Die Welt. Die Welt wartet. Der Ansikanderakesis Amrakane und seine Armee: Die Welt wartet auf sie. Wunder und Pracht und Triumphe, Kummer, unvorstellbare Freude. All das wartet, es ruft nach ihm.
Die Schmiedefeuer in Morrstadt brannten Tag und Nacht, und die Luft roch nach heißem Metall, während die flackernden Feuer ihre heilige Magie der Veränderung wirkten. Das helle Lodern flüssiger Bronze. Das Klirren glänzenden Eisens. Schwerter und Helme und Sarissaspitzen werden geschaffen. Männer kamen aus den Bergen jenseits des thealanischen Tals und brachten das zu schmelzende Erz; tief aus den Bergen holten sie es, und ihre Körper waren voller Ruß, Schweiß und Erde. Thalia sah vor ihrem inneren Auge, wie sie auf die Wurzeln der Berge einhackten. Sich in die Knochen der Insel bohrten. Heilig und abgesondert wie die Metallschmiede waren die Minenmänner, die die Geheimnisse von Fels und Metall kannten, die sich wie Blutgefäße durch die Erde schlängelten. Die Schmiede nahmen das Erz, formten es im Schmelzofen, bearbeiteten es mit ihren Hämmern, deren Klappern Tag und Nacht zu hören war. Das lebendige Metall glühte wie Feuergeister. Götter, die brüllten und lachten, wenn der Hammer herabfiel. Bäume wurden gefällt, um Kohle zu gewinnen, grünes Holz in den Flammen. Rauchgeruch. Todesgeruch. Zauber der Erschaffung. Das letzte Härten musste im Blut eines Kriegsrosses geschehen. Früher einmal hatte man das mit Menschenblut gemacht, sagte Marith. Ein wachsender Haufen aus Bronze und Eisen, dessen Leuchten wie Winterwind in den Augen brannte, lag bereit. Jeden Tag marschierten neue Soldaten durch die Festungstore, Herzen frohlockten beim herrlichen Klang der Schmiedehämmer, Bauernjungen und Fischerbuben mit schalem Brot im Beutel, gierig aufs Töten, warteten gebannt auf den Höfen, um Schwert und Speer zu erhalten und in die auf den Weizenfeldern von Seneth errichteten Lager geschickt zu werden. Der Boden wurde von ihren Füßen und den Pferdehufen platt getreten, Asche und Rauch hingen in der Luft. Die Speerkämpfer, die Diener, die Hohen Lords, die Jungen, die übten, wie man ein Schwert schwang … Sie alle waren so voller Freude, so überbordend und begierig. Eilten voller Freude herbei wie das Grün, das aus der feuchten Erde spross.
Thalia saß bei Marith und half ihm beim Schmieden seiner Pläne. Vorräte mussten beschafft werden, Nahrung für Männer und Pferde, sie brauchten Zelte für die Soldaten, Lagerdiener, einen Tross. Große, lange Listen voller Dinge, die ihn aufstöhnen ließen.
»Mehr Gedanken über die Logistik machen?«
»Etwas in der Art. Davon bekomme ich Kopfschmerzen. Darf ich gestehen, dass es mehr Spaß gemacht hat, sich keinen Deut darum zu scheren?«
»Nein, das darfst du nicht.«
»Nein. Es wird hart zugehen, Thalia. Ein schneller Marsch in Pferdegeschwindigkeit, keine Zeit zum Ausruhen. Schlamm, Regen und Kälte, nehme ich an. Wir müssen mit leichtem Gepäck marschieren, nur das Nötigste mitnehmen, aber wir benötigen so vieles. Wenn die Berichte auch nur ansatzweise zutreffen …« Er warf erneut einen Blick auf seine Listen. »Darum bereitet es mir auch solche Kopfschmerzen. Aber ich lasse eine Art Wagen für dich bereitmachen. Einen kleinen Königinnenpalast auf Rädern. Mit Büchern und Decken und dicken Fellen, Dienern und einer Badewanne.«
Es war seltsam, ihn so reden zu hören, fand Thalia. Er war in diesen Dingen unterrichtet worden, kannte sich damit aus. Er war ein König. Dennoch war es seltsam. »Ich komme schon zurecht«, versicherte sie ihm. »Du musst dir keine Sorgen machen.«
Er grinste sie an und sah gar nicht mehr königlich aus. »Ich mache mir keine Sorgen. Ich mache mir bloß Gedanken um die Logistik. Außerdem freue ich mich vermutlich auch selbst gelegentlich über ein Bad und eine Felldecke. Es ist ein so schrecklich langer Weg.« Da schien ihm etwas einzufallen. »Du hast mich noch nicht einmal gefragt, wo wir hingehen.«
»Das muss ich nicht fragen.« Es war amüsant, dass ihm das nicht längst aufgegangen war. Marith, Osen und Lord Stansel schmiedeten Kriegspläne, zählten Pferde, Schiffe und Soldaten und hielten sich dennoch für Geheimniskrämer.
