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König? Er trug eine Krone, Männer knieten zu seinen Füßen, er war der erstgeborene Erbe der Weißen Inseln, und sein Vater, der letzte König, war tot. Aber das Haus des Königs lag weit entfernt auf einer anderen Insel, sein jüngerer Bruder saß an seiner statt auf dem Thron der Altrersyr, die Männer der Weißen Inseln hielten ihn für tot. Er war König einer einzelnen Stadt, eines Fischerhafens, und sein Königssitz war das Haus eines Fischhändlers mit hohen, schmalen Zimmern und abgenutzten Fußböden. Was für ein glorreicher Ort, um das zu beanspruchen, was ihm zustand.

Vielleicht war es dumm gewesen, die eine Festung, die er besaß, dem Erdboden gleichzumachen, ging es ihm durch den Kopf. Die Welt zu verbrennen und auf die Asche zu pissen, um dann in einem unbequemen alten Bett neben Schimmelflecken an den Wänden zu schlafen. Ein wahrer Triumph.

Neben der Haustür hingen vom Meer glatt gespülte Steine und Vogelfedern an Lederschnüren. Sie klapperten, wenn man vorbeiging. Der Besitzer des Hauses, der zukünftige Lord Fischverkäufer, der reichste Heringshändler in Toreth, kniete neben allen anderen, als Marith hereinkam. Sein Haar war fettig, er hatte Kopfschuppen auf den Schultern, und Marith bildete sich ein, unter dem Parfüm Fischgeruch wahrzunehmen. Aber er hatte ihm sein Haus nur zu gern überlassen, nahezu begeistert, und über das ganze Gesicht gestrahlt, weil sich der blutgetränkte Junge in sein unbequemes altes Bett legen wollte. Das war gewiss die größte Ehre, die einem Mann jemals zuteilwerden konnte.

Lord Fischverkäufer sah nervös aus. »Mein König«, setzte er zaghaft an. Ich werde wohl seinen Namen herausfinden müssen, dachte Marith. »Mein König …«

Thalia kam die Treppe herunter. Das Sonnenlicht fiel durch ein Fenster auf ihr Gesicht. Sie trug ein mit rosafarbenen und grünen Blumen besticktes weißes Kleid: Im goldenen Licht und mit der braunen Haut und dem schwarzen Haar erinnerte sie ihn an einen blühenden Maibaum. Marith schloss die Augen. Schlug sie wieder auf. So hell. Das Sonnenlicht schien gleißend hell auf sie, und ihr Gesicht leuchtete förmlich.

Sie hatte ihren Umhang dabei.

Einen langen Augenblick sah sie ihn an und schien etwas sagen zu wollen.

Sie wird mich verlassen, dachte er.

Ich habe dafür gesorgt, dass sie mich gefahrlos verlassen kann. Und jetzt wird sie gehen. Die Erkenntnis traf ihn schwer: Sie ist nicht freiwillig mit mir hierhergekommen. Ich habe sie vor einem gewalttätigen Fremden gerettet; sie hat mich als Gefangene herbegleitet; sie war mit mir in einer belagerten Festung eingeschlossen. Und jetzt, wo ich die Belagerung durchbrochen habe, wendet sie mir den Rücken zu und geht.

Sie ist zu gut für mich, dachte er. Elternmörder. Widerling. König des Todes.

Lord Fischverkäufer wieselte neben ihm herum. »Mein König …«

Eine Wolke verdeckte die Sonne. Das Licht verblasste. Thalias blaue Augen wirkten dunkel und vorsichtig. Sie sagte nichts. Im Schatten sah sie aus wie der Stein auf Carins Grab.

»Thalia?«, fragte Marith.

Sie sah ihn an. Sehr lange Zeit schien sie ihn einfach nur anzusehen.

»Marith.« Sie wirkte verunsichert. Ich … ich verstehe das nicht, ging es ihm durch den Kopf. Sieh doch, was ich für dich getan habe. All das, Thalia, all das habe ich nur für dich getan. Damit du bekommst, was du verdienst. Damit du Königin wirst.

Sie war die Hohepriesterin des Herrn über die Lebenden und die Sterbenden, des Großen Tanis, der über Alles herrscht, des Einen Gottes des Sekemleth-Reiches der Asekemlene-Kaiser der Ewigen Goldenen Stadt Sorlost. Sie, die den Sterbenden den Tod bringt und das Leben zu jenen, die darauf warten, geboren zu werden.

Sie wusste, dass er log, wenn er glaubte, er hätte auch nur irgendetwas davon für sie getan.

»Thalia«, sagte er abermals. »Geh nicht. Bitte. Ich liebe dich.«

Sie kniff die Augen zusammen. Streckte die Hand aus.

