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Bezüglich des Tieffieberausbruchs in Sorlost wurden unzählige Erklärungen vorgebracht. Der Gott war erzürnt über den Tumult in der Stadt. Der Gott war erbost über die Vermählung der Hohepriesterin Thalia mit dem Altrersyr-Dämonenkönig der Weißen Inseln. Der Gott war wütend auf die blasphemischen Idioten, die eine derart absurde Lüge glaubten.

Doch soweit es Orhan betraf, war die Erklärung völlig offensichtlich. Cam Tardeins erste Tat als Nithque hatte darin bestanden, jegliche Einschränkungen für Reisende aus Chathe aufzuheben. Die Hathasüchtigen, die Rosenölhändler und die Hohen Lords waren hocherfreut gewesen. Es machte ganz den Anschein, als wäre March Verneths Tod nicht völlig vergebens gewesen.

Von der Straße des Südens und dem Gelbvogelplatz breitete sich die Krankheit wie eine Überschwemmung aus. Ins Goldviertel. Die Blutigen Echos. Tothafen. Sternenlicht an den Toren. Die Straße der Knochen und der Versuchung. Kam schließlich zum Hof der Abendleiden. Zum Hof des Zerbrochenen Messers. Überall hingen Schreie in der Luft. Leichen stapelten sich in den Gassen und vor den Türen. Menschen verloren den Verstand, weil sie es nicht länger ertrugen, ihre Kinder sterben zu sehen. Sie rangen miteinander, um aus den Brunnen zu trinken und ihre fiebrigen Körper abzukühlen. Der Verwesungsgestank drang bis in die abgelegensten Privatgärten. Die Reichen sperrten sich ein und verbrannten Pfefferminze, Lavendel und Sysiusbeeren. Die Armen taumelten mit Lumpen vor dem Mund umher.

Während der ersten Tage wirkte die Stadt bizarrerweise – allerdings auch erwartungsgemäß – völlig unbesorgt. Es hieß, Menschen würden sterben. Aber keine echten Menschen. Das Ganze bedeutete noch lange nicht, dass echte Menschen wirklich einer echten Krankheit erlagen. Man selbst würde gewiss nicht krank werden und sterben. Das waren ohnehin alles Lügen. Ein weiterer Versuch irgendeiner Person, für Aufruhr zu sorgen. Schon bald würde jemand behaupten, der ehemalige Nithque, die tote Hohepriesterin oder der tote Altrersyr-König wären daran schuld.

Dann brach Panik aus. Cam Tardein schickte die Soldaten des Kaisers auf die Straßen, um die betroffenen Häuser zu vernageln. Ein Mann brach inmitten seiner Ausscheidungen auf dem Hof des Brunnens zusammen und verfluchte im Sterben den Großen Tanis und den Kaiser. Eine Frau tötete ihre drei Kinder auf den Stufen des Großen Tempels am Grauplatz und schrie dabei, sie würde ihnen lieber die Kehle durchschneiden, als dabei zuzusehen, wie sie krank wurden.

Menschen strömten in den Tempel. Trugen die Blutflecken der Kinder an ihren Füßen herein. Entzündeten Kerzen, die nach Kräutern und Gewürzen dufteten. Opferten Edelsteine. Sprachen endlose Gebete.

Der Preis für Lavendel, Sysiusbeeren und Pfefferminze schoss in die Höhe. Gute Kerzen kosteten einen Silberdhol das Stück. Die Menschen fingen an, Brot zu horten.

Die Zahl der Sterbenden sank. Der Gott hatte ihre Gebete erhört! Das Sekemleth-Reich würde einer weiteren Gefahr trotzen. Der Herr über die Lebenden und die Sterbenden beschützte sie. Der Asekemlene-Kaiser liebte seine Untertanen. Was war eine einfache Krankheit schon im Vergleich zur Macht und zum Wohlstand des Goldenen Reiches der Ewigen Stadt Sorlost?

Die Tore blieben Reisenden aus Chathe verschlossen. Der Preis für Lavendel, Sysiusbeeren und Pfefferminze sank wieder.

Die Krankheit schlug abermals zu. Heftiger als zuvor. Den Gerüchten zufolge war die Hälfte aller Einwohner von Schönblum tot oder lag im Sterben. Kinder irrten über die Straßen und riefen nach ihren Eltern. Immer mehr Bäckereien und Lebensmittelstände schlossen.

