Warum?«, fragte Landra.
»Weil er es tun konnte«, erwiderte Tobias.
»Die halbe Armee … die halbe Armee stammt aus Ith. Aus Tyrenae. Er hat sie dazu gezwungen«, stellte Landra fest. »Er hat sie dazu gebracht. Er hätte sie getötet, wenn sie sich geweigert hätten, vielleicht …«
Malth Salene wurden vollkommen zerstört. Marith kreischte: »Legt alles in Schutt und Asche!« Sie waren ihm gefolgt, hatten ihm zugejubelt, die Mauern mit ihren Schwertern und bloßen Händen niedergerissen.
Ich bin ihm gefolgt, dachte Tobias. Habe ihm zugejubelt. Das hier dürfte weder mich noch sonst jemanden überraschen. »Der feuchte Traum jedes Soldaten ist eine reiche Stadt mit offenen Toren, völlig ungeschützt«, sagte er. »Der Kommandant befiehlt den Angriff. Vermutlich war es den meisten ganz egal, welche Stadt es war. Für die Ither war es wahrscheinlich noch leichter. Sie kannten sich aus. Wussten, wo das Mädchen lebte, das ihnen immer einen Korb gegeben hatte. Wo ihre Angehörigen ihr Geld versteckten.«
Drei Nächte lang war der Himmel über Tyrenae rot von Feuer. Drei Tage lang war der Himmel über Tyrenae schwarz von Rauch. In der vierten Nacht blieb der Himmel dunkel.
»Sie werden bald zurückkehren«, mutmaßte Tobias. »Zurück in Richtung Illyr. Wir sollten ihnen wohl besser aus dem Weg gehen.« Er wandte sich von ihnen ab. Sie sollten ihn nicht weinen sehen.
Unterwegs trafen sie einen Holzfäller. Er wusste nichts von dem, was sich in Tyrenae abgespielt hatte. Er wusste nichts über das Kämpfen oder den neuen König von Ith. Aber er hatte mehrere Reiter gesehen, einige Tage musste es nun schon her sein, die schnell in die Berge ritten, unter Kapuzen und Umhängen verborgen, gut gekleidet wie reiche Menschen.
»Was bei all den Höllen hat Marith vor? Wo will er hin? Er hat doch wohl nicht vor, Illyr ganz allein zu erobern?« Mit einer Antwort rechnete er eigentlich nicht.
Landra wirkte ebenso ratlos wie verwirrt. Raeta zuckte mit den Achseln. »Er macht sich verletzlich.«
»Sehr rücksichtsvoll von ihm …« Möglicherweise wollte er den Tatsachen einfach nicht ins Auge sehen. Erkennen, dass Tyrenae geplündert und vernichtet worden war. »Es hat nichts mit mir zu tun, ich war meilenweit weg, ich war betrunken, ich wollte nicht, dass das passiert, jemand muss einen Befehl falsch verstanden haben.«
Der Wald wurde dunkler. Dichter, weniger lebendig. Kaum noch Licht drang hindurch. Die Straße führte steil nach oben, hinauf in die Berge, es war nirgendwo menschliches Leben zu sehen, aber sie kamen an einigen alten Wegmarkierungen vorbei, die von ehemaligen Minenarbeitern stammten. Die Erde unter ihren Füßen war dunkel, schwer und schlammig. Vergiftet, sagte Raeta, durch die Minen. Hier hatte man früher einmal Quecksilber abgebaut. Und dann die Berge selbst, die Hänge voller Dunkelkiefern, der Weg führte über hohe Pässe, wo die Luft dünn und kalt war. An geschützten, finsteren Stellen lag noch immer Schnee.
Sie gelangten an den Fluss Elenanen, der sich durch die Berge schnitt. Einst war er bis hinunter nach Caltath geflossen und galt als größter Strom in Irlast. Er floss an den Palästen der Gottkönige vorbei. Eine Brücke führte über den Fluss, während die Straße am Nordufer entlangführte. Die Steine, aus denen die Brücke errichtet worden war, sahen blassgelb, trocken und bröselig aus. Ganz anders als die Steine des Berges. Sie fühlten sich unter Tobias’ Hand auch anders an.
Noch immer kein Zeichen von Marith. Oder eine Spur der Reiter. Sie wanderten durch eine Landschaft, die größer war als die ganzen verdammten Weißen Inseln. Er konnte die Straße verlassen haben. Er konnte überall sein. Was auch immer tun.
Tobias bemerkte, dass Raeta zunehmend verängstigter wirkte. Sie starrte die Bäume um sich herum an, zuckte zusammen und überquerte die Brücke zitternd.
