35

Ein Mann in einer grünen Jacke, die in der Nachmittagssonne leuchtete. Das Sonnenlicht ließ die Knöpfe glitzern. Flankiert von Männern in goldenen Rüstungen. Das Sonnenlicht funkelte auf ihren Schwertern. Die Tore wurden geöffnet. Orhan beobachtete, wie sie zur Haustür marschierten.

Der Mann in Grün blieb vor der Perlmutttür stehen. Rief deutlich und langsam: »Eine Nachricht für Orhan Emmereth, den Herrn der Aufgehenden Sonne, Diener und Ratgeber des Kaisers, Wächter über die Immish und das Bittermeer, Nithque des Asekemlene-Kaisers des Sekemleth-Reiches der Goldenen Stadt Sorlost. Begleitet uns, mein Lord!«

Der Kaiser ließ ihn also abermals rufen. Selbstverständlich. Orhan überlegte, die blutbefleckte Kleidung wieder anzuziehen, die er an diesem Vormittag getragen hatte. Darin gäbe er einen schönen, bemitleidenswerten Anblick ab, wenn die Körperflüssigkeiten seiner Frau und seines Sohnes seinen Lieblingsmantel tränkten. Vielleicht sollte er noch einige Säume einreißen, damit er verschlissener aussah, sich das Haar zerzausen und Darath bitten, ihm ins Gesicht zu treten.

»Mein Lord?« Der Türwächter mit kreidebleichem, verängstigtem Gesicht. »Mein Lord. Eine Nachricht …«

»Vom Palast. Ja.« Darath rührte sich im Sessel gegenüber, wo er zu lesen versucht hatte. »Ich komme.« Er sah Darath an. »Nein. Wie ich schon einmal sagte: Ich gehe allein.«

»Orhan …«

»Schick einen Boten, wenn Bil erwacht oder …«

Darath erhob sich. »Erteil mir keine Befehle, mein Lord Emmereth. Ich bin reicher als du. In meinen Adern fließt sogar ein Hauch halb göttliches Blut, was mehr ist, als du von dir behaupten kannst. Und du bist nicht einmal mehr der Nithque des Kaisers. Gehen wir zu Fuß, oder nehmen wir die Sänfte? Ich wäre für Letzteres. Das wäre zumindest etwas sicherer. Ich möchte nicht auch noch Spucke auf dem Mantel haben.«

Danke. Danke, Darath. Oh Großer Tanis, dachte Orhan, oh Großer Tanis, ich bin in der Tat dankbar, dass du zuweilen Güte zeigst.

Er sah kurz nach Bil und dem Baby. Bil schlief noch immer. Das Baby schlief ebenfalls, und er beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Darath wartete an der Tür. Sah ihn mit undurchdringlicher Miene an.

»Ich liebe dich nicht nur wegen deines prächtigen Gemächts, Orhan. Vergiss das nicht«, sagte Darath.

Sie gingen hinaus, in Begleitung von Orhans Wachen ebenso wie Daraths und jenen, die der Kaiser geschickt hatte. So viele Männer mit gezückten Schwertern. Die Diener – jene, die überlebt hatten – nein, die meisten hatten überlebt, so durfte er nicht denken – schienen sich alle in den Korridoren aufzuhalten, die sie passierten. Orhan bemerkte, dass er zitterte. Er hatte Kopfschmerzen, und sein Körper war bleischwer vor Müdigkeit. Nachwirkungen des Schrecks und Entsetzens. Ich bin hier das Opfer, dachte er immer wieder. Wie Celyse gesagt hat. March ist an der Hitze gestorben. Zwei meiner Wachen sind plötzlich durchgedreht.

