach, bei den Göttern. Nicht das schon wieder. »Nein, das hat sie nicht«, erwiderte Lan hitzig.

Wieder flackerten die blauen Augen. »Dann hat sie seinen Vater dazu gebracht.«

»Nein, das hat sie nicht.«

»Das wissen doch alle.«

»Alle wissen, dass es nicht stimmt!« Das alte Gerücht, das König Illyns Ehe mit Königin Elayne von Anfang an belastet hatte. Es flackerte auf, wurde erstickt, flackerte abermals auf. Dann war Marith aufgestanden und hatte es seinem Vater ins Gesicht geschrien. Sturzbetrunken, hatte Carin hinterher gesagt, er hatte vorher drei Tage lang Hatha genommen, immer wieder das Bewusstsein verloren, geweint, war schwankend vorgetreten und hatte die Worte förmlich ausgespien. Der König, sein Vater, hatte ihn geschlagen. Er hätte ihn getötet, hatte Carin gesagt, wenn Königin Elayne das gezogene Schwert nicht mit bloßer Hand aufgehalten hätte.

Landra hatte die Buße mit angesehen, die König Illyn am nächsten Morgen verordnet hatte, als Marith bleich und zitternd schwor, sich an nichts von dem erinnern zu können, was er gesagt hatte, und gewusst, dass es Lügen waren. Sie alle wussten, dass Marith verrückt war. Kurz darauf hatte ein Freund von Ti ein Spiel erfunden, bei dem man darauf wettete, wie lange es noch dauerte, bis er entweder starb oder völlig den Verstand verlor. Seine zitternden weißen Hände und seine leeren, rot umrandeten Augen.

»Er hat es mir selbst gesagt. Und Selerie. Darum haben sie es getan. Aus Rache. Elayne hat seine Mutter getötet, um an ihrer Stelle Königin zu werden.«

»Seine Mutter ist gestorben, weil ein Kind in ihrem Leib nicht richtig gewachsen ist. Natürlich reden die Leute dann von Gift. Erst recht, wenn ein König oder eine Königin stirbt. Aber sie ist wegen eines Kindes gestorben. Wie es bei den Altrersyr-Frauen häufig der Fall ist.«

Thalia stand schweigend da. Sie haben diese Laube für sie gebaut, ging es Lan auf. Für sie und ihn, damit sie König und Königin im Schnee sein konnten. Er liebt den Schnee.

»Mein Vater war am Hof, als es passiert ist. Sie hat geblutet. Ist gestorben. Der König hat jeden Heiler auf Seneth rufen lassen, um ihr zu helfen. Alte, weise Selkiefrauen, einen Magier, Dorfhexen mit Talismanen, die angeblich Bauernmädchen gerettet hatten, die an der gleichen Sache litten. Aber sie ist gestorben. Zu kurz nach dem ersten Kind, sagten sie, ihr Körper war zu schwach. Damals standen sich der König und mein Vater nahe. Er hätte es gewusst, hat er gesagt, wenn es etwas anderes gewesen wäre. Es ist nichts Ungewöhnliches. Königin Elayne wäre bei Tis Geburt auch beinahe gestorben. König Illyns Mutter kam im Kindbett um.«

Thalia schwieg. Ihre Hände flatterten herum, bevor sie auf ihrem Bauch landeten, als würde sie eine Stichwunde umklammern. Sie bohrte die langen Finger ins Fell.

»Mein Vater hat mir das alles erzählt. Die Relasts und die Murades, die Familie der Königin, sind Erzfeinde: Mein Vater hatte keinen Grund, Königin Elayne zu schützen.«

»Ich …« Thalias Gesicht schien nicht mehr ganz so zu strahlen. Sie sah sich in der Laube um, hatte die Hände noch immer auf dem Bauch und im Fell vergraben. »Das ist auch nicht mehr wichtig. Es ist vorbei. Er ist der König, und ich bin die Königin, und sein Vater, seine Mutter und alle anderen sind tot und Vergangenheit.«

»Er hat sie getötet«, sagte Lan.

»Das hat er«, bestätigte Thalia.

