37

Man brachte sie in eine Herberge im Süden der Stadt, weit vom Haus des Ostens entfernt, in einer Gegend, in der sie noch nie zuvor gewesen war. Sie reiste in einer gemieteten Sänfte, die klein und beengt war, mit einer Tasche voller Kleidung in den Armen. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass sie nicht sehen konnte, wo sie sich befanden. Damit die Passanten sie nicht sehen konnten oder damit sie den Weg zurück nicht mehr fand?, fragte sie sich. Beim Verlassen des Hauses hatte sie das weinende Baby gehört. Bilale, die ihm etwas vorsang. Janush saß neben ihr und versuchte, nicht die Beine gegen ihre zu pressen. Er war verlegen und schwitzte so stark, dass ihm der Schweiß herunterlief. Er fächelte sich mit der Hand Luft zu.

Sie hielten ruckartig an. Nilesh wurde nach vorn geschleudert und prallte gegen Janush. Er versuchte verlegen, ihre Hand zu tätscheln.

»Es ist alles gut, Nilesh«, sagte er. »Hab keine Angst. Sieh nur. Es sieht doch nett aus. Gemütlich.«

Ein hohes Haus, die Wände grünlich gelb gestrichen wie eingewecktes Eigelb, der Stuck bröckelte in der Sonne. Die Fensterläden waren ausgeblichen. Blassgelbe Blumen schlängelten sich um die Tür. Ein Feigenbaum wuchs in einem Topf neben dem Eingang; eine Katze schlief im Staub in einem Teich aus Licht.

»Das Fünf Ecken«, sagte Janush.

Sie stolperte mit ihrem Gepäck aus der Sänfte. Warme, staubige Steinplatten unter ihren Füßen. Schwerer Blumenduft. Die Katze wachte auf, wälzte sich herum und streckte die Beine. Nilesh ging langsam zur Tür. Seltsam. So seltsam. Ihre Beine waren noch immer kraftlos. Ihre Augen juckten. So seltsam. Hier würde sie von nun an leben.

Janush stieg nicht aus der Sänfte aus, sondern blieb hinter den Vorhängen und zog sie rasch wieder zu.

Nilesh hob die Hand und winkte. »Leb wohl, Janush.« Sie würde ihn nie wiedersehen.

Das Zimmer war viel kleiner als Bilales. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit einem Krug und einem Becher. Nilesh sah sich nach dem Alkoven um, in dem sie schlafen würde. Erst dann begriff sie, dass es ihr Zimmer war. Ihr Bett.

Sie legte ihre Kleidung in den Schrank. Trank einen Becher Wasser. Glasierter, bemalter Ton, keine Bronze, kein Silber, kein Gold. Es schmeckte anders. Fühlte sich seltsam an den Lippen an. Das Wasser war warm, weil es im Zimmer gestanden hatte. Nicht frisch gepumpt.

Sie ging zum Fenster. Ging wieder zur Tür. Strich die Kleidung im Schrank glatt. Ging zum Fenster. Ging zur Tür.

Setzte sich aufs Bett und weinte.

 

Sie schlief nicht gut. Unbekannte Geräusche. Straßenlärm, der durch das Fenster hereindrang, Hunde und Katzen, Menschen und Handkarren. Zwei Frauen, die sich mitten in der Nacht stritten. Zeternde Gillavögel bei Tagesanbruch. Sie war an die leisen Schritte der Dienstboten gewöhnt, an die Rufe der Ferfews, den Wind in den Ästen, Bilales Atem. Der Krug war leer: Sie fragte sich, wann er ausgewaschen und aufgefüllt wurde. Der Topf unter dem Bett war randvoll: Sie beäugte ihn und wusste nicht, was sie damit anstellen, wie sie ihn leeren sollte. Nach einer Weile ging sie zum Fenster. Sie konnte die Straße und die Häuser gegenüber sehen: Menschen liefen herum, zwei Kinder spielten mit einem Ball, ein Mann bettelte, eine Frau schloss die Tür hinter sich und balancierte ein Tablett mit Kuchen auf den Armen. Ein Hund kam aus einer Gasse geschossen, und sie hätte das Tablett beinahe fallen lassen. Die Kinder rannten weg. Die Frau gab dem Bettler einen Kuchen.