Die Menschen auf der Straße starrten die Sänfte an. Er spürte die Blicke durch die Seide hindurch. »Verräter! Mörder! Frevler!« Alle würden wissen, was an diesem Morgen geschehen war. Alle würden wissen, wohin er ging, wenn Wachen in goldener Rüstung seine Sänfte umringten. Geflüster. Gejohle. Ansatzweise Jubel. Ein großer Held! Ein Erzverräter! Ein Meister der Intrige! Ein leichtgläubiger Narr! Er hatte so viele Lügen über diese Nacht erzählt, dass er selbst nicht mehr genau wusste, was passiert war. Es waren Söldner aus Immish. Sie sind alle tot. Ich habe sie angeheuert. Ich habe sie getötet. Ich erinnere mich daran. Nur dass er ständig diese wunderschönen, furchtbaren, starrenden Augen sah.

Ich habe ihn gesehen, dachte Orhan. Ich habe Amrath gesehen. Ich stand da und habe ihm ins Gesicht geblickt.

Der Große Tanis lebt in seinem Haus aus Wasser. Der Kaiser lebt in einem Palast der Träume. Der Dämon wurde in seinem Turm der Freude und Verzweiflung losgelassen. Aus Furcht vor dem Leben und dem Tode, erlöse uns. Großer Tanis, Herr über Alles, hör mich an: Ich möchte nicht, dass noch einer von uns sterben muss.

»Hör auf damit«, verlangte Darath und stieß ihm in die Rippen.

»Was? Womit denn?«

Sie hatten den Palast fast erreicht. Die Kuppel strahlte im Licht. Gold und Silber und weißes Porzellan. Die nackten, blinden Fenster, durch die ein Junge, der Amrath, der Welteneroberer war, in Scherben aus glänzendem Buntglas gefallen war.

»Mach nicht so ein Gesicht, als würdest du dir gleich hier auf der Straße die Kehle aufschneiden. Du zitterst wie Espenlaub, Orhan. Hör auf damit. Reiß dich ein bisschen zusammen. Bitte.« Darath nahm Orhans Hände. »Bitte, Orhan. Versuch, wenigstens so auszusehen, als würdest du glauben, dass wir das überleben.«

Schon hatten sie das Palasttor hinter sich, durch das er einst zusammen mit Darath und einem Trupp marschiert war, um das Reich vor dem Verfall zu bewahren. Es ging die Marmorstufen hinauf, durch breite, mit Blumen bemalte Korridore, an offenen Türen vorbei, hinter denen leere, verstaubte Räume zu sehen waren. An dem Gang entlang, an dem Orhans Räume als Nithque lagen.

Gestern. Gestern war er zuletzt hier gewesen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Die Türen zum Thronsaal waren wie immer geschlossen. Wunderschönes, mit Schnitzereien versehenes neues Zedernholz, noch umweht vom leichten Geruch nach Metall und Leim, die bei der Herstellung verwendet wurden. Männer und Frauen tanzten unter einem goldenen Sonnenaufgang, Bäume breiteten kühlende Äste aus, Vögel sangen Hymnen an die Dämmerung. Augen und Gesichter spähten an den Rändern hervor. Leichen wurden unsichtbar jenseits der Szenerie gestapelt. Großer Tanis. Großer Tanis. Ah, Gott, Großer Herr, erweise dich als gnädig. Hilf mir, bitte. Hab Mitleid.

»Lass das.« Darath drückte seine Hand. »Atme. Du zitterst.«

Die Türen wurden geöffnet. Mit einer geschmeidigen Bewegung. Dahinter helles Lampenlicht. So hell, dass es keine Schatten warf. Wände aus Edelsteinen blendeten das Auge. Verwirrend, als würde man in nichts als Farbe treten. Muster, die keinen Sinn ergaben, die sich bewegten und wandelten, bis sie kein Ende hatten, Dinge, die sich darin bewegten, nie ganz sichtbar, zu viele Winkel, zu wenige, Wände, Boden und Decke waren gleich, keine Tiefe, kein Raum in der Welt. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde man fallen. Oder klettern. Auf dem Kopf stehen. Der Raum war so riesig wie der Platz zwischen den Himmeln. Flach und winzig wie eine Buchseite.

