47

Nacht, kurz vor Anbruch der Dämmerung. Thalia schlief, atmete sanft, ihr Haar war ihr ins Gesicht gefallen, sie hatte eine Hand neben dem Mund liegen. In der Dunkelheit war sie kaum zu erkennen, nur das schwache Leuchten der Kohlenpfanne zeichnete sich auf ihrer Haut ab. Marith saß schon seit einer Weile da und beobachtete sie. Atmete im Einklang mit ihr. Wenn er sie ansah, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Leuchtende Bronze, wie sich öffnende Blüten, wie Wasser und Licht. Als er ihr Gesicht zum ersten Mal in diesem Glänzen gesehen hatte … Perfekte Schönheit. Hoffnung.

Deplatziert. Wie alles andere. Die erbärmliche Illusion, dass das Leben etwas wert wäre. Leben ist Tod, Marith. Liebe ist Tod. Es gibt keine Hoffnung. Er hatte ihr nichts von Tyrenae erzählt. Möglicherweise würde sie es verstehen. Aber es würde wie Eis brennen, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie es wusste. Irgendwann musste sie es erfahren.

Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, dachte er. Osen hatte ihn gefragt, ob er sich wirklich sicher war. Er hatte lange gezögert und dann Ja gesagt. Und jetzt waren da noch größere Schuldgefühle. Das hätte ich nicht von ihm verlangen dürfen, dachte er.

Verrate mich, dachte er und sah Thalia an. Zerstöre mich. Bitte. Wenn du liebst. Carin hat mich genug geliebt, um mir zu helfen. Du … tust es nicht, glaube ich. Die Auserwählte des Gottes der Lebenden und der Sterbenden, strahlend vor Licht. Du verstehst es nicht. Das kannst du auch gar nicht.

Osen begreift es, dachte er dann. Doch es widerte ihn an, das auch nur zu denken. Osen hatte es schon immer verstanden.

Er stand auf und legte die dicke Felldecke behutsam über sie. Fürsorglich. Er kümmerte sich um sie. Trotz allem. Sie regte sich, runzelte die Stirn und seufzte. Wachte nicht auf. Er kleidete sich rasch an, suchte sich die Kleidung in der Dunkelheit zusammen. Sein Schwert blieb klappernd an einem Bein der Kohlenpfanne hängen: Er erstarrte schuldbewusst und wartete darauf, dass sie aufwachte. Sie drehte sich und seufzte abermals, blinzelte, ohne etwas zu sehen, und schlief wieder ein. Marith zählte innerlich bis zweihundert. Als sie wieder tief und fest eingeschlafen war, band er sich den Schwertgürtel um und griff nach seinem blutbefleckten, nach Blut stinkenden Umhang. Sobald er den Stoff bewegte, verbreitete sich der Gestank nach Verwesung im Zelt. Blutige Flocken wurden von der leichten Brise im Zelt verteilt. Er zog eine Spur aus Blut hinter sich her, wo immer er auch wandelte, wie ein Mann, der durch Schlamm geschritten war. Wie eine Schneckenspur. Manchmal musste Thalia es sich sogar aus dem Haar zupfen.

Er schob den Vorhang beiseite, der den Schlafbereich vom Hauptteil des Zelts trennte, und schritt hindurch. Dort brannte eine Kerze auf einem niedrigen Tisch neben fein gearbeiteten Silberkrügen und -bechern. Er zündete eine zweite Kerze an, schenkte sich etwas zu trinken ein, spritzte sich Wasser ins Gesicht. Der Wein war so kalt wie das Wasser. Er leerte den Becher, füllte ihn erneut, trank wieder alles aus. Die kalte, stechende Süße bohrte sich schmerzhaft in seinen Kopf. Er holte tief Luft. Trat nach draußen.

Es war vollkommen dunkel, weder Mond noch Sterne am Himmel. Die Wolkendecke hatte sich über Nacht zugezogen. Die Fackeln waren samt und sonders heruntergebrannt, das Lagerfeuer war längst erloschen. Im Lager herrschte absolute Stille. Tal saß zusammengesunken im Zelteingang, das Schwert im Schlaf über den Knien. Er sollte den Mann zerstückeln lassen, weil er während der Wache eingeschlafen war. Ihn zerfetzen, verstümmeln, seine Augen und seine Zunge an die Hunde verfüttern.