Nilesh zog sich an. Sie hatte Hunger und Durst. Der Topf unter dem Bett stank. Sie verließ das Zimmer. Stieg die knarrende Treppe hinunter. Das Geräusch ließ sie zusammenschrecken. Neben der Treppe hing ein Spiegel, ein alter aus grün angelaufener, polierter Bronze, aus dem sie ihr Spiegelbild verschwommen und verzerrt mit großen Augen anstarrte.

Sie war nicht daran gewöhnt, sich allein zu sehen. Da hätten andere Gesichter im Hintergrund sein müssen. Bilale oder Dienstmädchen oder ein Junge, der zum Singen hereinkam.

Am Fuß der Treppe begegnete sie Alyet, einer der drei Schwestern, denen das Haus gehörte. Alyet sah ihr ins Gesicht und lächelte. Freundlich. Nilesh wusste nicht, wie sie mit ihr reden sollte. Ihre Hände waren grob wie die einer Dienerin, und ihr Haar roch nach Arbeit, aber sie sah Nilesh ins Gesicht, und dies war ihr Haus.

»Guten Morgen«, sagte Alyet. »Komm in den Hof. Ich bringe dir das Frühstück.«

Nilesh setzte sich an einen Tisch unter einem Feigenbaum. Alyet brachte ihr mit Kräutern gefülltes Brot, Sauermilch und Walnüsse. Sie aß schweigend und betrachtete den Baum. An einem anderen Tisch saßen noch drei Personen, zwei Männer und eine Frau, und unterhielten sich in einer Sprache, die Nilesh nicht verstand. Die Frau hatte eine Goldkette im Haar. Sie lachte und streckte ihre Hände aus, die schwielig und rau aussahen, aber mit Ringen und goldener Farben geschmückt waren. Einer der Männer bemerkte Nileshs Blick und lächelte sie an. Nilesh schaute rasch wieder zum Baum hinüber.

 

Fünf Tage lang saß Nilesh in ihrem Zimmer, aß im Hof mit Blick auf den Feigenbaum und schlenderte gelegentlich in die Stadt, um sich am Gehen zu versuchen. Ihre Augen juckten. Ihre Beine zitterten. Allein, ohne Bilale, Wachen oder Diener, taumelte sie durch die Straßen und fühlte sich völlig verloren. Sie schaute sich in der Hoffnung um, Bilale zu sehen. Das Baby. Den wunderschönen kleinen Jungen. Starrte die Menschen an, die herumliefen und kauften, verkauften, sich stritten, lachten. Dinge taten.

»Wir sind wie Läuse, die über ihre Körper krabbeln, für die Bilales wunderschönes rotes Haar die Erde, der Himmel und das Haus des Gottes ist.« Das hatte Janush gesagt, das war es, woran sie sich nicht hatte erinnern können.

In der fünften Nacht ging sie früh zu Bett und war erschöpft vom vielen Herumlaufen. Sie hatte Kopfschmerzen. Das war nicht ungewöhnlich. Ihre Augen juckten so schmerzhaft wie Schnittwunden. Janush hatte gesagt, es würde irgendwann aufhören. Sie glaubte nicht daran. Dann lag sie lange Zeit wach im Bett und lauschte auf die Geräusche im Gebäude, die sich so anders anhörten als alles, was sie gewohnt war. Sie bemerkte, dass sie verkrampft war und darauf wartete, dass Bilale sie zu sich rief. Sie war immer verkrampft. Wartete die ganze Zeit. Nun ging ihr auf, dass sie nicht länger warten musste. Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein Schock. Als hätte sie eiskaltes Wasser getrunken. Sie setzte sich auf und schlang furchtsam die Arme um den Oberkörper.

Dann hörte sie die Schreie.

Sie hörten sich an wie die Schreie zuvor in Bilales Zimmer. Eine Frau schrie. Entsetzen. Trauer. Nilesh wimmerte und schrie ebenfalls. Sie sah die Dinge, an die sie sich nicht erinnern konnte, Blut und die Männer mit den Schwertern und Bilale ohne ihre Hände.