Orhan hatte den Bau beaufsichtigt. Dem Entwurf zugestimmt. Mit den Handwerkern über Preise verhandelt. Er hatte einen sechsjährigen Jungen dabei beobachtet, wie er winzige Kacheln in den weichen Mörtel drückte, das Gesicht verzogen, schon halb blind. Wie die Türen roch auch der Raum schwach nach Leim und heißem Metall und Menschenhänden. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Eiskalter Schweiß lief ihm den Rücken herunter. Unfassbares Entsetzen, als er weiterging. Dieser Raum, dieser Raum ist die Macht des Lebens und des Todes und des Gottes. Das Zentrum der Welt.

Am anderen Ende, inmitten der Juwelen schwebend, der große goldene Thron. Nur schwer zu betrachten, als hätte er keine Form. Aber er zog den Blick an, obwohl sich die Muster bewegten. Schmerzhaft. Es tat weh, hinzusehen. Es tat weh, den Blick abzuwenden. Die größte Macht in dieser sterbenden, träumenden, mumifizierten Staubstadt. Das Zentrum des Zentrums der Welt.

»Ihr seid als Nithque entlassen«, hatte der Kaiser ihm gestern in diesem Raum mitgeteilt. »Ich glaube all diese Geschichten nicht. Wie könnte ich auch? Aber ich kann Euch jetzt dennoch nicht als meinen Nithque gebrauchen. Betet zum Gott, dass das schon alles war.« Seine ganze Hoffnung war bei diesen Worten verraucht, alles, was er versucht hatte, all seine Verbrechen, alles war umsonst gewesen.

Darath und Orhan knieten sich hin. Darath beugte sich vor, mit gekrümmtem Rücken und in seltsamem Winkel. Orhan kniete aufrecht, den Rücken schnurgerade, aber den Kopf weit gesenkt. Wie ein Mann, der den Hals der Klinge darbot. Einer von nur zwei Männern, die das Recht hatten, aufrecht vor dem Asekemlene-Kaiser zu knien, dem Ewigen, dem Ewig Lebenden, dem strahlenden Licht des Sekemleth-Reiches der Goldenen Stadt Sorlost.

Der andere Mann war March Verneths Erbe.

Alles schien genau darauf abzuzielen, sie alle an alles zu erinnern.

Orhan behielt die formelle Pose noch einen Augenblick bei, bevor er sich ganz hinlegte und das Gesicht auf den Boden presste. Hier roch es noch intensiver nach Leim und den Körpern der Arbeiter. Die spitzen, kalten Steine drückten sich in seine Stirn und seine Nase.

Stille. Dunkelheit vor seinen Augen, die Edelsteine funkelten farbig im Lampenlicht. Er konnte Darath neben sich spüren. Eine unangenehme, unbequeme Haltung. Reglos wie Statuen, und sein Herz raste, und sein Kopf tat weh, und die Angst und der Schreck jagten wie dumpfe Trommelschläge durch ihn hindurch. Gestern war er zuletzt hier gewesen. Gestern. Es ist nur ein Raum, dachte er. Er ist nur ein Mann. Es wäre mir beinahe gelungen, ihn zu töten. Ich sah diesen Raum in Blut und Flammen getaucht. Die Juwelen bohrten sich in seine Kniescheiben. Darath bewegte sich leicht, versuchte, stillzuhalten. Ich werde Abdrücke der Diamantkacheln auf der Stirn haben, dachte Orhan unwillkürlich, wenn ich mich jemals wieder erheben darf. Bei den Gottesmessern, was hat mich da nur geritten? Warum habe ich keinen Teppich ausgesucht oder chatheanischen Seemarmor oder eine Schicht glattes, kühles Blattgold? Zum Feuer verurteilt zu werden, während sich die Bodenfliesen in mein Gesicht bohren …

»Hebt die Köpfe«, verlangte der Kaiser mit seiner dünnen Stimme.