Lord Caltren erkrankte. Ebenso Samneon Magreth. Der Kaiser befahl, alle Türen seines Palastes zu verriegeln.

Jeder wusste, dass die Dörfer im Westen von Chathe das Zentrum des letzten Ausbruchs gewesen waren. Aus diesem Grund wurden alle Chatheaner gesucht, gejagt und ermordet.

Jeder wusste, dass die Dörfer im Westen von Chathe die größten Hathaproduzenten waren. Aus diesem Grund wurden alle Hathafresser gesucht, gejagt und ermordet.

Nach und nach führte das dazu, dass jeder mit einem seltsamen Akzent oder merkwürdiger Kleidung und jeder, der sich in der Öffentlichkeit die Augen rieb, zur Zielscheibe wurde.

Der Preis von Lavendel, Sysiusbeeren und Pfefferminzblättern schoss in unvorstellbare Höhen. Gute Kerzen kosteten fünf Dhol. Selbst den Reichen drohte das Brot auszugehen.

In einem vernagelten Haus in der Straße des Geschlachteten Pferdes brach ein Feuer aus. Alle Häuser in der Straße waren niedergebrannt, bevor der Brand endlich gelöscht werden konnte. Man sagte, die Sterbenden hätten die Eimerketten unterbrochen, um sich in die Flammen zu werfen.

Ameretha Ventuel erkrankte. Samneon Magreth starb.

Lavendel, Sysiusbeeren und Pfefferminzblätter wurden behandelt wie Familienerbstücke, sexuelle Gefallen, Lebensmittel. Gute Kerzen kosteten ein Talent das Stück. Die Menschen prügelten sich auf den Straßen um ein Stück Brot.

 

Bil schloss sich mit dem Baby in ihrem Schlafzimmer ein. Sie befahl den Dienern, Handschuhe und Seidenmasken zu tragen und das Essen auf abgedeckten Tellern vor die Tür zu stellen. Sie aß nur noch Quark, frische Pfefferminzblätter und rohe Gillavogeleier. Verbrannte Tag und Nacht Lavendelöl. Die Kosten würden Orhan in den Ruin treiben, doch er war davon überzeugt, dass ohnehin bald alles vorbei sein würde, wenn die beiden gestorben waren. Durch die Tür konnte er ihr leises Weinen hören. Er weinte ebenfalls, wenn er an das Kind dachte, das mit seinen kümmerlichen Beinen in seinen Windeltüchern wackelte und sterben würde, bevor es überhaupt richtig gelebt hatte. An seinen Geruch. An die seltsamen, nicht menschlich wirkenden Geräusche, die es von sich gab und bei denen sein Herz vor Liebe zu zerspringen drohte. Das schien alles so … ungerecht zu sein.

Was für eine absurde Wortwahl. Genau wie jedes andere Wort in seinem Vokabular. Die Sprache war angesichts dieser endlosen Katastrophen bedeutungslos. »Tot.« »Ungerecht.« »Traurig.« »Verletzt.«

Ach, Orhan, spricht da etwa Verbitterung aus dir? Weißt du denn nicht, dass das schlecht für das Blut ist? Du musst glücklich bleiben und lächeln. Das ist auch deiner Gesundheit förderlich. Verbrenn Lavendelblüten und Sysiusbeeren. Wiederhole den Gesang von Semethest. Binde dir die in Honig getauchte Asche von Pfauenbrustfedern vor die Brust. Lächle. Behalt den Kopf oben. Lebe in der Hoffnung, dass irgendetwas von all diesem Blödsinn tatsächlich wirkt.

Es wäre schön, wenn Darath irgendwie überleben würde, dachte er gelegentlich, wenn sie sich nicht gerade wieder stritten. Und Bil. Seine Schwester. Ihr nichtsnutziger Sohn.

Tam Rhyls Familie würde wahrscheinlich überleben, ging ihm durch den Kopf, da sie sicher in isolierter, hungriger Armut im ländlichen Immish lebten und ihr Haus nicht verlassen durften. Was für eine Ironie. Tams Tod war letzten Endes doch nicht umsonst gewesen. In sehr großzügigen Augenblicken dachte Orhan, dass Tam sich über diesen Ausgang für seine Familie vermutlich gefreut hätte. Durch seinen Tod hatte er seinen Kindern das Leben gerettet.

Möglicherweise.

»Lass uns nach Immish gehen«, schlug Darath eines Abends vor. Sie saßen in Daraths prächtiger Badekammer und versuchten, einander nicht anzuatmen, nicht einmal, wenn sie sich küssten.