Die Schreie hörten auf. Als sie wieder anfingen, klang es eher wie ein Weinen. Jemand rief etwas, das sie nicht verstehen konnte. Stimmen draußen im Flur, flüsternd, eindringlich. Eine Tür wurde geöffnet und zugeknallt. Schnelle Schritte. Nilesh öffnete ihre Zimmertür einen Spaltbreit und spähte hinaus. Die Geister der Männer mit den Schwertern kämpften, Bilale kroch durch Blut. Sie kniff die Augen zu, öffnete sie wieder. Der Flur der Herberge, die knarrende Treppe, der alte Bronzespiegel, Spinnweben in den hintersten Ecken. Flackerndes Lampenlicht, das die Schatten tanzen ließ; im Licht die fremde Frau mit den Goldringen. Ihr Kleid sah fleckig aus. Schwarz im Lampenlicht. Sie weinte. Schrie. Sie hatte Angst. Ein widerlicher Geruch erfüllte den Korridor. Süß und blutig und fischig und ranzig. Nilesh musste würgen, ihr wurde übel. Die Frau rannte die Treppe hinunter in die Dunkelheit. Nilesh sah, was sich hinter ihr im Zimmer befand. Ein Bett mit einem Mann darin. Ein Mann neben dem Bett, der entsetzt nach unten blickte. Dunkle Flecken auf dem Bettzeug und dem Boden.

Die Frau kam, noch immer schreiend, wieder nach oben gelaufen. Alyets Schwester Navala folgte ihr und hielt ein Messer in der Hand. Navala schrie, schwenkte das Messer, deutete auf das Zimmer. Die Schreie der Frau wurden lauter. Sie kam auf Navala zu. Navala machte einen Satz nach hinten und hob das Messer.

»Nein!«, brüllte Navala. »Weg von mir!« Sie stach nach der Frau. Die Frau schrie und stand zitternd zwischen der Tür und der Messerklinge.

»Weg! Weg!«

Ein Knarren von der Treppe. Alyet kam aus dem obersten Stockwerk herunter und hielt eine Lampe in der Hand. Tamale, die dritte Schwester, tauchte dicht hinter ihr auf.

»Nein!«, schrie Navala. »Geht wieder nach oben! Los! Geht rauf!«

Tamale drängte sich an Alyet vorbei und kam die Treppe herunter. Sie sah die Frau und die offene Tür. Schrie nun ebenfalls. Navala brüllte noch immer: »Weg! Weg!« Die Lampe in Alyets Hand und die Lampe im Schlafzimmer flackerten, und die Schatten tanzten. Der Geruch in der Luft war beißend. Latrinen und schmutzige Körper, Menstruationslappen, der Schlamm am Grund des Brunnens, wenn ein Vogel hineingefallen und ertrunken war. Nilesh wurde speiübel. Der Mann kam aus dem Raum und packte die Frau. Sie schlug nach ihm. Navala wackelte mit dem Messer und rief: »Zurück! Zurück!« Die Frau krümmte sich, als wollte sie sich verbeugen. Erbrach stinkenden, dampfenden, blutigen Brei vor Tamales Füße. Tamale kreischte. Die Frau schwankte, gab ein gurgelndes, ersticktes Geräusch von sich, schwarzer Dreck fiel ihr aus dem Gesicht; der Mann fing sie auf, zog sie zurück ins Zimmer, knallte die Tür zu. Tamale stand mit schwarzem Erbrochenem auf dem Kleid da und zitterte am ganzen Körper. Ihre Schwestern starrten sie an. Die Lampen in ihren Händen bebten. Hinter der Tür schrie die Frau weiter.

 