»March hat angefangen!«, wollte Orhan schreien. »Er wollte mich zuerst töten! Ich wusste nichts von dem Jungen! Ich hatte keine Ahnung!« Er stemmte sich vorsichtig hoch, bis er wieder kniete. Hörte Daraths Knie knacken. Der Kaiser saß auf seinem Thron und blickte auf sie herab. Ein recht junger Mann mit aufgequollenem Gesicht und aufgequollenem Bauch, in Schwarz gekleidet, was ihn noch bleicher aussehen ließ. Orhan hielt den Blick starr auf die Knochen in seinem ewigen Hals gerichtet. Sieh ihm niemals ins Gesicht! Niemals. Nur in jener verrückten Nacht hatte er es getan. »Ich wusste nicht, dass sie von einem Dämon angeführt werden!«, wollte er schreien. »Tam hat mich hingehalten! Ich wusste es nicht! Ich wusste es nicht! Ich wollte nur die Stadt retten! Ich dachte, es wäre das Beste!«

»Der Herr der Aufgehenden Sonne. Der Herr von Allem, was Blüht und Vergeht.« Er hielt kurz inne. »Ich habe Lord Vorley nicht rufen lassen.«

»Mein Kaiser, Licht der Welt, Ruhm des Reiches, Leuchten der Morgendämmerung, die das Dunkel der Nacht hinwegfegt«, sagte Darath. »Das habt Ihr nicht. Aber Lord Emmereths Angelegenheiten … sind auch die meinen.«

»Ach ja?« Orhan spürte, wie der Blick des Kaisers zwischen ihnen beiden hin- und herwanderte.

»Ja, mein Kaiser. So ist es.« Der Kaiser war auf ewig allein, ohne Frau oder Kind oder Elternteil oder Liebschaft. Daher würde er in all seinen abertausend Lebensjahren niemals die Liebe verstehen, die Kameradschaft oder die Herzenstreue.

Wie bedauerlich, dachte Orhan. So traurig und einsam. Ich habe Darath. Meine Schwester. Bil. Meinen Sohn. Sogar Amrath scheint seine Eltheia gefunden zu haben, wenngleich das für Darath und mich einen eher unglücklichen Umstand darstellt.

»Nun gut. Möglicherweise habt Ihr sogar recht.« Der Kaiser machte eine Handbewegung. Nach kurzer Stille näherten sich Schritte über den edelsteinbedeckten Boden. Langsame Schritte. Das Klappern von Absätzen auf den Edelsteinen. Die kaiserlichen Wachen hinter dem Thron verlagerten leicht das Gewicht. Verspannten sich. Eine Gestalt kniete sich auf seiner anderen Seite auf den Boden, langsam und ungelenk, mit knackenden Knien. Orhan konnte den Kopf nicht bewegen, um herauszufinden, wer da gekommen war, sah nur ein Flackern von Gold und Scharlachrot im Augenwinkel. Aber es war offensichtlich, um wen es sich handelte.

»Hebt den Kopf.«

Eloise Verneth tat es und verharrte in einer gekrümmten, tiefen Verbeugung. Daraths Knie knackten erneut.

»Mein Kaiser, ewiger Ruhm unserer ewigen Stadt, Freude des Reiches, die Morgensonne, vor der die Welt vor Freude das Gesicht abwendet.« Eloises Stimme klang zittrig vor Angst.

»Lady Verneth. Lord Emmereth hat mich gestern seines Entsetzens und seiner Trauer über den vorzeitigen Tod Eures Sohnes versichert. Lord Emmereth stimmte betrübt zu, seine Rolle als Nithque nicht länger ausüben zu können. Die Stadt ist in Aufruhr und voller übler Lügen. Ihr habt mich darum gebeten, ihn zu entlassen. Ich bin Eurer Bitte nachgekommen. Ich habe Euch beiden befohlen, Euch zu benehmen. Ich war davon ausgegangen, dass diese Angelegenheit damit aus der Welt geschafft wäre. Ihr habt mir versichert, dass es vorbei ist.«

Man sollte nicht vor einer dünnen, gereizten Stimme erzittern, die so etwas sagte.