»Das würden wir niemals schaffen.« Tagtäglich strömten die Menschen scharenweise durch die Tore und wollten nach Immish. Die Wüstenbewohner oder die Wüste allein töteten sie; und wenn sie es bis an die Grenze von Immish schafften, wurden sie dort auf den Straßen und in den Grenzstädten von bewaffneten Wachen erwartet, die vom Großen Rat ausgeschickt worden waren. Vernünftige Vorsichtsmaßnahmen, wie er sie auch für jeden vorgeschlagen hatte, der aus Chathe nach Sorlost einreisen wollte.

»Wir könnten die Soldaten aus Immish bestechen. Für einen Sack voller Diamanten würden sie vielleicht wegsehen.«

»Das könnte sein …« Der Vorschlag verblüffte ihn. Einfach weglaufen.

»Nur wir beide. Wir kaufen uns irgendwo in Alborn ein Haus. Das könnten wir tun.«

»Könnten wir nicht. Welchen Eindruck würde das hier in der Stadt hinterlassen, wenn wir beide gehen? Was ist mit Bil, Bils Kind, Elis und allen anderen?« Leibeigenen. Dienern. Hunderte von Leben waren mit ihrem eigenen verknüpft. »Es würde die Leute in eine noch größere Panik versetzen, wenn wir beide verschwinden, der Herr der Aufgehenden Sonne und der Herr von Allem, was Blüht und Vergeht. Es würde ein heilloses Chaos ausbrechen. Und wo sollten wir überhaupt hingehen? Wir können nicht einfach verschwinden und irgendwo anders neu anfangen.« Ich bin der Herr der Aufgehenden Sonne, dachte Orhan, Diener und Ratgeber des Kaisers, Wächter über die Immish und das Bittermeer, Bewohner des Hauses des Ostens, ehemaliger Nithque des Sekemleth-Reiches der Ewigen Goldenen Stadt Sorlost. Ich kann nicht einfach weggehen und irgendwo anders hinziehen.

»Ändere deinen Namen«, schlug Darath vor. »Vergiss all das hier. Darath und Orhan, zwei Männer, die mit nichts als einem Haufen Geld und ohne Namen zusammenleben.«

»Aber …«

»Scheiß auf die Stadt«, sagte Darath auf einmal. Gereizt. Orhan musterte ihn erstaunt. »Scheiß auf Elis und Bil und ihr Baby und alles und jeden; sie werden doch vermutlich ohnehin bald unter Qualen sterben. Der Kaiser hat dich öffentlich gedemütigt, Orhan. Du hast sein ewiges Leben gerettet, und er hat dir nicht die geringste Dankbarkeit erwiesen. Eloise Verneth will noch immer deinen Tod. In der Stadt lacht man dich entweder aus oder hofft, dass sie es schafft. Du hättest beinahe uns beide vernichtet, weil du dachtest, du würdest dem Wohl des Reiches dienen. Der Kaiser hat dich ignoriert. Also scheiß drauf. Lass sie hinter dir zurück. Geh mit mir fort. Verlassen wir diese Stadt.«

Wir könnten es tun. Wir könnten es wirklich tun. In Orhans Kopf überschlugen sich die Gedanken. Nur zwei Menschen sein, die zusammen in einem Haus lebten und nicht an andere denken mussten. Darath und Orhan. Lesen, Gedichte schreiben, reden, zusammen einkaufen gehen und sich einfach … keine Sorgen machen.

Das Baby, dachte er dann. Mein Sohn. Ich …

Es tut mir leid, dachte er und entschuldigte sich innerlich bei dem Jungen. Wenn du die Möglichkeit zu leben gehabt hättest, dann hätte ich dich sehr geliebt.

»Wir müssten bald aufbrechen«, sagte er langsam. »Am besten noch heute. Cam hat endlich beschlossen, die Tore schließen zu lassen.«

Darath starrte ihn erstaunt an. Er setzte sich so ruckartig auf, dass das Wasser aufspritzte. »Was?«

»Überrascht dich das?« Bei den Gottesmessern, Daraths Miene war wirklich köstlich.

Abermals zweifelte er an seiner Wortwahl.