Die nächsten beiden Tage und Nächte blieb Nilesh auf ihrem Zimmer. Das Haus war voller Lärm, Schluchzen und Schreie, Schritte den Korridor entlang, das irre, verzweifelte Lachen einer Frau, das Trampeln von Soldatenstiefeln auf der Treppe. Die Frau mit den Goldringen starb am Morgen. Oder sie hörte auf zu schreien. Später weitere Schreie, jaulende, grelle Schmerzensschreie. Dieses Mal von oben: Alyet, vermutete Nilesh, oder Navala oder Tamale. Sie hörte sie die Stufen rauf- und runterlaufen, Wasser holen, nach Kräutern und Zaubersprüchen suchen, die Linderung bringen könnten. Sie holten einen Wunderwirker, gleich am ersten Morgen, kurz nach dem Tod der fremden Frau. Dann einen Arzt. Nilesh lauschte seinen entsetzten Schreien, als er aus dem Haus floh. Wie er sie verfluchte. Danach kamen die Soldaten. Nilesh hörte, wie Alyet die Soldaten unten an der Haustür anflehte, nicht hereinzukommen, behauptete, es wäre alles in Ordnung. »Das war nur ein verdorbener Magen«, sagte sie schluchzend. »Schlechtes Fleisch. Ein Fleischer hat uns schlechtes Fleisch verkauft.« Schritte auf der Treppe. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde. Nilesh hockte sich hinter ihre Tür. Darin war ein Spalt, durch den sie hinausschauen konnte. Die Bodendielen und die gegenüberliegende Wand waren gerade so zu erkennen. Die Soldaten stürmten in das Zimmer der fremden Frau. Entsetzte Schreie. Der Geruch, als sie die Tür öffneten. Schreiend rannten die Soldaten wieder hinaus. Einer blieb auf dem Korridor vor Nileshs Tür stehen und übergab sich. Nilesh machte sich ganz klein und unterdrückte ihr Würgen. Sie versuchte, sich nicht zu bewegen, als er sich stöhnend an die Tür lehnte. Ihr Herz schlug so laut. Sie hielt den Atem an. Der Soldat taumelte die Treppe hinunter und murmelte: »Bei den Gottesmessern. Bei den Gottesmessern.« Der Gestank drang so intensiv unter der Tür hindurch. Sie hörte laute Stimmen im Eingangsbereich. Ein metallisches Krachen. Stille. Die Haustür wurde zugeknallt.

Kurze Zeit später ein Hämmern.

Verwirrung. Dann begriff sie.

Die Haustür wurde vernagelt.

 

»Was für ein Heilmittel gibt es?«, hatte Nilesh Janush gefragt. »Gegen das Tieffieber. Wenn es so schrecklich ist, wie unser Herr sagt.«

»Indem man Lavendel und Sysiusbeeren verbrennt, kann man es möglicherweise abwehren«, hatte Janush erwidert. »Pfefferminze ist allgemein gut, um die Luft zu reinigen. Die Chatheaner opfern Katzen, da sie glauben, die Götter wären für die Krankheit verantwortlich, und trinken eine Medizin aus Weintrub, Hagebutten und Katzenblut. Man kann den Gesang von Semethest singen. Sich die Asche von in Honig getauchten Pfauenfedern auf die Brust binden. Die Hymne der neuen Sonne singen. Aber all das wirkt nur, wenn die Krankheit noch nicht weit fortgeschritten ist und der Leidende noch gar nichts von der Erkrankung gemerkt hat.«

»Und was ist, wenn der Leidende es nicht merkt?«, hatte Nilesh wissen wollen. »Wenn er es erst begreift, nachdem er krank geworden ist?«

»Ah. Dann, dann, Nilesh, gibt es nur noch ein Heilmittel. Bete zum Großen Tanis. Und schneide dir die Venen an den Handgelenken auf.«

 

Am Morgen des dritten Tages war es still im Haus. Der Gestank, der unter der Tür hereindrang, war kaum noch zu ertragen. Schlimmer als je zuvor. Nilesh saß auf dem Bett und starrte die Wand an und das Licht, das durch die Fensterläden hereinfiel. Der Wasserkrug war leer. Er war schon seit einer Nacht und einem Tag leer. Der Nachttopf quoll über. Sie hatte heftige Bauchschmerzen vor Hunger. Die Geräusche der Stadt drangen herein. Doch sie klangen ferner, leiser. Irgendwie angespannter. Hin und wieder meinte sie, Schreie zu hören. Aber die konnten auch in ihrem Kopf sein, ein klingelndes Echo wie damals, als Lord Emmereth etwas auf dem Hof hatte bauen lassen und den Arbeitern eine Bronzeplatte aus den Händen gefallen war.

Sie musste aufstehen. Nach draußen gehen. Sie war verschwitzt, durstig und hungrig, und im Zimmer stank es nach dem Nachttopf, um den die Fliegen schwirrten. Das ganze Haus stank. Das ganze Haus war voller Fliegen. Sie vermutete, dass im Haus jeder außer ihr tot war.