Eloise erschauderte. Sie krallte die Hände in ihr Kleid. »Mein Kaiser … Ich …« Sie schien wirklich und wahrhaftig Angst zu haben. »Hinsichtlich der … heutigen Ereignisse trauert mein Herz mit Lord Emmereth und frohlockt, dass Lady Emmereth und ihr Kind am Leben sind. Ich danke dem Großen Tanis für seine Gnade.« Und das tat sie in der Tat, stellte Orhan fest, denn sie klang bekümmert. Einen Augenblick war die Angst aus ihrer Stimme verschwunden. »Vor allem, da ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schrecklich und schmerzhaft es ist, den Tod eines Kindes zu betrauern.«

Immerhin hatte Euer Kind vierzig Jahre zu leben, hätte Orhan beinahe gesagt. Schweigen senkte sich über den Raum. Daraths Knie knackten. Alle dachten über alles nach, der Kaiser überlegte, wie es weitergehen sollte.

Eloise weinte. Orhan konnte aus dem Augenwinkel die feuchten Tränenspuren auf ihren Wangen sehen. Der Kaiser sieht es auch, dachte er. Der Kaiser fürchtet sich vor ihren Tränen. Vor der Liebe und der Trauer in diesem Raum.

Der Kaiser ergriff abermals zaghaft das Wort. »Lord Emmereth und Lord Vorley haben das Reich vor einer großen Gefahr gerettet. Einer weitaus größeren, als ihnen überhaupt bewusst war, wie sich nun abzeichnet. Wir alle schulden ihnen Dank und Lob. Euer Sohn, Lady Verneth, hat diese Sache meines Wissens in Gang gesetzt. Damals war ich über seine Taten verärgert. Ebenso verärgert bin ich über das, was heute geschehen ist.«

Eloise schien zusammenzuzucken. »Mein Kaiser …«

»Lady Verneth. Der Tod Eures Sohnes war eine Tragödie. Sie ist äußerst« – er wandte sich Orhan zu –, »äußerst bedauerlich. Ich trauere mit Euch und Euren Enkeln. Ich hoffe inständig, dass so etwas nie wieder geschehen wird. Was ich Lord Emmereth erst gestern sagte. Nun ist Lord Emmereths Haushalt ebenfalls das Opfer eines feigen Angriffs geworden. Auch in dieser Hinsicht hoffe ich, dass dies ein Einzelfall bleiben wird. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Ihr hofft es? »Danke, mein Kaiser«, sagte Orhan laut und versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Ich hoffe inbrünstig dasselbe und bin davon überzeugt, dass der Große Tanis uns anhören und unseren Wunsch erfüllen wird.«

»Danke, mein Kaiser«, sagte Darath. »Ich vertraue darauf, dass der Große Tanis uns anhört und uns Frieden gewähren wird. Wir betrauern Lady Verneths Verlust und Lord Emmereths und sind hocherfreut über Euren Wunsch, dass uns so etwas nie wieder zustoßen möge. Ihr gewährt uns das Geschenk des Friedens, denn der Gott wird Eure Gebete gewiss erhören.«

»Danke, mein Kaiser«, sagte Eloise. »Ich bin mir sicher, dass Ihr in allem, wofür Ihr betet, recht habt.« Sie schien verwirrt zu sein. »Frieden, um meine Enkel aufzuziehen, von denen eine frisch vermählt ist. Um mehr bitte ich nicht. Frieden und Sicherheit für meine Enkel und ihre Kinder nach ihnen.«

»Es ist ein Segen, dass er lange genug gelebt hat, um diesen Anfang mitzuerleben«, erklärte Darath. »Eine Ehre, die Hochzeitsriten mit ihm als Angehörige von Braut und Bräutigam zu vollziehen. Eine Tragödie, dass er nicht lange genug gelebt hat, um diese Hoffnungen Wirklichkeit werden zu sehen.«

Diese absurden Rituale. Verdrehte, kranke Spiele. Sie reden wie ein Mann, der im Schlaf furzt, diese großen Familien. Das hatte Orhan einst Janush sagen hören.