»Wo gehen wir denn hin? Sag es mir.«
»Oh, lass mich überlegen … Wohin würde derjenige, den man Ansikanderakesis Amrakane nennt, wohl gehen? Er weigert sich, in seinem neuen Königreich zur Ruhe zu kommen und seinen Thron eine Weile zu genießen, er will seine frisch Angetraute in hohem Tempo durch eiskalten Schlamm treiben. Wo will er also hin, so dringend, so ungeduldig, dass er nicht länger warten kann, sondern sofort aufbrechen muss? Wo will er hin? Soll ich es dir sagen?«
Er strahlte übers ganze Gesicht und sah aus wie ein aufgeregter Junge. Zappelte begeistert auf seinem Stuhl herum. »Sag es mir.«
»Er geht nach Illyr«, erwiderte Thalia. »Er will Amraths Königreich zurückerobern. Amraths Stadt. Ethalden. Den Turm des wiederkehrenden Todes. Habe ich recht?«
»Illyr. Ethalden, Amraths Festung. Seinen Tempel, den Sitz seiner Macht, den Aufmarschort seiner Armeen, den Ort, an dem Eltheia zur Königin gekrönt wurde, wo Altrersys geboren wurde. Das schönste Gebäude, das jemals errichtet wurde, das glorreichste, es glänzte wie ein Stern, Männer fielen davor auf die Knie und weinten ob seiner Schönheit.«
Thalia lächelte. »Ich habe davon gelesen, Marith. Doch die Menschen in Sorlost weigerten sich zu glauben, dass er tatsächlich so schön war.«
»Die Menschen in Sorlost sind Barbaren. Und sie irren sich. Du wirst schon sehen.« Er sprang auf und tanzte beinahe durch den Raum. »Selbst die Ruinen sind unfassbar schön …« Er schloss die Augen: Thalia wusste, dass er es vor sich sehen konnte, dass er davon geträumt hatte. »Die Mauern waren aus Gold und Magierglas. Die Türme erhoben sich glänzend zur Sonne. Die Tore waren aus weißem Marmor geschlagen. Die Kammern waren mit Seide, Fellen und Edelsteinen geschmückt. Thronsäle, Banketthallen, Lustgärten, Kristallbrunnen, Gärten voller reifer Früchte. Eine Turmspitze aus Perlen und Silber wie eine Messerklinge, in der sich der tosende Fluss Haliakmon und die brechenden Wellen des Bittermeeres spiegelten. Die Stadt rings um den Turm zerfiel zu Staub, aber die Ruinen der Festung sind geblieben. Und irgendwo in den Ruinen liegt Amraths Leiche. Ihn zu sehen! Ihn zu begraben, endlich, nach all der Zeit, in einem würdigen Grabmal! Schon immer haben wir davon geträumt. Wie jedes Kind der Altrersyr-Familie. In Ethalden zu herrschen, Amraths Mauern wieder aufzubauen, Amraths Thron … Oh Thalia! Es zu tun! Es wirklich zu tun!« Als er die Augen aufschlug, waren sie voller Freude, und er zog sie auf die Beine. »Wir werden es tun. Du und ich!«
Fünf Mal hatten die Altrersyr-Könige versucht, Illyr zurückzuerobern. Nevethyn, Mariths Großvater, war der Letzte in einer langen Reihe, der gescheitert war. Hilanis der Junge kam mit einer Flotte aus zweihundert Schiffen. Einige Planken wurden von Fischern aus Ith weit draußen im Bittermeer gefunden. Etwas, das ein Schiffsmast gewesen sein mochte. Das Holz hatte eine seltsame Farbe. War schwammig. Roch schlecht. War seltsam gesplittert. Tareneth Ganzhaut marschierte zu Fuß durch die Ödnis. Einhunderttausend Mann hatte er bei sich. Dreitausend kamen letztendlich zurück. Sie sprachen nicht über das, was sie gesehen hatten.