Nilesh öffnete die Tür. Fliegenschwärme auf dem Korridor, dick und schwer, freudig summend über der Schwelle zum Zimmer der Frau. Schwarze Käfer. Sieh nicht hin, dachte sie. Sieh nicht hin. Sieh nicht hin.

Sie zwang sich, zur Treppe zu gehen. Schwarze Käfer auf dem Boden und an den Wänden. Die Luft war dick von Fliegen. Dieser Gestank! Oh, bei den Gottesmessern, dieser Gestank! Ihre Knie waren vor Hunger ganz weich, ihr Mund fühlte sich staubtrocken an; ihre Lippen schienen aufgebläht und klebrig zu sein und irgendwie nicht so recht zu ihr zu gehören. Im Haus war es sehr heiß. An der Treppe blieb sie stehen und lauschte. Von oben, wo die drei Schwestern schliefen, drang kein Geräusch herab. Sie ging nach unten. Alyet lag auf dem Boden vor der untersten Treppenstufe. Ihr Magen war aufgeschlitzt. Sie war tot. Blut und Dreck, Käfer, Maden und Fliegen. Nilesh würde über sie drübersteigen müssen. Kurz überlegte sie, wieder nach oben zu gehen und sich in ihrem Zimmer zu verstecken.

Du musst weitergehen, sagte sie sich. Du musst hier raus. Durstig. So durstig. Du musst etwas trinken. Sonst verdurstest du. Sie raffte ihren Rock, zog ihn bis zu den Oberschenkeln hoch. Spürte, wie der Dreck bei jedem Schritt an ihr kleben blieb. Die Fliegen umschwirrten sie wie eine Wolke. Das Geräusch, das die Käfer machten. Sie erstarrte mit dem Fuß in der Luft, konnte nicht weitergehen, ein totes Ding vor ihr mit Käfern, die aus dem Bauch gekrabbelt kamen, die Fliegen flogen zwischen ihre Beine, verfingen sich in ihrer Kleidung und in ihrem Haar, landeten auf ihr, übertrugen den Dreck von diesem Ding auf ihre Haut.

Du musst weitergehen. Du musst daran vorbeigehen. Sie setzte den Fuß ab, das Blut hatte sich ausgebreitet, war verlaufen, sodass sie hineintreten musste, Blut und Flüssigkeit an ihrer Sandale, rutschig, sie hielt sich an der Wand fest, war auf der anderen Seite, rannte zum Eingang mit der zugenagelten Tür.

Ich muss hier raus, dachte sie. Konnte sie an die Tür klopfen, schreien, brüllen, um Hilfe bitten? Oder an die Wände zum Nachbarhaus; sie konnte an die Mauern schlagen, die Fensterläden öffnen, kreischen.

Dies ist ein Pesthaus, dachte sie. Es wurde versiegelt. Wenn man sie hier fand, würde man sie als Überträgerin ansehen und sie töten.

Sie blickte durch die Gucklöcher im dicken Holz der Eingangstür. Die Straße war leer. Ein keuchender Hund tappte vorbei. Zwei Süßsänger badeten im Staub. Dabei sollten hier doch Menschen sein und ihrem Alltag nachgehen. Stattdessen Stille. Noch immer hörte sie schwach und leise ein Echo der Schreie in ihrem Kopf.

Der Hund trottete bellend auf die Süßsänger zu. Er zog Nileshs Blick auf sich. Die Tür zum Haus der Kuchenbäckerin war ebenfalls vernagelt.

Die Tür des Nachbarhauses ging auf. Eine Frau kam heraus. Sie stand auf der Türschwelle. Hob den Kopf. Schrie. Der Schrei hing in der Luft wie die Echos, von denen Nilesh geglaubt hatte, sie wären nur in ihrem Kopf.

Der Hund rannte bellend weg. Die Süßsänger erhoben sich in einer Staubwolke in die Luft. Die Frau schrie. Ihr Kleid war vorn von dunklen Flecken übersät, wie Nilesh es auch bei der fremden Frau gesehen hatte.

Nilesh begriff das Offensichtliche und Unbegreifliche.

Das Tieffieber war in Sorlost ausgebrochen.