Er ging vorsichtig über die gekrümmten Leiber der Wachen hinweg, die eigentlich Ausschau halten sollten. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen, aber er bewegte sich, als könnte er alles erkennen. Er hatte die Augen weit geöffnet. Starrte in die Dunkelheit. Er ging weiter den Berghang hinauf, und seine Schritte knirschten auf dem Stein. Die Luft roch sogar nach Stein. Am Himmel im Osten zeichnete sich das erste schwache Weiß des Morgens ab. Er konnte sehen, ohne zu sehen, die vom Tau feuchten Zelte, die schlafenden Männer, die erloschenen Feuer, Thalia, die mit den Händen im Gesicht schlummerte. Die Berghänge waren tot und still. Alles lag ruhig da. Wartend. Ängstlich.

Eine Erinnerung stieg in ihm auf: Er ging in der Morgendämmerung an einem Flussufer entlang, betrachtete den emporsteigenden Nebel, die blasse, seltsame Welt um sich herum, während vor seinen Augen ebenfalls alles blass und seltsam war. Der sumpfige Geruch des Wassers. Stille und dann der harsche, traurige Schrei eines Vogels. Die schreckliche, furchterregende Gewissheit bevorstehender Freude und Schrecken, von etwas, das die Dämmerung bringen würde. Eine unheilvolle Trauer, als hätte er etwas verloren. Schmerz.

Ich sollte sie töten, dachte er. Sie vernichten. So, wie ich Carin getötet habe.

Er blieb stehen. Das war weit genug. Das Lager war nicht mehr zu sehen. Die Sonne ging auf. Es war Zeit.

So.

Marith setzte sich auf einen Stein, trank einen Schluck aus der Weinflasche, die er am Gürtel mit sich führte, rieb sich die Augen. Seine Hände zitterten. So dumm. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, dachte er. Ich muss keine Angst haben. Nicht jetzt. Er trank noch etwas Wein. Betrachtete den zerklüfteten Felsen vor sich. Stand auf und hob die Arme.

»Athelarakt! Mememonsti tei essenek! Ansikanderakesis teme tei kekilienet! Athela!«

Komm raus! Zeige dich! Dein König ruft dich! Komm her!

Seine Stimme hallte von den Felsen wider. Nichts rührte sich. Rosafarbene Dämmerung. Dicke schwarze Wolken an den Gipfeln. Ein totes Land.

»Athelarakt! Ansikanderakesis teme tei kekilienet! Ansikanderakesis teme! Athela!«

Nichts.

»Athela!«

Eine Krähe schrie zu seiner Linken. Marith hätte beinahe laut gelacht: War das alles, was er hier finden würde, das Echo seiner Stimme und eine Krähe?

Die Krähe stieß abermals einen Schrei aus. Steine klackerten hinter ihm. Oh, bei den Göttern … Er wirbelte herum.

»Marith.« Thalia war da, in ihre Felle gewickelt, ithische Diamanten an der Kehle. »Marith.«

»Was machst du hier?«, fragte er verwirrt. »Es ist nicht … sicher.«

»Nicht sicher?« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich habe mich entschieden, herzukommen, daher wird mir auch nichts geschehen.«

»Ich dachte, du schläfst.«

»Ich habe geschlafen. Du hast mich geweckt. Hast mit deinem Schwert herumgeklappert, als du leise sein wolltest.« Ihr Lächeln verblasste. »Du solltest nicht schon morgens trinken.«

»Heute Morgen habe ich es gebraucht.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, seufzte dann aber nur. Lachte auf. Verbittertes Lachen. Traurig. »Dann möchte ich auch etwas trinken.«

»Du brauchst es nicht.« Tropfen roten Weins auf ihren Lippen. Er zuckte zusammen, als er sie trinken sah. Sie reichte ihm die Weinflasche zurück.

