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So marschierten sie im blassen Licht der Nachmittagssonne aus Toreth hinaus; eine lange, schmale Kolonne aus gerüsteten Männern mit ihrem König und ihrer Königin an der Spitze. Marith hielt eine Rede, lobte den Mut der Soldaten und bezeichnete sie als die Ersten, die Wahrhaftigsten seines Heeres, als die Armee Amraths, die die Welt blenden würde. Die Soldaten hämmerten mit den Schwertern gegen ihre Schilde und jubelten ihm zu. »König Marith! Amrath ist zu uns zurückgekehrt! König Marith! Tod! Tod! Tod!« Die Stadtbevölkerung ließ ihn nur ungern ziehen, diesen leuchtenden neuen jungen König, der vor ihren Mauern gekrönt worden war.

Das Marschieren und Reiten, das Knarzen und Klappern der Rüstungen, die grummelnden Männerstimmen und das Dröhnen der Stiefel waren Thalia inzwischen vertraut. Es war alles, was sie wirklich von dieser Welt der Männer kannte. Sie fand einen gewissen Trost darin, wie sie da ins Licht und in den Wind ritten. Mariths Miene wirkte heiterer, friedlicher, seine Augen glänzten, wenn er den Blick über das unebene Land und den gewaltigen Himmel schweifen ließ. Die Trage mit der Leiche seines Vaters folgte ihnen, und die Pferde, an denen sie befestigt war, schritten unruhig dahin und ruckten mit den Köpfen.

Sie drehte sich zu den Soldaten um. Die Überlebenden der beiden Schlachten gegen König Illyn, die gekämpft hatten, damit Marith König werden konnte. Diese Männer hatten in ihren Augen denselben Stellenwert wie die Priesterinnen in ihrem Tempel. Sie taten, was Marith verlangte, so wie die Priesterinnen dem Gott dienten und die Einwohner der Stadt freiwillig für den Gott durch ihr Messer starben. Leben und Tod waren im Gleichgewicht. Wer sterben musste, starb, wer Leben brauchte, wurde geboren. Sie berührte die Narben an ihrem linken Arm, wo sie sich nach jedem Opfer geschnitten hatte. Die wunde, schorfige Haut war niemals ganz geheilt.

Als sie die Männer musterte, glaubte sie für einen Moment, ein vertrautes Gesicht zu entdecken. Tobias, dachte sie. Tobias ist hier. Ich glaubte auch gestern Abend, ihn gesehen zu haben, nicht wahr? Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie ihn nicht mehr wiederfinden. Marschierende Männer in Rüstungen mit Helmen auf den Köpfen, die ihre Augen halb verbargen. Tobias hält sich gewiss auf der anderen Seite von Irlast auf, sagte sie sich, und verprasst das Geld, das er für den Verrat an uns erhalten hat. Die Männer veränderten die Formation, als die Straße im Tal breiter wurde, und ja, unter ihnen befand sich ein Mann, der Tobias ähnelte, aber eindeutig nicht er war.

»Sieh nur.« Marith deutete nach vorn. »Die Wälder, durch die wir geritten sind.« Leuchtend rote Blätter hingen an den Ästen der Birken, aber der Schnee hatte die anderen Bäume bereits ihres Laubes beraubt.

Thalia lächelte, als sie sich daran erinnerte. Sie waren eine Weile durch den Wald geschlendert. Die Hufe ihrer Pferde hatten auf dem weichen, angenehmen Boden in den Blättern und der Buchenmast ein wundervolles Geräusch erzeugt. Thalia sah einen Hasen, dessen weiße Blume aufblitzte, als er vor den Soldaten weglief, und Eichhörnchen in den Bäumen. Saatkrähen krächzten über ihren Köpfen.

»Ich mag Wälder«, sagte sie zu Marith. »Dieser Ort gefällt mir sehr.«

Wie er es auch bei ihrem Ritt durch den Wald getan hatte, ließ er sein Pferd zu einer in voller Pracht strahlenden Birke traben und brachte einen Armvoll kupferfarbener Blätter mit zurück. Sie legte sie wie einen Blumenstrauß vor sich auf den Sattel. Kurz darauf durchquerten sie einen Fluss, der den Pferden bis an die Knie reichte. Das Wasser war so klar, dass man den glatten, sandigen Grund sehen konnte. Marith deutete auf eine Stelle etwas weiter das Ufer entlang, wo sich seinen Worten zufolge ein Otternest befand. Auf der anderen Flussseite standen gelbe Blumen und Unmengen brauner, mit weißem Flaum bedeckter Samenstände, die an ihrer Kleidung und dem Fell ihres Pferdes haften blieben.