»Er schließt die Tore?«

»Ja. Er schließt die Tore. Tut das Offensichtliche.«

»Das Offensichtliche? Das Offensichtliche?«

»Das hätte er schon vor Tagen tun sollen. Ich hätte es gleich an dem Tag veranlasst, an dem die Krankheit ausbrach.«

Darath starrte ihn an. Vielleicht versuchte er zu ergründen, ob Orhan ihn auf den Arm nehmen wollte. »Aber … dann wären wir eingesperrt. Zum Tode verurteilt. Die ganze Stadt. Wir würden sterben.«

»Ja. Das hast du doch selbst gesagt. Wir werden vermutlich bald alle einen qualvollen Tod erleiden.«

»Aber … Die ganze Stadt? Die ganze Stadt? Du … du herzloser Mistkerl, Orhan.«

Darath hatte wirklich nicht damit gerechnet. Wie konnte Darath nur so naiv sein? Das ist Macht, Darath, dachte Orhan. Dafür hätte ich uns beide beinahe vernichtet. Zu bestimmen, wer lebt und wer stirbt, warum, wann und wie. Das Leben anderer kaufen und verkaufen. Darauf zu hoffen, dass es sich lohnt. Zu wissen, dass dem wahrscheinlich nicht so ist. »Ja. Die ganze Stadt. Aber nicht die ganze Welt. Tam Rhyl für die Stadt. Die Stadt für das Reich. Das Reich für Irlast.«

Darath wirkte noch immer entsetzt. Schockiert. Orhan konnte spüren, dass der nächste Streit drohte. Alles, was sie nun zueinander sagten, kam irgendwie falsch an.

»Ein Apfel für fünf Cimmafrüchte! Ein Kuchen für einen Becher Wein! Bei den Gottesmessern, Orhan! Wo soll das enden? Ganz Irlast für …«

Für dich, Darath. Für Bils Kind. Für mich. So, wie wir es alle tun würden. Ganz Irlast für einige flüchtige Augenblicke meines Lebens.

»Hör auf damit, Darath. Bitte.«

»Deine Hure ist gestorben«, sagte Darath.

»Was?«

»Deine wunderschöne, dreckige Hure. Er ist tot.«

Wie eine Messerklinge. Seine Hände, die die Wunde an Tams Bauch aufreißen, den Schmerz noch verschlimmern. »Ich weiß.«

»Hat es dir das Herz gebrochen?«

»Ich …«

»Ich habe einem Mann ein Talent bezahlt, damit er ihn begräbt. Mit einem Kranz aus Kupferhalm um den wunderschönen, dreckigen Hals. Ein Talent für eine tote Hure.«

Orhan stand auf. »Ich sollte jetzt besser gehen, Darath.«

»Dann lauf fort«, schimpfte Darath. »Du herzloser, verlogener, feiger Mistkerl.« Er erhob sich ebenfalls. Sie standen einander gegenüber, tropfnass, splitternackt, im warmen, süßen, von Duftöl geschwängertem Zwielicht mit Vögeln, die in ihren Käfigen an den Wänden gurrten und mit den Flügen schlugen. Absurd.

Er musste sich anziehen, bevor er gehen konnte. Noch mehr Absurditäten. Orhan stand feucht und schwitzend im Ankleideraum und streckte die Arme aus, während ihm ein Leibdiener die Kleidung anlegte. Die an seiner Haut klebte. Geh einfach zurück, sagte er sich, geh wieder in die Badekammer und sag ihm, dass es dir leidtut, so wie du es immer machst. Im Korridor hörte er das Platschen aus dem schattigen Becken. Darath wollte ihm offenbar demonstrieren, wie zufrieden er allein war.

Die Onyxtore des Hauses der Blumen öffneten sich schwungvoll und lautlos vor ihm. Eingeritzte riesige Blütenblätter aus kostbarem Stein. Die letzte Sonnenwärme klammerte sich daran, und Schmetterlinge und Fliegen hockten darauf und genossen die Wärme. Grüne Echsen mit roten Beinen fraßen die Fliegen. Inzwischen glaubte er jedes Mal, wenn er ging, es könnte das letzte Mal gewesen sein.

Die Torflügel glitten wieder zu. Wurden verriegelt. Ein Schwall Fliegen stob summend auf und setzte sich sofort wieder auf den heißen Stein. Inzwischen gab es sehr viele Fliegen in Sorlost. Sie waren groß und dick. Die Stadt Tyrenae war angeblich eine von Fliegen verpestete Ödnis. Fliegen flogen in großen Schwärmen über die Weißen Inseln und Ith. Fliegen, Fliegen, Fliegen, die die Überreste der Welt fraßen.