Am ersten Tag des zweiten Mondes nach der letzten Nacht der Sonnenrückkehr, dem ersten Tag des Monats, der auf Pernisch Ianarm genannt wurde, des Monats der Anfänge, auf Literanisch Semerenthest, der Monat des Unveränderten, wurde Marith in Malth Elelane erneut gekrönt, diesmal mit der Krone der Altrersys, einem schmalen Silberband, das wie ein Reif um seine Stirn lag. Jeder Lord der Weißen Inseln schwor ihm die Treue, Selerie reiste abermals von Ith an, nun in Begleitung seiner Frau, dünn und sauertöpfisch, beladen mit Edelsteinen, Goldbänder an den Kleidersäumen. Sie trank jeden Abend und jeden Morgen einen Becher Quecksilber; dadurch wurde ihre Haut bleich und funkelte, ihr Haar weiß und frisch wie Frost.
Während des darauffolgenden Festes, das drei Tage dauerte, tobte das Leben in der Festung und der Stadt, wieder loderten Feuer auf den Straßen und in den Höfen von Malth Elelane, Feuer so blau und rauchlos wie jene auf den Grabhügeln der Könige.
Am Morgen des vierten Tages ritten sie zu den Schiffen, die im Hafen von Morrstadt ankerten, um gen Westen zur Küste von Ith zu segeln.
Wie zuvor in Malth Calien opferten sie ein Pferd und steckten das tote Tier auf Holzpfähle. Mariths Gesicht strahlte und war beschmiert mit frischem Blut. Die Lords marschierten daran vorbei zu den Schiffen. Thalia spürte das Metall eines Messergriffs, den sie mit der Hand umklammerte, als sie mit ihren Wachen daran entlanglief. Die Möwen kreisten schreiend am Himmel. Eine Erinnerung an völlige Dunkelheit und grässliche Kälte.
Ein böses Omen, dachte sie und erinnerte sich an das letzte Mal.
»Was geschehen ist«, sagte Osen Fiolt. »Was immer geschehen wird. Letzten Endes ging es doch gut aus, nicht wahr?«
Marith hatte Osen Tiothlyns gesamten Besitz überlassen, ebenso alle Ländereien, die den Relasts gehört hatten.
»Ja«, antwortete sie, »letzten Endes ging es gut aus.«
Dreißig Schiffe schaukelten in der Morrbucht auf von weißer Gischt gekrönten Wellen. Niedrig und schnell, flach im Wasser, peitschend wie Schlangen. Kriegsschiffe ohne Kajüten: Selbst der König und die Königin und die Hohen Lords der Weißen Inseln mussten den ganzen Tag – den Naturgewalten ausgesetzt – neben den Ruderbänken sitzen. Die Segel waren schwarzrot wie das Haar des Königs. Weitere Schiffe würden sich an den Inseln zu ihnen gesellen, sobald sie dort eintrafen. Zweihundert insgesamt waren dem König versprochen worden.
Die Masten bildeten einen Wald. Das Wasser sang, wenn die Buge die Wellen durchschnitten.
Sie segelten schnell dank der Magie der Wetterhand Ranene. Schon bald war Seneth nicht mehr zu sehen, und sie fuhren an Terz vorbei. Als sie die Landzunge von Toreth umrundeten, war die Narbe von Malth Salene deutlich zu sehen, das Land war aufgerissen und blutete. Thalia wandte sich davon ab. Von Marith, der hinüberstarrte. Stattdessen blickte sie zum Gipfel von Calen Mon und bildete sich ein, dort Adler im Wind tanzen zu sehen.
Der Kopf einer Robbe tauchte im Wasser auf; das Tier schien sie zu beobachten. Eine Selkie?, fragte sich Thalia.