Der Kaiser machte eine Handbewegung und nickte Eloise fast unmerklich zu. Sie verbeugte sich tief, stand auf und verschwand wieder aus Orhans Blickfeld. Er hörte ihre langsamen, ungelenken Schritte, als sie rückwärts zur Tür ging. Lang gezogenes Schweigen, während sie warteten. Ein großer Raum, scheinbar sogar noch größer, wenn man darauf wartete, dass jemand formell hinausging. Endlich schien die Tür geschlossen worden zu sein. Der Kaiser bewegte sich wieder, Orhan sah ihn schlucken, der Knubbel an der kaiserlichen Kehle zuckte. Der Sitz der Seele eines Menschen, glaubten die Chatheaner.

Seine Knie schmerzten sehr. Edelsteine drückten sich in seine Schienbeine. Der Rücken des armen Darath musste kurz vor dem Durchbrechen sein. Immer schön auf den Hals des Kaisers starren und nicht auf seinen rundlichen Bauch oder gar zwischen die kaiserlichen Beine. Der Kaiser machte noch eine Handbewegung. Zu Orhans Erstaunen und Entgeisterung verließen die Wachen langsam den Raum.

»Erhebt Euch«, verlangte der Kaiser.

Orhan und Darath standen mit schmerzverzerrten Gesichtern auf. Das Blut strömte qualvoll zurück in Orhans Beine. Heißer Sand tanzte von den Zehen zu den Kniescheiben und schob sich unter seine Haut. Daraths Knochen knackten laut. Sie hielten den Kopf beide respektvoll gesenkt und starrten weiterhin auf den kaiserlichen Hals. Der Kaiser schluckte, und der Sitz seiner Seele zuckte.

»Lord Emmereth. Lord Vorley.«

»Mein Kaiser.«

»Mein Kaiser.«

Ein weiteres Schlucken. »Heute Morgen traf ein Brief ein. Von einem verlässlichen Informanten, wurde mir versichert. Einem Mann in Ith, der Mitglied von Leos Calborides Delegation zu mir nach Sorlost war. Einem Mann, der zudem Selerie Calborides Delegation zu diesem neuen König der Weißen Inseln angehörte. Einem Mann, der bei seinem Leben schwört, dass die neue Königin der Weißen Inseln die Hohepriesterin des Großen Tanis ist, deren Leiche Ihr mir in einer silbernen Kiste gezeigt habt. Er hat sie ebenso hier wie dort aus der Nähe gesehen und schreibt, ihr Gesicht wäre nur schwer zu vergessen. Und dann … zeigte mir Lord Tardein, mein Nithque, einen weiteren Brief, Lord Emmereth. Einen, der nur wenige Tage alt ist. Vom selben Verfasser. Einer der Sekretäre hat ihn ihm gezeigt. Nachdem er mehrmals danach gefragt hatte.«

Das Blut wich aus Orhans Gesicht. Darath verlagerte neben ihm das Gewicht.

Natürlich wusste Darath nichts von dem Brief, den Gallus Orhan vorgelegt hatte.

Und Orhan hatte Gallus angewiesen, den Brief zu verbrennen.

»Der König der Weißen Inseln! Hier! Er hat mich mit seinem Schwert bedroht! Behauptet, ich hätte jammernd zu seinen Füßen gekauert! Der heilige Titel des Auserwählten des Großen Tanis auf den schmutzigen Lippen eines Altrersyr-Dämons, der besinnungslos auf seinem Stuhl zusammengesackt ist! Und Ihr wusstet es! Ihr habt es die ganze Zeit gewusst!«

Er gab sich die größte Mühe, aber er bekam keinen Ton heraus. Seine Zunge war bleischwer. In seinem Bauch ein Wurm, der sein Herz zernagte. Neben ihm schien Darath beinahe in die Luft zu gehen.

