49

Er beobachtete den Drachen, der im Licht der Morgensonne hoch am Himmel kreiste, mit den gewaltigen Flügeln schlug, Feuer spie, ein Lied kreischte. Endlich, lange nachdem er am Horizont verschwunden war, schlichen sie weiter. Tobias sah ihn und spürte jeden Augenblick, wie er ihn beobachtete. Sie liefen gekrümmt, krochen durch wild wachsendes Gestrüpp, waren furchtbar verletzlich. Der Klang der Flügelschläge, das Drachenlied in der Luft. Erhitzte Gesichter, als wären sie längst von Drachenfeuer verbrannt.

»Da«, sagte Grav nach langer Zeit. »Da. Hinter diesem Felskamm. Sein Lager.«

Tobias schloss die Augen.

»Ich werde es auskundschaften«, erklärte Raeta.

Tobias atmete erleichtert auf.

In der Nähe lag ein Steinhaufen, der Überrest eines früheren Felssturzes. Vielleicht hatte der Drache die Erde aber auch mit seinen Klauen aufgerissen. Dahinter entdeckten sie eine Art Höhle. Landra fand verblichene Zeichen an den Wänden, eingeritzte Buchstaben auf Itheralik. »Amraths Soldaten«, sagte Raeta. »Könnte doch sein. Als er nach Ith vorgedrungen ist. Oder Deserteure aus seiner Armee, die zurück nach Illyr flohen.« Sie nahm ihren Rucksack ab, zog den Umhang aus, ließ alles bis auf ihr Messer bei ihnen in der Höhle. »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, dann …« Sie grinste sie an. »Ihr müsst ihn so oder so töten.«

Sie kehrte nach weniger als einer Stunde zurück. Ja. Da war sein Lager. »Vier Zelte«, berichtete sie. »Vielleicht zwanzig Personen. Größtenteils bewaffnete Soldaten. Es schien nicht viel zu passieren. Ihn habe ich nicht gesehen.«

»Kein Drache?« Er hatte sich ausgemalt, der Drache habe sich einem Wachhund gleich vor Mariths Zelt zusammengerollt.

Sie schnaubte. »Nein.«

»Er wird Euch töten«, sagte Grav.

»Ich sagte doch, du sollst aufhören, so verdammt melodramatisch zu sein.«

Tobias sah Grav eine Weile an. Er saß auf der anderen Seite der Höhle und starrte zu ihm herüber. Tobias trat nah an ihn heran. Er hat uns zu Mariths Zelt geführt. Seine Aufgabe ist erledigt.

Er bohrte sein Schwert in Gravs Brust.

Grav schnappte wie ein Fisch nach Luft und war tot.

Landra schrie auf. Raeta schrie auf. Leise. Wir sind hier auf einer Attentätermission, meine Damen, dachte Tobias. Ihm war übel.

»Dank Euch waren ihm ein paar zusätzliche Stunden vergönnt«, sagte er an Landra gewandt. Er hörte das Zittern in seiner Stimme.

Sie blickte auf ihre Hände hinab. »Ja.«

Keine der beiden half ihm, Gravs Leiche zum Höhleneingang zu schleifen. Er wischte sich die Hände am Busch davor sauber.

Landra kam etwas später zu ihm und gab ihm ein Stück Stoff, das sie von ihrem Rock abgerissen hatte, damit er sich säubern konnte.

»Ich musste es tun«, sagte Tobias. Sie erwiderte nichts und knetete nur ihr widerliches Stück gelben Stoff.

»Dann wird es heute Nacht geschehen«, erklärte Raeta. Ihre Stimme klang merkwürdig. Schwer. Seltsam rau. Als würde man Holz durchsägen. Ihre Augen blitzten. »Heute Nacht.«

Da wären wir wieder. Noch einen Tag zu leben.

Der Tag schien ewig anzudauern und doch viel zu schnell zu verstreichen. Sie saßen in der Höhle, starrten die Wände an und versuchten, ob des Gestanks von Gravs Blut nicht zu würgen. Ich hätte ihn wirklich nicht erstechen sollen, dachte Tobias. Es tut mir leid, Mann. Es war nicht persönlich gemeint. Wirklich nicht. Du hättest mit mir das Gleiche gemacht. Und dabei vermutlich mehr Freude empfunden.

Die Sonne ging unter. Durch den Höhleneingang sah sie aus wie flüssiges Gold.