»Ich bin froh, dass ich es noch einmal sehen konnte«, sagte Marith leise, fast wie zu sich selbst. »Ich habe ihm zu guter Letzt ein großes Begräbnisfeuer ermöglicht, nicht wahr? Genug, um jeden zufriedenzustellen. Habe einen Grabhügel angelegt, damit er für eintausend Jahre in Erinnerung bleibt. Für den Fall meines Todes habe ich mir immer gewünscht …« Er blinzelte, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, lächelte. »Seserenthelae aus perhalish. Die Nacht bricht an. Wir überleben. Es ist nicht weiter wichtig. Lass uns zum Bug gehen. Dann sehen wir, was kommt, nicht, was gewesen ist.«
Terz verschwand hinter dem Horizont. Ein Ruf breitete sich unter den Seeleuten aus, dass sie sich in landlosem Wasser befanden. Bis nach Ith würde sie nun kein Land mehr sehen. Dort würden sie an Land gehen und über die Berge nach Illyr marschieren. Marith hatte ihr knapp erklärt, dass man selbst mit einer Wetterhand nicht nach Illyr segelte. Das tat niemand. Das Meer selbst war verflucht. In Ith würde ihnen Selerie weitere Truppen zur Verfügung stellen, dazu mehr Pferde und Proviant. Fünf Tage auf See, nachdem sie Terz passiert hatten, selbst mit Meister Ranenes Wind. Nördlich von Tyrenae die Landung, dann zehn Tage über die Berge und vielleicht dreißig durch die Ödnis.
»Preiset die See!«, riefen die Seeleute. »Meer und Himmel, habt Mitleid! Meer und Himmel und Wellen und Wind!« Der Kapitän schleuderte vom Bug einen Becher Süßwasser ins Meer. »Hab Mitleid!«
Ein Holzkäfig wurde vor Marith abgestellt. Darin ein Falke. Seine krallenbewehrten Füße und der Schnabel waren mit Lederriemen gefesselt.
»Was ist das?«, fragte Thalia.
»Eine Opfergabe«, erklärte Osen. »Für gute Omen.«
Marith öffnete den Käfig und holte den Falken heraus. Er schlug mit den Flügeln, wehrte sich erbittert, versuchte, nach den Händen zu kratzen und zu beißen. Osen reichte Marith ein Bronzemesser.
»Meer und Himmel und Wind und Wellen«, sagte Marith. Der Falke beruhigte sich. Lag ganz still in Mariths Händen. Marith schnitt ihm wie dem Pferd die Kehle durch, und Osen fing das Blut in einem goldenen Becher auf. Das Blut wurde ins Meer gegossen. Ein Seemann kletterte am Mast hinauf und hängte den toten Vogel daran.
Für einen Moment blickte Thalia zu den Weißen Inseln zurück, und da war helles Licht hinter ihnen auf dem Wasser, goldfarben und warm.
Eine Nacht auf See.
Zelte wurden auf den Decks aufgebaut, wenngleich mit wenig Komfort, da sie dicht an dicht standen und die Arbeit auf den Schiffen nicht behindert werden durfte, Lichter auf dem Wasser, kalt, da kein Feuer gemacht werden konnte, und die Schiffe, Zelte und Männer rochen. Selbst der König und die Königin mussten bei den Männern schlafen. Selerie von Ith und seine Frau genossen auf ihrem Schiff mehr Bequemlichkeit, da es sich nicht um ein Kriegsschiff handelte. Aber Thalia lag lange wach und lauschte dem Knarren des Holzes, den Stimmen der Wachhabenden, den Klängen des Wassers, dem Gefühl für das, was sich unter dem Schiff bewegte. Kurz nach Anbruch der Dunkelheit hatte das Nachtleuchten das Wasser in tausend Farben schillern lassen. Tausend Farben im Licht der Sterne. Diese winzigen Schiffe auf dem gewaltigen Ozean. Dinge unter der Haut des Wassers, von denen Menschen nicht einmal träumen konnten. Eintausend Jahre Dunkelheit, wenn man versank. Einige sagten, das Meer hätte keinen Grund, es ginge für immer weiter in die Tiefe. Plötzlich setzte sich Thalia auf und erstarrte. Marith lag schlafend da, atmete langsam, bewegte die Hände zum Gesicht. Sie machte ein bisschen Licht.