»Mein Kaiser«, setzte Orhan an. »Ich … ich habe den Brief gelesen, mein Kaiser. Der … der Sekretär Gallus hat ihn mir gezeigt. Er war besorgt. Wir waren uns einig … dass es sich um Lügen handeln müsse. Absurditäten. Ich … ich kann es noch immer nicht glauben. Mein Kaiser …«

Die Kehle des Kaisers zuckte abermals. »Ich sollte Euch wegen Hochverrats exekutieren lassen, Lord Emmereth.«

Eine Messerklinge.

Und warum dachte er zuerst an das Kind?

»Doch Lord Tardein hat mich davon überzeugt, Gnade walten zu lassen«, fuhr der Kaiser fort. »Lord Magreth ist ebenfalls der Ansicht, es wäre voreilig, Euch zu bestrafen. Mein Volk braucht Stabilität, wie ich Lady Verneth eben erst gesagt habe. Diese Behauptungen sind absurd. Lügen. Und selbst wenn dem nicht so ist – ich habe Amrath getrotzt, als er in meine Stadt kam, nicht wahr? Ich habe ihn vertrieben. Ihn fortgeschickt. Ich habe mein Volk einmal vor Amraths Armee beschützt. Die Taten eines armseligen Barbaren, von dem er angeblich abstammt, sind für mich und Sorlost ohne Belang. Ist dem nicht so? Als der Altrersyr-König in meinen Palast kam, hat er mir nichts angetan. Ich habe ihn besiegt. Ich bin der Sekemleth-Kaiser von Sorlost, und aus diesem Grund konnte er keine Hand an mich legen.«

Orhan senkte den Kopf. »Ihr habt ihn in der Tat besiegt, mein Kaiser.«

»Aus diesem Grund werdet Ihr verschont, Lord Emmereth. Ich lasse Gnade walten.« Diese schwache, alberne, schreckliche Stimme. »Aber, aber. Lord Tardein und Lord Magreth werden Euch im Auge behalten. Ich werde Euch im Auge behalten. Euch beide.« Der Kaiser rutschte auf seinem Thron herum. Ihm schien etwas einzufallen. Etwas Eigenes, ein Aufblitzen kaiserlicher Brillanz, dachte Orhan. »Lady Verneth wird Euch im Auge behalten.«

Darath bewegte langsam den Kopf.

»Und?«, fragte der Kaiser.

»Ihr seid glorreich in Eurer Gnade, mein Kaiser«, sagte Orhan.

»Ihr seid über alle Maßen gütig, mein Kaiser«, sagte Darath.

Orhan dachte: Cam Tardein und Samn Magreth sind überaus gnädig und gütig.

»Ihr werdet alles, was ich gesagt habe, beherzigen«, fuhr der Kaiser fort. »Und Ihr werdet dankbar dafür sein, dass ich ein gnädiger Mann bin.«

Wieder legten sie sich auf den Boden und pressten die Gesichter auf die Edelsteine. Daraths Knie knackten. Orhans Hals fühlte sich an, als würde ihn jemand erwürgen. In seinem Kopf pochte es, seine Beine zitterten, er hatte ein Übelkeit erregendes Gefühl im Bauch, als wären seine Innereien voll mit geschmolzenem Blei. Stille Wut ging von Darath aus. Ein heißer, trockener Wind, der möglicherweise nie mehr nachlassen würde. Sie blieben eine Ewigkeit so liegen, bis der Kaiser sie herablassend gehen ließ.

»Vergesst nicht, wie gütig ich gewesen bin«, sagte der Kaiser. »Den Kaiser kann man nicht täuschen, Lord Emmereth, Lord Vorley.«

Als sie sich erhoben, knackten Daraths Knie und Orhans Rücken. Vorsichtig gingen sie rückwärts, mit gesenktem Kopf, den Blick auf die Füße gerichtet. Heißer Sand tanzte über Orhans Beine.

Als sie vor dem Palast standen, sagte Darath sehr, sehr langsam: »Ich habe den Eindruck, wir sollten uns unterhalten, Orhan. Bist du nicht auch dieser Ansicht?«

Was konnte er dazu sagen? Sehr, sehr langsam erwiderte Orhan: »Ja.« Er wandte den Blick ab. »Es tut mir leid, Darath. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«