»Bitte bleib«, fügte er hinzu.

Da lächelte sie. »Vorerst«, sagte sie. »Weil du mich so freundlich bittest.«

Das war keine befriedigende Antwort. Dennoch machte sein Herz einen Sprung.

 

Es gab viel zu tun, er musste sich an die zerlumpten Soldaten seiner Armee wenden und einen Plan schmieden. Nun gut, Marith, du bist König einer Stadt auf einer Insel, hast eine Armee aus Fischern und Dienstmädchen, ein geborgtes Pferd und ein geliehenes Schwert. Dein Vater hat seine Schiffe einen Tagesmarsch westlich von hier bei Escral zurückgelassen, und möglicherweise sind bereits weitere seiner Männer hierher unterwegs. Ja, zugegeben, du kannst einen Turm einstürzen lassen. Was für eine Machtdemonstration, mit Mörtel zusammengefügte Steine zu zerstören und einen Ort des Friedens zu vernichten! Aber kannst du auch gegen Krieger in einer Schlacht bestehen? Säuglinge hast du getötet, Marith. Frauen. Alte Männer. Was vermagst du wirklich zu vollbringen?

Die Gedanken hämmerten auf ihn ein. Wieder einmal wie donnernde Pferdehufe. Schlagende Flügel. Seine Augen juckten schrecklich. Er starrte die Wände an und versuchte, etwas zu erkennen. Thalia saß ihm schweigend gegenüber. In einem Raum, der nach Schimmel roch und in dem ein unbequemes Bett stand. All das nur für dich!

Ich wollte dich nach Ith bringen, dachte er. An den Hof meines Onkels, um dich zur Prinzessin zu machen, dich mit Gold und Diamanten zu schmücken, wir hätten unsere Tage damit verbringen können, durch die Wälder zu reiten, Seite an Seite lesend vor einem warmen Feuer zu sitzen, zu reden, zu tanzen, zu trinken, zu vögeln und den lieben langen Tag gar nichts zu machen. Dieser Traum ist vorbei. Und was habe ich stattdessen?

Wieder hatte er das Gefühl, sie wollte etwas sagen.

Unruhe draußen auf dem Korridor. Ein Klopfen an der Tür, dringlich, fordernd. Fast schon eine Erleichterung, dass jemand kam und die Anspannung brach, dass etwas geschah, dass er etwas zu tun bekam. Lord Fischhändler, ich muss unbedingt seinen Namen herausbekommen, dachte Marith, Lord Fischhändler an der Tür mit einer Nachricht: Einer der Lords von Terz war eingetroffen, Lord Fiolt, zusammen mit dreißig bewaffneten Männern. Angeblich wollte er seinem König seine Aufwartung machen. Er sei ein besonderer Freund des Königs.

Ah ja. Thalia blickte verwirrt auf. Carin Relast war mein einziger Freund, hatte er ihr einmal erzählt, mein einziger Freund, und er ist tot.

Marith erhob sich. »Osen Fiolt? Ich werde ihn in der Hauptkammer empfangen. Lasst uns Wein bringen.« Er versuchte, den Blick von Thalia abzuwenden. »Ich werde allein mit ihm sprechen.«

Sie runzelte die Stirn. Schien nachzudenken.

»Ich muss mir seiner sicher sein, bevor ich etwas riskiere«, fügte Marith hinzu. Auch jetzt war ihm bewusst, dass sie seine Lüge durchschaut hatte.

Sie nickte. Alles war so zerstückelt und angestrengt. Vielleicht hätte sie ihn verlassen sollen. Er hätte ihr einen Beutel Gold und ein Pferd gegeben und sie ihres Weges ziehen lassen.

Nun ging er die Treppe hinunter, um den Mann zu empfangen, der sich als seinen Freund bezeichnete.

 

Osen Fiolt war ein junger Mann, nur wenig älter als Marith. Dunkles Haar, dunkle Augen, schneidig und mit gewitzter Miene. Er kniete sich vor Marith und reichte ihm sein Schwert mit dem Knauf voran. Dabei war er so klug, die einfach gefertigten Holzstühle, die verputzten Wände, den Zinnkrug und die Tonbecher zu übersehen.

»Euch gehören meine Treue und mein Leben, mein König«, sagte Osen. »Gebietet über mein Schwert.«

Osens Tonfall, halb ängstlich, halb spöttisch, Marith Altrersyr, gekrönter »König«.