Sein Schwert lag neben ihm, das Juwel im Knauf funkelte im Licht. Freude, hatte er es genannt. Sie berührte es. So kalt. Er hatte es bei seiner Krönung gezogen, und sie hatte das Leuchten in ihrem Kopf gesehen.
Sie würde es nur hochheben müssen. Es ihm ins Herz stoßen. Seine Leiche vom Schiff ins endlose Wasser rollen. Sein wunderschönes Haar, das von der Strömung ausgebreitet wurde. Tiefer und tiefer und immer tiefer. Noch war es nicht zu spät.
Sie legte sich wieder neben ihn, schlang die Arme um ihn und spürte, wie er sich bei ihrer Berührung bewegte, und lächelte.
Fünf Tage auf See. Das leere Meer. Der leere Himmel. Das Knarzen der Segel. Der salzige Geschmack der Gischt.
Acht Tage auf See. Die Berge von Ith im Westen so klein wie ein Gemälde, reich an Quecksilber, Kupfer, Gold und Zinn. Dichte, dunkle Wälder. Weißer Schnee auf den höchsten Gipfeln. Einst tanzten Drachen dort oben wild im Wind. Die alten Könige von Ith versuchten, sie zu zähmen, sie ihrem Willen zu unterwerfen, wie es die Gottkönige von Caltath, ihre Vorväter, einst getan hatten. Undyl Silberauge zähmte den Drachen Aesthel, indem er ihn mit dem Fleisch seiner Kinder fütterte, bis seine Schwester Mann und Drache mit einem goldenen Schwert tötete. Canenoth der Narr glaubte, das ebenfalls zu können, aber der Drache war wild und ließ sich nicht brechen, und halb Tyrenae brannte nieder. An den Hängen des Pelelionberges sind gewaltige Schluchten zu finden, die angeblich von diesem Drachen stammten, als er endlich sterbend vom Himmel fiel.
Zehn Tage auf See. Die reich bewaldeten Hügel von Ith. Sie gingen gegen Abend in einer breiten Bucht sechs Tagesmärsche nördlich von Malth Tyrenae an Land. Ein Dorf, halb abgeschnitten vom Land durch Sümpfe und einen tiefen Kanal, der in einer kiesbedeckten Landzunge an einem langen Strand mit hellem, schlammigem Sand auslief. An der Spitze der Landzunge, deutlich zu erkennen vor dem Meer und dem Himmel, ein weißes Steingebäude ohne Dach, eine Art Schrein für die göttlichen Kräfte des Meeres. Die schwarzen Schiffe wurden weit auf den Strand gezogen; nur die wenigen Schiffe, die Selerie beigesteuert hatte, kleinere, aber tiefer liegend, ankerten in der Bucht. Selerie ging mit ihnen an Land; ein Reitertrupp aus Ith erwartete sie, der in der Nähe des Dorfes sein Lager aufgeschlagen hatte und Marith auf dem Feldzug begleiten würde. Die Männer hatten sich in voller Formation auf der Landzunge aufgestellt, unter der grünen und purpurroten Standarte von Ith und dem roten Banner der Altrersyr daneben.
»Palmest. Einst war es eine große Stadt«, hörte Thalia einen der Ither sagen. »Vorsicht mit dem Fass! Das ist Bannfeuer, ihr Tölpel! Vorsichtig! Ja, so ist es besser. Wie dem auch sei. Eine große Stadt. Handel. Fischfang. Wale. Aber die Strömung änderte sich, der Hafen verschlammte …« Er deutete auf den Kanal. »Das ist alles, was noch übrig ist. Voller Schlamm. Vorsicht, hab ich gesagt! Bei den Göttern und Dämonen, wollt ihr denn alle verbrennen? Wo war ich gerade? Ach ja, voller Schlamm. Wie alles andere in Ith. Warum euer großartiger Leitstern von König hierherkommen wollte …«
Der Mann von den Weißen Inseln, an den die Worte gerichtet waren, zuckte mit den Schultern. »Die Insel Terz ist gutes Land. Überall sonst gibt es nur Schlamm, Asche und Scheiße. Ist es nicht völlig egal, wo wir anfangen? Wo wir hingehen, das ist alles, was zählt. Und das ist das Warten wert. Dort werden wir nicht an Schlamm ersticken. Seid ein bisschen dankbarer. Vorsicht mit dem Fass da vorn!«
Sie bemerkten, dass Thalia sie beobachtete, wurden blass und eilten davon.