»Elenanen«, sagte Landra. »Es bedeutet …«
»Leise!« Tobias hob eine Hand. »Halt! Runter!«
Stimmen. Sie kamen auf sie zu.
»… nicht meine Schuld …«
»… verdammt bescheuert … ihm sagen … versucht … nicht …«
»… uns töten …«
Das waren keine glücklichen Kaninchen.
Drei Männer traten zwischen den Bäumen hervor. Bewaffnet. Dunkle Mäntel. Dunkelrote Abzeichen auf den Rüstungen. Gestaltlose, formlose Farbkleckse, wie Wundschorf über der Stelle, an der sich ihr Herz befinden sollte.
»Er ist in der Nähe«, flüsterte Raeta Tobias ins Ohr.
Tobias nickte. »Was denkt Ihr?«
Raeta seufzte. »Ja. Tut es.«
Die drei Männer näherten sich. Feindselig und neugierig. Noch hatten sie die Schwerter nicht gezogen. Ein Mann und zwei Frauen, die sich in den Bergen verirrt hatten, was konnten sie ihnen schon tun?
Das werdet ihr gleich herausfinden. Tut mir leid. Dumm gelaufen. Nehmt es nicht persönlich.
Die Musik von Eisen und Bronze! Er hatte sein Schwert lange nicht mehr gezogen. Zerhacken und zerschmettern. Zerschmettern und zerhacken. Zwei töten. Einen lebendig fassen. Ganz einfach. Ach ja? Bei den Göttern, war das anstrengend, sein Bein schmerzte, er bekam Seitenstechen. Schwang sein Schwert, zielte auf den Brustkorb des einen Mannes und spürte, wie seine Rippen protestierten. Ein Schwert vor seinem Gesicht, zustechen, hacken, abwehren, den Gegner einige Schritte zurücktreiben, wieder ein Schwert im Gesicht. Nun muss er zurückweichen. Blocken. Es einfach abwehren. Zuschlagen und zerschmettern und zuschlagen und verfehlen, und seine Rippen bringen ihn fast um, ebenso sein Arm.
Früher war ich doch ein guter Schwertkämpfer.
Zerhacken und zerschmettern. Schnörkellos. Verdammt hart. Einfach abwehren. Den Kerl töten, bevor er mich umbringt. Der Geschmack von Blut in seinem Mund.
Das war ein Fehler. Wir hätten freundlich mit ihnen plaudern, ihnen die richtigen Fragen stellen sollen. Vergiss den Gedanken, einen am Leben zu lassen. Versuch lieber, selbst am Leben zu bleiben. Verdammt, tun mir die Rippen weh!
Tobias bezwang den Mann nur, weil der Kerl über einen Stein stolperte. Landra war schlichtweg nutzlos; sie stand einfach nur mit dem Schwert in der Hand da, als würde sie darauf warten, dass jemand so brav und hilfreich war und sich hineinstürzte. Sie sah verängstigt aus. Raeta tötete ihren endlich mit einem Schwertstreich, mit dem sie ihm den Kopf sauber abtrennte. Der Schädel rollte davon, wurde immer schneller und stürzte in den Fluss. Plopp. Die Leiche lag blutend da. Das Schwert noch in der Hand. Sie wirkte richtiggehend überrascht, obwohl sie keinen Kopf mehr besaß.
Eine starke Frau, diese Raeta. Bisher war ihm gar nicht aufgegangen, wie stark sie war.
Der letzte Mann betrachtete seine toten Freunde, jaulte auf, ließ sein Schwert fallen, ging auf die Knie und stieß keuchend ein »Bitte« hervor.
Den Göttern sei Dank. Tobias hielt sein Schwert über ihn. »Ergibst du dich?«
»Ja. Bei den Göttern. Ja.«
»Gehörst du zu Marith?«, fragte Landra leise. Man kann ja noch hoffen, dachte Tobias. Andernfalls wäre das alles ziemlich sinnlos gewesen. Es war eindeutig zu spät, um sich zu entschuldigen und ihn seines Weges ziehen zu lassen.
Der Gefangene erstarrte. »Ich diene dem König.« Die Art, wie er das Wort »König« aussprach, als wäre es süß, als bestünde es aus Honig. Tobias war kurz davor, sich zu übergeben.
»Was macht ihr hier?«, verlangte Raeta zu erfahren.
Schweigen.