»Hübsch«, stellte Raeta fest. »Nicht groß anders als gestern. Etwas mehr Wolken.«

Tobias starrte den Himmel an und wartete darauf, dass das Licht verblasste. Verdammte Scheiße. Verdammte Scheiße.

»Na, dann kommt«, forderte Raeta sie auf. Sie zog ihr Messer, und Landra tat es ihr nach.

»Lasst die Schwerter und die Rüstungen hier«, sagte Tobias. Die beiden Frauen nickten. Zu schwer. Zu laut. Beim Kämpfen brauchten sie die Rüstungen nicht. Landras Gesicht war gerötet und begierig. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, nur aus der Höhle zu kommen.

Früher einmal habe ich damit meinen Lebensunterhalt verdient.

Verdammte Scheiße.

»Hier entlang«, sagte Raeta. Sie schlichen auf das Lager zu. Krochen das letzte Stück auf den Bäuchen wie Würmer. Wie Maden, dachte Tobias. Lagen in der Dunkelheit auf dem Bauch und beobachteten die herumhuschenden Soldaten und Diener, lauschten den leisen Stimmen, während im Lager das Abendessen zubereitet wurde. Marith und Thalia verließen kurz das Zelt, sprachen mit jemandem, gingen wieder hinein. Tobias verspannte sich, und sein Herz schien in seiner Brust zu zerspringen. Ein Diener betrat wenig später mit einer Flasche in der Hand das Zelt. Nach und nach bereiteten sich alle im Lager auf die Nachtruhe vor. Wolken schoben sich vor den Mond. Tobias hatte im ganzen Körper Schmerzen, und sein Bein tat höllisch weh.

Stille senkte sich über das Lager. Die meisten Fackeln wurden gelöscht.

Nur noch wenige Herzschläge zu leben. Landras Augen schimmerten in der Finsternis.

»Jetzt«, flüsterte Raeta.

Angst kroch über Tobias’ Rücken, sein Magen zog sich zusammen, seine Eingeweide schienen sich in Brei zu verwandeln. Sie schlichen durch das Lager, gebückt wie Tiere, erstachen zwei Wachen, die am Rand postiert waren, zwei weitere, die vor Mariths Zelt dösten. Schlüpften hinein. Ein Diener schlief in der Hauptkammer. Raeta schlitzte dem armen Kerl im Schlaf die Kehle auf. Schwaches Lampenlicht fiel auf Geschirr aus gut gearbeitetem Metall, einen Rüstungsständer, einen Tisch, auf dem sich Papiere und Karten türmten. Herumliegende Weinflaschen und der Geruch nach Alkohol. Die Luft schneidend wie Messerklingen. Schatten zuckten wie Vögel in den Ecken. Raeta stieß die Luft zischend zwischen den Zähnen aus. Es klang irgendwie nicht wie das Geräusch, das ein Mensch machte.

Geh zurück! Kehr um!, schien jeder Teil von Tobias’ Körper zu schreien. Das war viel zu leicht. Wir werden hier alle sterben. Er streckte eine Hand aus, um Landra zurückzuziehen. Nur weglaufen, dieser Ort liegt im Sterben, dieser Ort ist der Tod.

Raeta lächelte, ihr Messer glitzerte im Lampenlicht, sie zog den Vorhang zum Schlafbereich zurück. Etwas in ihren Händen, in ihrem Körper, das sich wie Blut kräuselte, wenn sie sich bewegte.

Und da ist er, Marith Altrersyr, König Ruin, König der Dunkelheit, er schläft nackt wie ein Baby, und seine Brust glänzt silbrig-weiß. Wie eine verdammte Zielscheibe. Weiße Haut, die schreit: »Hier zustechen.« So leicht. Zu leicht. Oh, bei den Göttern. Oh, bei den Göttern und Scheiße. Die wunderschöne Thalia schläft neben ihm, das Haar wie ein Wasserfall, der perfekt geschwungene Arm. Er versucht, ihre perfekt geschwungenen Rundungen auszumachen. Doch das Entsetzen in Tobias bleibt bestehen: Geh zurück! Kehr um!

Raeta lächelte, und ihr Lächeln spiegelte sich in ihrer Messerklinge. Ihre Augen und ihre Zähne waren riesig und scharf, und sie war irgendwie kein Mensch mehr.

Landra hob ihr Messer.

Noch einen Herzschlag zu leben.