»Dies ist ein guter Ort zum Angeln«, erklärte Marith.

Dann stieg das Land an, es gab keine Bäume mehr, und sie ritten über das Moor und durch den Wind. Thalias Haar flatterte hinter ihr her. Mariths abscheulicher, mit Blut bedeckter Umhang wehte wie eine Flagge durch die Luft. In den letzten Strahlen der Abendsonne leuchteten die Hügel golden im Licht und purpurn von den Heidekräutern, und zahlreiche Vögel sausten am Himmel herum. Das ist ebenfalls ein wunderschöner Ort, stellte Thalia fest. Sie folgten eine Zeit lang dem Ufer eines breiteren Stroms. An einer Stelle erzeugte das Wasser Geräusche, die an Musik erinnerten, als es über Steine floss.

Ich dachte, ich könnte hier mit ihm leben, ging es Thalia durch den Kopf. Jetzt weiß ich es nicht mehr … Warum habe ich ihn am Leben gelassen? Nicht nur wegen seiner Schönheit. Weil dieser Ort so wunderschön ist?

Sie verbrachten die Nacht in einer Unterkunft, die in einem Tal zwischen zwei steilen, kargen Berghängen errichtet worden war. Die Männer stellten die wenigen Zelte auf, die sie dabeihatten, oder schliefen in ihre Mäntel gewickelt halbwegs vor der Kälte geschützt am Feuer. Auch das kannte Thalia bereits. Der steinerne Gott am Eingang ließ sie erschaudern; sie bemerkte, wie einige der Männer mit dem Kopf darauf deuteten und kleine Opfergaben wie Kieselsteine, eine Münze oder eine Haarlocke darauf legten. Aber die Wesen, die auf der Straße der Toten wandelten, waren lautlos und furchtsam.

Eine Krone, dachte sie. Dafür? Nur dafür?

Ein Soldat kam angerannt, mit begeisterter Miene und einem toten, noch warmen Hasen als Geschenk. Sie hatten Verpflegung aus Toreth mitgenommen, Brot, Wein und Fleisch, aber Marith schenkte dem Mann ein Lächeln, bedankte sich und ordnete an, das Tier zuzubereiten. Das Fell kannst du behalten, erklärte er fröhlich. Mach dir ein Paar schöne Handschuhe daraus. Du wirst sie beim bevorstehenden Feldzug brauchen. Man friert leicht, wenn man des Nachts das Zelt des Königs bewachen muss. Das Zelt des Königs bewachen?, wiederholte der Mann atemlos und strahlte. Oh, ich finde, das hast du dir verdient, oder nicht? Der Mann betrachtete Marith voller Liebe. Wie heißt du? Tal? Ein guter Name. Fängst du gleich heute Abend an?

Nach und nach verfallen sie ihm alle, erkannte Thalia. Mariths Gesicht schien zu leuchten, wenn er mit ihnen sprach, und er genoss es, wie sie sich vor ihm verbeugten, ihn verzückt anblickten, ihren Geliebten; schon jetzt schien er für sie unantastbar zu sein, König Marith, Großer Amrath, Ansikanderakesis Amrakane. Sie erinnerte sich daran, wie man ihm in Malth Salene als König gehuldigt, geklatscht und seinen Namen skandiert hatte. Die Einwohner von Toreth hatten ihn mit Blumen beworfen und seinen Einzug durch die Tore bejubelt, obwohl von seinem Schwert noch das Blut seines Vaters getropft war. Noch vor wenigen Monaten hatten ihn alle für tot gehalten, aber jetzt folgten sie ihm, als würden sie es schon seit Jahren tun. Als wäre das alles ganz natürlich.

Man richtete ihnen ein Bett aus Decken auf den harten Steinbänken im Haus her. Draußen waren die Soldaten zugange, unterhielten sich, sangen, kochten. Tal servierte ihnen stolz den Hasen, den er auf seiner Klinge gebraten hatte. Marith und Osen Fiolt zupften das Fleisch von den Knochen und leckten sich lachend die fettigen Finger.