Tobias hob sein Schwert etwas höher. »Was macht ihr hier?«
»Eine der Führerinnen ist desertiert und über die Berge geflohen. Wir sollten sie verfolgen.« Hilflos blickte der Mann Tobias an. »Werdet Ihr mich töten? Aber ich bin so oder so ein toter Mann.«
»Bei den Göttern, Mann, sei nicht so melodramatisch. Außerdem wollte sie wissen, was er hier macht. Der König.«
Der arme Kerl starrte sie drei nacheinander an. Dann Tobias’ Schwert. Danach seinen Gefährten, dem der Kopf fehlte. »Das weiß ich nicht. Wir lagern hier nun schon seit Tagen. Aber ich habe keine Ahnung, was er hier tut. Das schwöre ich. Keiner weiß es.«
»Wie heißt du?«, wollte Landra wissen.
»Graventh«, antwortete der Kerl. »Grav. Von der Insel Sel. Stammt Ihr von den Weißen Inseln?«
»Von Terz.« Landra wandte sich ab. Es hatte beinahe den Anschein, als würde sie weinen. Sie schluchzte. »Terz.«
»Er wird Euch töten«, sagte Grav.
»Ja, ja. Was habe ich über das Melodramatische gesagt? Aber bevor er uns tötet, wirst du uns zu ihm bringen.«
Plötzlich schrie Landra auf. »Ich wurde an der Klinge ausgebildet! Ich habe einen Mann getötet, als uns die Banditen vor Skerneheh angriffen. Ich stach ihm in die Hand, schlug ihn, ritt ihn mit dem Pferd nieder. Eben habe ich es nicht einmal geschafft, mein Schwert richtig zu halten.«
»Das ist auch gut so, Landra«, meinte Raeta. »Er ist am Leben und kann uns zu Marith führen. Du hast gut daran getan, ihn nicht zu töten. Tobias und ich … Wir haben versagt, denn die anderen beiden sind tot.«
Raeta sah Tobias an. Schüttelte den Kopf. Versagt. Ja. Damit hatte sie eindeutig recht. Er nickte ihr zu. »Raeta hat recht, Landra. Wir mussten einen lebend zu fassen bekommen. Gut gemacht.« Sag das ja nicht meinen verdammten Rippen und meinem Bein.
Der Gefangene führte sie am Ufer des Elenanen entlang. Der Name musste etwas wie »Trauer« bedeuten, war Tobias aufgegangen. Oder »Freude«. Eine Sturzflut aus Schmelzwasser floss an ihnen vorbei, kalt, reißend, tosend. Ein treffender Name, oh ja, wie er so vorbeirauschte. Milane und Krähen kreisten über ihren Köpfen. Beobachteten sie. Sie waren wie eine Wolke um die Toten zu Boden gesunken. Raeta sah erschöpft aus. Verängstigt. Landra war kreidebleich und murmelte noch immer etwas über ihr Messer. Nach einer Weile verließen sie die Straße und stiegen einen schmalen Weg hinauf, der an eine Tierfährte erinnerte. Die Bäume wichen Scheuergras, Dornen und nacktem grauem Stein. Harter, bitterer Boden. Jeder Schritt schmerzte im ganzen Körper und bis auf die Knochen.
Die Götter sollten diesen verdammten, von den Göttern verlassenen, vermaledeiten Ort verfluchen. Ich bin ein Söldner, kein verdammter Bergsteiger. Der Boden unter Tobias’ Füßen fiel auf einmal ab, und er verdrehte sich den Fuß. Er stürzte, kam hart auf zackigem Stein auf, scheuerte sich die Hände an Dornen wund. »Bei den Göttern! Dieser von den Göttern verdammte Ort! Was bei all den Göttern macht er hier oben, verdammt noch mal? Er soll in das verdammte Illyr einmarschieren, verdammt noch mal, und nicht auf einem verdammten Berg sein Lager aufschlagen.«
»Macht er einen Wanderurlaub mit der Gattin? Hat er sich der Landschaftsmalerei zugewandt? Hörte er von einem besonders guten Hathaschuppen in dieser Gegend?« Raetas Stimme klang harsch und mitgenommen. Sie schien große Angst zu haben. »Denkt nach, Tobias. Denkt nach.«
»Er sucht etwas«, warf Landra leise ein.
»Aber was? Besonders fiese Steine?«
Gravs Grinsen sprach Bände. »Ich habe gelogen. Ich weiß, warum er hier ist. Ihr seid wirklich schlau, Landra. Er sucht etwas. Aber es sind nicht die Steine.«
Eine karge Landschaft. Die Leeren Gipfel. Die Grenze zwischen der Welt der Städte und der Ödnis, in der nichts überlebt. Warum überlebt dort nichts? Was denkt ihr?
Raeta stöhnte auf. Landra weinte. Ob aus Furcht, Mitleid oder vor Lachen. Tobias machte sich in die Hose.
Von den Bergen drang das Geräusch von Flügelschlägen zu ihnen herüber.