»Geh fort«, hörte sich Lan unvermittelt sagen. »Geh jetzt mit mir fort. Wir könnten weggehen, es gibt Menschen, die uns helfen würden, wir könnten nach Immish gehen, nach Alborn oder dich zurück nach Sorlost bringen. Du kannst ihn verlassen.« Sie dachte: Du bist noch einsamer als ich, Königin Thalia von den Weißen Inseln, klammerst du dich deshalb so an ihn? Ohne ihn weißt du nichts und bist du nichts. Aber ich kann dir helfen. Sie überlegte fieberhaft, Thalia mit zu Rus Hütte zu nehmen, wo die beiden Frauen den Rest ihres Lebens zusammen stinkenden Goldstoff weben konnten. »Ich kann dir helfen«, beharrte Lan.

Kalte, traurige Furcht. Trauer. Der schwache, geisterhafte Geruch nach Blut. Draußen fielen immer mehr Flocken vom Himmel.

Thalia erschauderte und zog ihren Umhang enger um sich. »Denkst du wirklich, ich möchte von ihm wegkommen?«

Wie kannst du etwas anderes wollen?, dachte Lan. Sieh dich doch an! Und ihn!

»Mich von ihm befreien!« Blaue Augen so riesig wie Welten. Lan spürte, dass sie am ganzen Leib zitterte. So viel Licht in der Laube, Regenbögen vor Lans Augen, Bronzeblätter und weißer Schnee, viel zu hell, die weißen Bäume dahinter wie Magierglas und trocken wie Knochen. Thalia stand in ihren Fellen da, unbarmherzig, endlose Trauer ging von ihr aus, wunderschön wie ein schlagendes Herz. »Ich hätte mir etwas anderes gewünscht, aber es ist zu spät.« Kurz schloss sie die blauen Augen. Aufgewirbelter Schnee. Weißes Feuer tanzte auf Bronzeblättern, weiß wie die Borke der weißen Bäume.

Für ein Nichts hatte Landra diese Frau gehalten. Für eine Hure oder Hathafresserin, die Marith irgendwo aufgelesen hatte. Nachdem sie erfahren hatte, was sie war, hatte sie Mitleid empfunden. Mariths Opfer, gefangen in einem Joch. Gefesselt. Entstellt. Verkrüppelt.

Weißes Licht flackerte auf den trockenen Blättern und den kargen Ästen. Floss wie Wasser aus dem wunderschönen Gesicht.

Diese Frau war nicht bemitleidenswert.

»Ich halte sein Leben in meinen Händen. Sein Leben oder seinen Tod. Er lebt, weil ich es so will. Vielleicht solltest du ihn lieber fragen, ob er frei von mir sein möchte.« Die schreckliche Stimme wurde sanfter. »Fünfzehn Jahre lang habe ich Männer, Frauen und Kinder für eine Stadt getötet, von der ich so gut wie nichts sehen konnte. Eine Gefangene in einem Bronzekäfig. Mein einziger Zweck war das Töten, damit andere leben konnten. Leben für die Lebenden, Tod für die Toten. Eine heilige Berufung. Nützlich. Notwendig. Ich bereue es nicht. Aber … draußen in der Stadt, der Stadt, für die ich Blut vergossen habe, bedeutete das gar nichts. Da gab es Grausamkeit. Schmerz. Männer, die mir schaden wollten. Und dich. Und Tobias. Rate. Deinen Vater. Ihr alle wart grausam. Ihr wolltet etwas von uns. Habt uns benutzt. Gekauft und verkauft. Von all den Menschen, die mir in der Welt je begegnet sind, war allein Marith freundlich zu mir, aus keinem anderen Grund, als dass ihm etwas an mir liegt. Also ja, ich habe entschieden, ihn zu verschonen. Auch wenn ich weiß, was er ist. Er wird schreckliche Dinge tun«, sagte Thalia. »Das ist mir bewusst. Es wäre vielleicht besser, wenn ich beschließen würde, ihn sterben zu lassen. Aber das tue ich nicht. Und das ist sein Gram und der meine. Mit dir hat das nichts zu tun.«

Bei den Göttern. Bei den Göttern! Eltheia, Schönste von allen, gib acht.