»Besser, als auf dem Boden zu schlafen«, erklärte Marith fröhlich. »Und es ist nur für eine Nacht.« Er wäre weitergeritten, vermutete sie, hätte seinen Trupp durch die Dunkelheit geführt, doch ihm war ihre Müdigkeit nicht entgangen. »Sobald wir in Malth Calien sind, wird sich einiges verändern.«

Falls du die Festung nicht ebenfalls niederbrennst, schoss es Thalia durch den Kopf. Der Schatten des Gottessteins ragte im Feuerschein auf, als würde er brennen. Das Feuer loderte heller, und die Flammen flackerten über das dünne Silberband von Mariths Krone. Osen und Marith reichten lachend einen Weinschlauch hin und her. Sie schürten das Feuer, sodass die Funken aufstoben. Draußen konnte Thalia die Männer reden, die Pferde aufstampfen, das Klappern von Metall hören. Aus weiter Ferne hallte der Schrei eines Tieres zu ihnen herüber: Sie zuckte furchtsam zusammen und hörte die Männer lachen. Diese Dunkelheit wirkte lebendig und voller Leben. Am Fuß des Gottessteins glitzerte frisches Blut auf einem Häufchen aus Eingeweiden. Rasch wandte sie den Blick ab und sah durch die Tür nach draußen. So viele Sterne.

»Machen wir noch einen Weinschlauch auf?«, fragte Marith hinter ihr Osen.

»Das Zeug schmeckt wie Ziegenpisse«, erwiderte Osen. »Und Ihr braucht Schlaf, mein König. Hebt Euch das für morgen Abend auf.«

»Ach, wie langweilig. Aber so sei es.« Marith goss die letzten Tropfen ins Feuer, woraufhin beißender schwarzer Rauch emporstieg.

»He!«, brüllte Osen lachend. »Was …«

»Ich wusste nicht, dass noch so viel drin ist«, rechtfertigte sich Marith. Seine Augen tränten. Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum, damit es wieder heller brannte. »Entschuldigung«, sagte er zu allen und niemandem. Tal trat herbei, um sich ums Feuer zu kümmern.

Gestern hat er noch Krieg geführt und seinen Vater getötet, dachte Thalia.

 

Am nächsten Tag wurde das Land wilder, graue Felsen ragten aus der Erde, derbes Gras, ein rauer Wind. Der Berg Calen Mon war im Süden zu sehen. Sein Gipfel leuchtete golden in der blassen Morgensonne. Sie marschierten schnell, begegneten niemandem und folgten der alten geraden Straße der Toten über das Moor. Keine Menschen. Wo sind die Menschen?, fragte sich Thalia. Dieses Land war leerer als die Wüste. Ein leeres Land und ein leerer König. Hinter ihnen wurde die Trage mit der Leiche des alten Königs, Mariths Vater, auf einem Karren transportiert, und man hatte das Fass mit der Leiche mit einem roten Tuch abgedeckt. Ein totes Land und ein toter König. Sie konnte es sehen, obwohl sie seiner nicht ansichtig geworden war, das verwesende, von den Krähen zerhackte Gesicht im Fass, gerade noch zu erkennen im dickflüssigen schwarzgelben Honig, in dem die Leiche mit offenen Augen schwamm.

Habe ich ihn aus Mitleid am Leben gelassen?, fragte sie sich.

Gegen Mittag fing es an zu regnen; der feine graue Nieselregen benetzte Mariths Haar und den Dreck auf seinem Umhang. Regenwasser glitzerte auf den Rüstungen der Männer, ließ vor Thalias Augen alles verschwimmen und war widerwärtig und kalt. Der Berggipfel verschwand hinter den Wolken. Sie zogen weiter, und der Regen ließ nach; sie konnte in der Ferne sehen, wie er auf die Hügel herabfiel, als hätte sich dort ein großer dunkler Fleck ausgebreitet.

Gegen Abend erklommen sie einen Gebirgskamm. Unter ihnen funkelten Lichter in der Dämmerung, und Osen deutete mit einem Triumphschrei darauf. Die Straße fiel steil ab; vor ihnen lag im Schatten eines Hügels eine Stadt rund um einen von Matsch umgebenen Meeresarm. Das Wasser schimmerte silbrig und dunkel, und in der Ferne erhob sich eine Landmasse, bei der es sich um eine weitere Insel im Süden handeln musste. Auf einem trockenen Erdhügel in den Sümpfen ragten die hohen Mauern einer Feste empor.