»Euer Leben und Eure Treue. Euer Schwert.« Marith hob den Blick zur Decke. Dort prangte ein Fleck, wo es während der Winterstürme hereingeregnet hatte. Der besondere Freund des Königs. »Und doch wart Ihr nicht hier, als mein Vater Malth Salene belagert hat, Lord Fiolt. Eintausend Männer, sieben Bliden und ein Magierfürst, und Ihr seid mir nicht zu Hilfe geeilt. Dann soll ich Euch jetzt nicht töten? Weil Ihr mich im Stich gelassen habt? Weil Ihr mich nicht unterstützt habt? Wo war Euer Schwert da? Eure Treue? Euer Leben?«

Osen erbleichte. »Ich … Marith … mein König … Marith …« Er blinzelte und verkrampfte die Hände am Schwert. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich gleich schneiden. »Ich …« Sämtlicher Spott war aus seiner Stimme verschwunden. Marith Altrersyr, gekrönter König.

Männerstimmen drangen durch das Fenster herein, Soldaten, denen der jämmerliche Anschein von Ordnung eingetrichtert worden war. Amraths Armee. Mariths Armee. Mariths treue, geliebte Männer. Osen blickte zu Marith auf, und Marith konnte erkennen, was in dem Mann vorging.

»Ich bin der Lord von Malth Calien«, gab Osen zögernd zu bedenken. »Ich bin Malth Elelane, dem Thron der Weißen Inseln, verpflichtet und Vasall des Königs. Ich habe Eurem Vater einen Eid geschworen. War ich nicht daran gebunden, solange er lebte? Ohne Treue bricht Chaos aus. Wem gebührt denn die Treue eines Mannes, wenn nicht vor allem seinem König?«

Ich schätze, wir waren einst Freunde, dachte Marith. Ich habe Carin getötet. Ich habe meinen Vater getötet. Vermutlich werde ich einige Freunde brauchen. Er sah auf Osen herab. Versuchte sich an einem Lächeln. Früher einmal hatte er mit Osen und Carin an einem Tisch gesessen, geredet und gelacht, immer mit Osens halb liebevollem, halb spöttisch-neidischem Blick auf sich. »Ich vertraue ihm nicht«, hatte Carin häufig gesagt.

»Soweit ich mich erinnern kann, hatten wir beschlossen, dass das vom König abhängt.«

Osens Lippen umspielte ein zaghaftes Lächeln. »Und von allem anderen.« Eine kurze Pause. »Aber wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, sind wir zu keinem endgültigen Schluss gekommen und mussten die Diskussion abbrechen, weil Euch übel wurde.«

Junge Männer, die zusammen tranken. Die bei auf der Tischplatte verschüttetem Wein Pläne schmiedeten und träumten. »Ich werde noch einige andere Lords an meiner Seite brauchen, wenn ich König bin«, hatte Marith zu Carin gesagt. »Irlast ist ziemlich groß für uns beide allein.«

Er sah Osen in die Augen. Die Anspannung verschwand.

Freunde.

Marith nahm das angebotene Schwert entgegen. »In der Tat. Nun gut, Lord Fiolt, ich nehme Eure Treue, Euer Leben und Euer Schwert an.« Er lachte. »Trinken wir auf den Umstand, dass ich noch am Leben bin?«

Osen schob sein Schwert in die Scheide und lachte ebenfalls. »So, wie ich auf Euren Tod getrunken habe?«

»Ihr habt auf meinen Tod getrunken?«

»Ich musste meinen Kummer ertränken. Das hättet Ihr doch so gewollt, oder nicht?«

Nun grinsten sie einander an und setzten sich ans Feuer. Marith schenkte ihnen beiden Wein ein. »Das ist natürlich ein widerwärtiges Gesöff. Fast schon Essig. Aber abgesehen davon gibt es nur Ziegenmilch … Bald werden wir in Malth Elelane sein, und dann können wir richtig feiern.«

Osen sah sich im Zimmer um. Die einfachen Möbelstücke, die schlichten Wandbehänge, die hässliche Bronzelampe. »Wir können schon früher feiern, und zwar in Malth Calien. Meine Treue, mein Leben, mein Schwert und der gesamte Inhalt meiner Weinkeller gehören Euch.« Er hob seinen Becher. »König Marith. Möge sein Schwert niemals stumpf werden, die Welt vor ihm erzittern und stets Wein in seinem Becher sein. Möge meine Klinge stets scharf sein und mein Lebensblut für ihn vergossen werden.«

»Und Eure Keller enthalten bessere Tropfen als diese Brühe?«

»Das kann ich Euch guten Gewissens versichern. Wenn wir heute losreiten, könnt Ihr morgen Abend am Feuer Hippocras trinken.«

Er hatte hier Freunde. Selbstverständlich hatte er hier Freunde. Immerhin hatte er hier gelebt. Freunde, Geliebte, Saufkumpane und Menschen, die ihn seit seiner Geburt kannten. Eine ganze Welt.