Ich wollte doch nur alles besser machen, dachte Orhan.

Die Straßen waren größtenteils leer, selbst die Straße der Blumen. Das leise, ferne Hintergrundgeräusch der Schreie hing wie der Staub in der Luft. Wie den Staub nahm es auch kaum jemand zur Kenntnis. Eines nicht mehr allzu fernen Tages wird es aufhören, und dann wird die Stille die letzten wenigen Überlebenden in den Wahnsinn treiben, dachte Orhan. Ein Toter lag ausgestreckt auf dem Weg, die Arme erhoben, das Hemd zerrissen, Blut strömte aus den Rissen in seinem Schädel. Ein Hathasüchtiger oder ein chatheanischer Händler oder einer der sorlostianischen Händler, der aus Immish verbannt worden war und somit auch irgendwie zu den Schuldigen gehörte. Oder ein Mann, der Kerzen verkaufte oder Lavendelblüten oder Sysiusbeeren oder Brot. Verzweifelte Menschen töteten, wenn sie verzweifelt etwas brauchten. Das Fieber und die Verzweiflung machen uns jetzt schon verrückt. Orhan ging langsam inmitten seiner Wachen weiter. Sie kosteten ihn ein Vermögen, und die Chancen standen gut, dass sich einer von ihnen ansteckte und die Krankheit in sein Haus einschleppte. Angesichts der vielen Arten, auf die er starb, brauchte er sie eigentlich gar nicht, aber nicht einmal ein Sterbender möchte sterben.

Auf dem Hof des Brunnens blieb er unwillkürlich stehen und beobachtete, wie das Wasser silbrig auf den Marmor tropfte. Hübsch. Ein warmer Wind blies Orhan Wassertropfen ins Gesicht. Kühl und süß. Ein mit einem Schwert bewaffneter Soldat stand neben dem Brunnen und behielt die wenigen Menschen im Auge, die unterwegs waren, noch immer versuchten, etwas zu kaufen oder zu verkaufen, und so taten, als würde die Welt nicht in absehbarer Zeit enden. Vier Menschen hatten sich im Brunnen ertränkt, um das Fieber zu lindern. Böse Omen. Dem musste Einhalt geboten werden.

In deiner Umarmung träume ich von Wasser! Orhan schlug einen großen Bogen und vermied es, den Brunnen oder die Waffe des Mannes anzusehen.

Der Grauplatz war der einzige Ort in der Stadt, auf dem das Leben tobte. Tag und Nacht kamen die Leute zum Tempel, um zu beten und zu flehen. Ein neues Gerücht machte die Runde: dass sich die Krankheit vermeiden ließe, wenn man eine Kerze anzündete, während man den Gesang der Sonne rezitierte. Es wurde zudem angemerkt, dass die Priesterinnen nicht starben, und das musste doch etwas bedeuten. Orhan wünschte sich genau wie alle anderen, daran glauben zu können, dass es an der Güte des Gottes lag. Aber wie der Rest wusste auch er, dass es eher eine gottesfürchtige Lüge war. Bis auf die Hohepriesterin trugen alle Priesterinnen Masken. Daher konnte keiner wirklich sagen, wie viele es eigentlich gab.

Orhan Emmereth war ein rationaler Mann. Darath hätte ihn gar als Zyniker bezeichnet. Aber auch er versuchte, sich an ein zerbrochenes Fragment der Hoffnung zu klammern.

»Kandierte Zitronen. Kandierte Rosen. Kandierte gesalzene Cimmablätter.« Eine Straßenverkäuferin mit einem Tablett, auf dem sich die Süßigkeiten türmten. All die hübschen Farben, das Gelbgrün der Zitronen, die rosafarbenen Rosenblüten, die dicken grünen Blätter. Fette Fliegen summten aufgeregt um sie herum, längst gesättigt vom Fleisch der Toten. Einige Dinge kosteten neuerdings so viel, dass sie sich keiner mehr leisten konnte. Andere wollte niemand haben, und die Verkäufer verhungerten. »Kandierte Zitronen«, rief sie verzagt, »kandierte Zitronen, einen Dhol die Tüte.«

Orhan kaufte drei Tüten und reichte zwei an seine Wachen weiter. Die Früchte waren trocken und zu zäh. Nicht sauer genug. Der Zucker knirschte zwischen seinen Zähnen.