»Komm mit«, sagte Thalia. Marith schüttelte sich, folgte ihr weiter den Berg hinauf, um den sich der Pfad wand. Sie mussten über Felsen klettern, die sich in ihre Hände schnitten. Thalias Umhang verhakte sich, Marith musste ihn lösen, wobei das Futter einriss; ihr Haar löste sich und wehte im Wind. Sie keuchte ein wenig. Schien es zu genießen. Er war in Malth Elelane mit ihr klettern gegangen, an den Klippen der Landzunge, die tief in Gezeitentümpel, Höhlen und das Meer hinabreichten. Sie hatte beim Klettern gelacht.

Sie gelangten zu einer schmalen Felsspalte, einem engen Durchgang, der einer offenen Tür glich. Der Pfad führte hindurch, Wasser lief über den Boden und ließ ihn glänzen. Der Spalt war so eng, dass sie sich seitlich hindurchzwängen mussten. Dahinter lag eine breite Schlucht, geschützt und grün, die Seiten nichts als hoch aufgetürmte Steinmassen. Ein friedlicher Ort. Windgeschützt. Die Wolke, die über die Berge kam, ließ alles neblig wirken, als würde man die Dinge im Hathadunst sehen. Wieder rieb sich Marith die Augen.

»Hier«, sagte Thalia und nahm seine Hand. »Ynthelaranemyn mae.«

Beinahe hätte er ihr die Hand entzogen. Dann umklammerte er ihre Finger noch fester. Sie war so warm. »Ynthelaranen, Geliebte. Er wird kommen. Einzahl. Hoffe ich.«

Sie standen zusammen da und blickten auf die Felsen, das Gras und die näher kommende Wolke. Nach und nach verschwand die Welt in grauem Nebel, der ihnen die Sicht verschleierte. Grauer Nebel und grauer Stein. Der Berghang löste sich auf. Das Morgenlicht wurde schwächer. Stille, anders als die Stille vor der Wolke, schwerer, wartend. Fast wie die Erinnerung, der Flussnebel, die Dämmerung, die Gewissheit, dass etwas in der Nähe war.

Nein, dachte Marith. Das war eine Erinnerung an diesen Ort.

Ah, bei den Göttern. Flieh. Lauf weg. Bringt sie fort. Sie betrügt mich? Dann sollte ich sie anflehen, mich hier und jetzt zu töten, bevor es zu spät ist. Sie betrügt mich? Dann ist sie ebenso weise wie wunderschön, und die ganze Welt sollte ihr danken.

Die Wolke regte sich. Geräusche zwischen den Felsen: ein Schaben, sich bewegende Steine, Stein, der über Stein rutscht. Steine, die unter einer schweren Last zerdrückt werden. Ein schweres Atmen, das wie das eines Mannes klingt, der vor Schmerzen stirbt.

Athelenaranen.

Er kommt.

Der Geruch nach Rauch. Heißem Metall. Verkohltem Fleisch. Farbe, die durch die Wolke auf sie zukam. Das Lodern von etwas Brennendem. Etwas, das zu riesig ist, als dass man es richtig erkennen kann.

Marith schnappte nach Luft. Seine Augen juckten. Feuer. Rauch. Brennen. Verbrühtes Metall. Angst. Freude. Er kratzte sich an den Augen. Thalia zitterte, ihre Hand war mit kaltem Schweiß bedeckt; sie bohrte die Fingernägel in seine Handfläche. Marith drückte fest ihre Hand. Es ist alles in Ordnung. Es ist alles gut, Geliebte. Ich habe das schon einmal getan, erinnerst du dich? Das ging … nicht ganz so schlecht aus, wie es hätte enden können.

Er kam näher. Eine gewaltige Gestalt, riesig wie Gebäude, die das schwache Sonnenlicht verdeckte. Ihr eigenes Licht, rot wie Kohlefeuer, flackerte aus den Augen, dem Mund, den Schuppen. Das Schaben von Steinen, die darunter zerbrachen. Zischender Dampf und keuchender, stinkender Atem.

Der Drachen beugte sich aus dem Nebel. Ließ sich vor Marith nieder. Senkte den Kopf.

Wie ein Pferd, das darauf wartete, dass der Reiter aufsaß. Wie ein geprügelter Hund, der um einen Knochen bettelte.

Wie eine Geliebte, die sich voller Verlangen vor ihn kniete und sich ihm auslieferte.