»Malth Calien!«, rief Osen. »Der Turm des Adlers! Malth Calien! Ich lege es Euch zu Füßen, mein König!«

Eine weitere Stunde marschierten sie, dann hatten sie das Sumpfgebiet erreicht und mussten sich mit Bedacht auf dem schmalen Damm bewegen, der zum Turm führte. Der Weg bestand aus rutschigem Holz und war so schmal, dass nur zwei Mann nebeneinander Platz hatten. Auf beiden Seiten wuchs das Schilf schulterhoch und raschelte im Wind. Ein intensiver, feuchter Salzgeruch hing in der Luft. Abgesehen vom Flüstern des Schilfs, an dem man sich die Haut aufschnitt, wenn man es berührte, gab es nichts außer einem schweren, drückenden Schweigen. Mit einem Mal brach der Schrei von Gänsen die Stille, die wie ein weißer Schatten über sie hinwegflogen und einem Pfeil gleich in Richtung Meer strebten.

Der Damm führte über einen Bach, in dem es von Stelzvögeln wimmelte. Auch einige Männer bahnten sich mit Laternen in den Händen einen Weg an den Ufern entlang und stocherten mit langen Stäben im Schlamm.

»Wattwurmsammler«, erklärte Marith, der bemerkt hatte, wie Thalia die vor schwarzem Dreck starrenden, durchnässten Säcke auf den gebeugten Rücken der Männer neugierig betrachtete. »Messermuscheln. Meerfenchel. Köstlich.« Wattwürmer? Thalia drehte sich der Magen um.

Wieder folgte Röhricht, bis der Weg breiter wurde und anstieg. Sie erreichten trockenes Land auf einem runden Hügel, der sich aus dem Matsch erhob und weitaus größer war, als er aus der Ferne gewirkt hatte. Darauf thronte ein steinerner Turm, eine von spitzen Dornen gekrönte dunkle Palisade. Auf der anderen Seite ging der Hügel in flaches Sumpfland über, das ans Meer grenzte.

Sie ritten durch das Holztor. Eine Handvoll Männer jubelte ihnen zu und schlug mit den Schwertern gegen die Schilde. Vor den Toren des Hauptturms hielten sie an, wo sie von einer in Grün gekleideten Frau erwartet wurden, die einen mit Edelsteinen verzierten Becher in den blassen Händen hielt. Sie sank auf die Knie, als Marith vom Pferd stieg.

»Mein König. Seid willkommen.« Die Stimme der Frau klang zart und lieblich und erinnerte an das Zwitschern von Vögeln. Sie reichte Marith den Becher, der einen tiefen Schluck nahm und ihn dann Osen gab, damit dieser ebenfalls daraus trinken konnte. Ein Diener eilte herbei und half Thalia beim Absteigen. Nach dem Schlamm und der Leere der Sümpfe war der Kontrast überwältigend: die Frau, jung und rosig, ihr mit Silberfäden durchwirktes Kleid, Edelsteine an ihrem Hals; die Türen hinter ihr wurden zu einer mit bunten Wandteppichen verzierten Kammer geöffnet; Diener strömten heraus, deren Jacken in der kalten Luft noch die Wärme des Feuers abstrahlten. Osen nahm Thalias Arm und führte sie hinter Marith hinein, zuerst in einen Vorraum und dann ein größeres Gemach mit hohen, geschwungenen Deckenbalken und kleinen, schmalen Fenstern, um den wilden Sumpf fernzuhalten. Sie stand dankbar am Feuer, während die Männer sich vor Marith knieten und die Hand ihres Königs küssten. Danach ging es über eine Wendeltreppe weit hinauf in ein Schlafgemach mit hoher Decke. Es war schummrig und vom starken Geruch der Bienenwachskerzen durchdrungen, der Thalia erschaudern ließ. Durch die schmalen Fenster konnte sie den dunklen Himmel sehen.

Sie hatte damit gerechnet, dass sie sich nun schlafen legen würden, da sie nach dem langen Ritt völlig erschöpft war und sich ihr der Kopf drehte, aber eine Dienstmagd legte ihr ein blaues Samtkleid und für Marith Hemd, Beinkleider und eine Jacke heraus. Schon wurden sie zurück in die Hauptkammer gescheucht, wo ein Fest im Gange war. Die heiße, rauchige Luft roch nach Fleisch, Alkohol, Schweiß und Salzwasser, und ein riesiges Feuer ließ Schatten über die Wände und die fröhlichen Gesichter tanzen. Die Soldaten des Königs, die Männer aus Malth Calien, Lady Fiolt und ihre Damen, alle erhoben sich, senkten die Köpfe, als Marith eintrat, und jubelten ihm zu. Lady Fiolt drückte ihm lächelnd einen Becher in die Hand; sie trug nun ein scharlachrotes Kleid und rote Edelsteine im Haar und am Hals. Marith leerte den Becher und reichte ihn zurück.

»König Marith«, sagte Lady Fiolt.