»Danke, mein Lord, danke«, sagte sie. Ihre Stimme klang mitleiderregend. »Hier. Nehmt einen Beutel Rosen mit meinem Dank, mein Lord.«

Orhan nahm den Beutel vorsichtig entgegen und reichte ihn ebenfalls an seine Wachen weiter. Wunderschöne große Blütenblätter, ein dunkles, strahlendes Rosa, das an den Morgenhimmel erinnerte. Alle Blumen blühten in voller Pracht. Wie eine von Silberfäule befallene Pflanze schien sich die Stadt vor ihrem Tod noch einmal in ganzer Schönheit präsentieren zu wollen.

Schweigen senkte sich über den Platz. Tief im Inneren des Tempels ertönte die Zwielichtglocke. Der Geruch von Weihrauch wurde herübergeweht.

Ein Opferabend. Ein kleines Mädchen mit sehr, sehr alten Augen und blutigen Händen.

Die Glocke erklang erneut. In der Kleinen Kammer war soeben ein Mensch gestorben.

»Jeden Abend!«, rief jemand über den Platz. »Wir sollten jeden Abend ein Opfer bringen! So, wie wir es früher gemacht haben!«

»Damals waren wir eine Großmacht!«, schrie ein anderer. »Nie haben uns Plagen heimgesucht! Der Große Tanis ist zornig! Wir haben den Gott missachtet, und das ist unsere Strafe!«

»Jeden Abend!« Immer mehr Stimmen erhoben sich. »Jeden Abend!«

Und ihr meldet euch freiwillig?, dachte Orhan.

Die erste Stimme ergriff abermals das Wort. »Ich habe eine Tochter. Der Große Tanis wäre glücklich, wenn sie geopfert würde. Stark ist sie, das würde dem Gott gefallen. Jeden Abend! Jeden Abend!«

»Diese Blasphemie, dass die Hohepriesterin den Tempel verlässt! Der Große Tanis ist erbost! Jeden Abend!«

»Jeden Abend! Jeden Abend!«

Bei den Gottesmessern, dachte Orhan. So weit ist es also schon gekommen?

Wenn sie sich dann besser fühlen, dachte er düster.

Er ging weiter. Leere Straßen. Ein Messerkämpfer, verwundet und keuchend, mit Schweiß auf der Stirn. Zwei andere kämpften auf einem Hof, eine Handvoll Zuschauer hatten sich um sie versammelt; sie riefen den Namen des einen und feuerten ihn an. Während Orhan zusah, rutschte der Größere der beiden aus und geriet ins Stolpern; schon war der andere bei ihm und stach mit dem Messer auf ihn ein; der Verlierer ging in einer Blutlache zu Boden. Sein Blick wanderte zu den Zuschauern, als wollte er sie anflehen, ihm zu helfen. Ich sterbe. Ich sterbe. Ich will nicht sterben. Der Sieger hob die Arme. Blutiger Schweiß auf seiner Stirn. Das Gesicht fiebrig. Zwei kindliche Huren glitten mit klimpernden Glöckchen an den Männern vorbei. Wie der Messermann schwitzten auch sie stark unter der Farbe in ihrem Gesicht. Ein Mann in einem grünen Umhang zog eine der beiden grob zu sich. Das Lispeln eines Kindes: »Einen Dhol. Einen Dhol.« Sie stirbt, hätte Orhan beinahe geschrien. Sie stirbt, seht Ihr das denn nicht? Mann und Kind gingen zusammen die Straße entlang und verschwanden im Schatten. Die Luft um sie herum schien zu stöhnen und zu lachen.

So weit ist es also schon gekommen?

Er ließ sich ziellos inmitten seiner Wachen treiben. Schwebte im goldenen Staub. Mehrere Frauen traten an einer Straßenecke auf einen am Boden liegenden Mann ein und schrien, er wäre ein chatheanischer Plagenbringer. Zwei in Lumpen gekleidete Kinder rannten vorbei. Zwei Häuser waren vernagelt; Schreie drangen heraus. Ein Geschäft war geschlossen. Die Bretter hatte man eingeschlagen, um den Laden auszurauben. Offenbar ein Stoffhändler. Orhan bückte sich und hob ein Stück bestickter Seide in kräftigem Rosa und Gold auf. Blumen, ineinander verwobene Stängel. Die gleiche Farbe wie die kandierten Blütenblätter. Der goldene Faden löste sich in seinen Händen. Ein Käfer hielt sich an der Stickerei fest. Dick und schwarz. Mit Blut bedeckt. Orhan ließ das Stoffstück würgend fallen.