Die Zelte wurden weiter im Landesinneren einen halbstündigen Fußmarsch vom Dorf entfernt auf einem guten, flachen, mit Heidekraut bewachsenen Bereich aufgestellt, der an die morastigen Wälder grenzte und gen Norden zu den fernen Berggipfeln anstieg. Die Luft roch streng nach schimmligem Laub und Grünzeug, der Frühling brach schnell und früh an, die Bäume zeigten erste Blattknospen oder waren mit Blüten übersät oder mit gelben Kätzchen, die in der Brise tanzten. Am Rand der Heidelandschaft in der Nähe des Königszelts schimmerte ein Birkenhain in reinem Weiß. Einige der Männer legten dort Opfergaben nieder, vergossen Wasser um die Baumstämme, vergruben eine Münze in der Erde, banden eines ihrer Haare an einen Ast. Osen versuchte, sie davon abzuhalten, und sagte, sie würden dem König und der Königin zu nahe kommen, aber Lord Stansel fuhr ihm über den Mund. »Dann lasst das Zelt des Königs eben woanders aufbauen.«
»Sie sollen bleiben«, entschied Thalia. Sie ging ebenfalls zu den weißen Bäumen und hängte eine Silberkette an einen Zweig. Ihre Hand berührte das Holz, das sich kühl und lebendig anfühlte. Ja, in der Tat, etwas Heiliges, dachte sie. Ein heiliges Ding.
Diener huschten umher, erhitzten Wasser und stellten Möbelstücke für das Zelt bereit. Sie freute sich vor allem auf ein Bad. Nach den Tagen auf See fühlte sie sich schmutzig und voller Salz, und ihr Haar war ganz verknotet. Danach eine warme Mahlzeit und ein warmer Wein. In etwas schlafen, das einem richtigen Bett nahekam. Ab morgen erwartete sie ein Wagen, in dem sie reisen würde, mit Kissen, Kohlebecken, verschließbaren Fenstern, Büchern. Ein sehr langer Weg, sehr langweilig, eine trostlose Reise. Marith hatte sie immer wieder gewarnt, um sie auf den Schmerz und die Wunder in Illyr vorzubereiten. Eine Dienerin goss Duftöl ins Badewasser. Es roch nach Rosen. Thalia löste ihr Haar, um es zu waschen.
Auf einmal Bewegung im Lager. Eine Stimme sagte etwas, leise, aber bestimmt. Männer sprangen auf. Marith war da, mit seinem grässlichen Umhang über der Rüstung, sein Schwert in der Hand. Ihre Wachen – Brychan, Garet und Tal – führten das hübsche cremefarbene und goldene Pferd herbei. Osen trat zu Marith, lächelnd, seinen Helm in der Hand.
»Marith? Marith, was ist …?«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte ihr Marith. »Deine Wachen werden dich in den Wald bringen. Dort befindet sich noch ein Hain weißer Bäume, etwa einen halbstündigen Ritt entfernt. Warte dort. Wenn ich bis Einbruch der Nacht nicht bei dir bin, werden sie dich durch das Land nach Immish bringen und danach zurück nach Sorlost, falls du das wünschst. Oder wo immer du hinmöchtest. In den Satteltaschen ist Gold, genug, um ein gutes Leben führen zu können.« Er half ihr in den Sattel und fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. »Wir gehen nicht nach Illyr, Geliebte. Noch nicht.«
Ein Pferdeknecht kam mit seinem Pferd, dem weißen Hengst mit den vergoldeten Hufen, Federschmuck auf dem Kopf und rot-goldene Tressen.
Marith schwang sich in den Sattel, richtete seinen Umhang hinter sich. Das Pferd schnaubte aufgeregt, als es das Blut roch. »Zuerst muss ich Ith einnehmen.«