»Lass uns in Frieden«, fuhr Thalia fort. »Lass mich in Ruhe. Du und deine Familie, ihr habt ihm genug angetan. Und mir.« Sie streckte eine Hand aus, nahm Lans Hände und half ihr auf. »Du frierst und hast Hunger.« Ihr schien ein Gedanke zu kommen. »Wo hast du gelebt? Du hast kein Zuhause mehr. Du musst eine weite Reise hinter dir haben. Bist du den ganzen Weg gelaufen? Du musst völlig ausgelaugt sein. Und wir stehen hier in der Kälte …«

 

Thalia rief ihre Wachen. Der Mann, der Lan seinen Umhang gegeben hatte, sah blaulippig und erbärmlich aus. Lan ritt abermals mit Brychan; Thalia saß auf dem honigfarbenen Pferd, das Lan in Malth Elelane gesehen hatte. In den kurzen Monaten, seit sie auf Jaerls Pferd vor Angst geschrien hatte, war aus ihr eine passable Reiterin geworden, stellte Lan fest. Sie ritten zurück zur Stadt und hielten an einer Stelle, wo man sie vom Tor aus nicht sehen konnte. Für Lan war offensichtlich, dass Brychan und den anderen beiden Männern all das, was geschehen war, nicht behagte.

»Ich kann dich nicht mit in die Stadt nehmen«, teilte Thalia ihr mit. »Und ich kann dir auch kein Geld geben; dies sollte ein Ausritt zum Vergnügen sein; die Männer haben keine Münzen bei sich.« Sie verzog das Gesicht. »Warte …« Sie zog ihre Reithandschuhe aus und nahm ihre Halskette ab. Goldenes Flechtwerk, sehr fein, mit Bernstein abgesetzt. »Wird das reichen? Ich … ich weiß nichts über solche Dinge. Was Sachen kosten. Aber Garet muss seinen Umhang zurückbekommen.«

»Wird er … der König nicht merken, dass die Kette nicht mehr da ist?« Thalia hatte gesagt, sie würde die Begegnung nicht erwähnen, aber vielleicht tat sie es doch, oder eine der Wachen redete, und Marith würde sich rächen wollen, sie beide an den Mauern von Malth Elelane aufknüpfen …

»Er hat mir mehr Schmuck geschenkt, als ich in tausend Jahren tragen könnte.« Ein trauriges, in sich gekehrtes Lächeln, als würde sie sich an etwas erinnern. »Das ganze Gold des Königreiches hat er mir zu Füßen gelegt. Keiner wird dieses kleine Schmuckstück vermissen.«

»Und deine Wachen …«

»Sie werden nichts sagen.« Das bezweifelte Lan zwar, die an die Männer ihres Vaters denken musste. Aber Thalia schien sich völlig sicher zu sein.

Die Pferde wurden angetrieben.

Sie war fort.

Da bin ich wieder, dachte Lan. Was hat sie von mir gewollt? Warum hat sie mich nicht getötet? Was hatte das alles zu bedeuten? Sie blickte auf die Halskette in ihrer Hand hinab. Warmes Metall, der Bernstein in dunklem Orange mit versteinerten Blüten in seinem Inneren. Sie denkt, ich könnte auf den Markt gehen und den Schmuck der Königin gegen einen besseren Mantel eintauschen? Dann fiel Lan wieder ein, wie sie dem Fischer Ben ihr goldenes Armband für etwas Brot gegeben hatte.

Nun denn. Sie richtete sich auf. Diesmal musste sie durch das Tor gehen. Sie wappnete sich, lief um die Biegung in der Straße herum, und da war es. Weit offen. Die Wachen stampften gelangweilt im Schnee herum, eine Schafherde wurde soeben hindurchgetrieben, ein Berittener wartete dahinter. Sie holte tief Luft, als wollte sie schwimmen gehen, und folgte dem Reiter. Ihre Schritte durch das Tor waren schwer, als würde sie durch dicken Schlamm oder den schneetreibenden Wind marschieren. Etwas Körperliches drückte sie nach unten, und sie zitterte am ganzen Leib.

Unverändert. Unveränderlich.

Trauer und Freude.

Und dann hatte sie es geschafft, stand auf dem Torhausplatz inmitten von Schafen.

Es kam ihr sehr seltsam vor, dort zu sein und zu wissen, dass niemand sie erkennen würde. Sie lief durch die Stadt zum Tor von Malth Elelane, um mit eigenen Augen zu sehen, was Marith und sie selbst getan hatten. Es war sehr still, die Flaggen und Bänder der Sonnenrückkehr waren für das kommende Jahr in Wachstuch verpackt worden, und der Schnee reichte bis zu den Dächern. Die schmalen Fenster waren fast überall dunkel. Grau und kalt, der Stein der Mauern, Türme wie nackte Bäume, in der Mitte der goldene Turm Eltheias, dessen Juwel in den Wolken verborgen war. Ein schmaler, ruhiger Lichtstrahl wurde vom Meer weiter unten reflektiert.

Eine Frauenstimme sagte: »Hört auf, sie anzusehen.«