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Im grellen Licht der Nachmittagssonne traf die Sänfte des Kaisers vor dem Tempel ein. Sie schien im Licht zu schweben, diese große schwarze Kiste, die Orhan an den schwarzen Eingang der Großen Kammer erinnerte, der nun auf derart obszöne Weise entblößt war. Angeblich war sie aus Drachenknochen gefertigt worden, den man keinen Tagesmarsch von den Stadtmauern entfernt in der Ostwüste aus dem Sand gegraben hatte. Hart, trocken und silbrig, an den Enden knorrig wie Tumore, kalt anzufassen wie dickes, gesplittertes Eis. Blaue Flammen leckten an den Vorhängen der Sänfte. Darin Becken aus Ammaleneharz, getrockneter Lavendel, getrocknete Pfefferminze, Kupferhalmblüten, die wie Zuckerrosen konserviert worden waren; ein Diener in einem Netz aus Gold und Silber, glitzernd wie Fischschuppen, streute die schwelenden Weihrauchklumpen vor der Sänfte auf die Steine. Auf dass die Füße jener, die den Kaiser trugen, niemals den Boden der Stadt berührten.

»Kniet nieder! Kniet für den Ewig Lebenden Kaiser! Der Kaiser naht!«

Die Sänftenträger trugen Kapuzen und Masken, sodass man ihr Gesicht niemals erkennen konnte. Über und über mit reinen weißen Perlen bestickt. Sie bewegten sich in einem langsamen, schwerfälligen, wogenden, schwankenden Gang. Der Gott allein wusste, ob sie überhaupt menschlich waren. Oder aus den Knochen der Sänfte heraufbeschworene Dämonen, durch die Macht des Gottes daran gebunden. Unsterblich und alterslos, geistlos und formlos, nicht menschliche Kreaturen aus Licht und Schatten mit schiefen Zähnen und krummen Hörnern. Oder Diener in wattierten Kostümen. Der Wirkung zuliebe zum Schweigen verpflichtet.

Aus der Sänfte stieg ein Mann. Ein dicker schwarzer Umhang verbarg auch sein Gesicht. So groß war seine Trauer um die Stadt, dass er kein Licht an seine Haut heranlassen wollte. Er wurde in einem mit Simiserenfedern gekrönten goldenen Stuhl die Stufen zum Großen Tempel hinaufgetragen und saß, wie nicht unbemerkt blieb, seltsam zuckend und in sich zusammengesunken darauf. So groß war seine Trauer um die Stadt, dass er auf seinem Stuhl Schmerzen litt. In seinen schwarz behandschuhten Händen hielt er eine weiße Kerze als Opfergabe an den Gott. Sein Leben, flüsterte Orhan den Soldaten um sich herum ehrfurchtsvoll zu. Er würde sein Leben geben, sterben, wenn die Kerze erlosch, um dafür das Leben aller in der Stadt zu erkaufen, um zu leiden, damit sein Volk Erlösung fand in der Agonie von Tod und Wiedergeburt.

Was genau im Großen Tempel geschah, würde niemand außer dem Gott und dem Mann im schwarzen Umhang jemals erfahren. Man wusste nur, dass es nicht lange dauerte. Orhan hatte den Eindruck, dass der goldene Stuhl nach sehr kurzer Zeit wieder herausgetragen wurde und der schwarz gekleidete Mann in seiner Sänfte verschwand. »Kniet nieder! Kniet nieder für den Ewig Lebenden Kaiser! Der Kaiser naht!« Die Soldaten jubelten, als die Sänfte schwankend und wackelnd von dannen zog.

Etwas später, als sich die ersten längeren Abendschatten abzeichneten, kam Lady Amdelle in einem silbernen Gewand und mit einem Kopfputz aus rotem Glas zum Tempel und brachte ihren Sohn und den halben Haushalt mit. Sie zündeten einhundert Bienenwachskerzen an. Lady Amdelle opferte einen Mondstein in der Größe eines Serviertellers, ein Band aus grünen Perlen, so lang wie ein Mann, und eine Statuette aus einem weiß gestreiften Rubin, die einen blühenden Magnolienbaum darstellte und etwa so groß wie ein Kinderfinger war, aber derart perfekt geschliffen, dass jede Blüte Blätter, Stängel und Pollen hatte. Lord Aviced folgte ihr in einem schweren, mit Edelsteinen besetzten Mantel, in Begleitung seines halben Haushalts, der zerrissene Kleidung trug und den Kopf demütig senkte. Er zündete hundert Kerzen an und opferte eine goldene Schale voller Hennenzähne sowie einen Smaragd in der Größe seiner geballten Faust. Es fiel auf, dass beide den Soldaten am Feuer Geschenke in Form von Edelsteinen und Münzen zuwarfen. Zudem wurde bemerkt, dass Lady Amdelle vor einem der Scheiterhaufen den Kopf senkte und weinte. Zu Orhans Erstaunen traf auch Eloise Verneth ein, ganz in Weiß und Gelb, und in den Spiegeln an ihrem Kleid sah er seine überraschten Augen. Ein langer Blick in seine Richtung, den er nicht verstand. Sie brachte die Blüten einer Cetalasophrase, in Rosenöl konserviert, einen Kranz aus klarem Eis, der verzaubert war und nicht schmelzen konnte, eine Ranke mit Amethysttrauben und Blättern aus Gold und Smaragden. Ihre Diener verteilten Brot und kalte Bratenscheiben an die Soldaten. Mehrere niedere Adlige, darunter sogar ein entfernter Cousin von Darath, der Darath etwas ähnelte, sodass der Anblick seines Munds Orhan einen Stich ins Herz versetzte. Eine Handvoll der reicheren Händlerfamilien, immerhin ein messbarer Anteil jener, die noch am Leben waren.

Eine Art Ruhe senkte sich über die Stadt. Das Verlangen nach Gewalt schien ebenso gelöscht zu sein wie die Flammen. Die Vernunft kehrte zurück, die Menschen wachten auf, starrten einander an, verfluchten sich und wandten den Blick ab, schämten sich für sich und die Stadt, konnten es sich nicht erklären, waren verängstigt, im Herzen krank, aber auch geläutert und beruhigt. Kurz nach Anbruch der Dämmerung gab man bekannt, der Kaiser sei friedlich gestorben und seine letzten Worte wären ein Gebet für sein Volk und ein Dank an seinen Gott gewesen, weil ihm dieser seinen einzigen Wunsch erfüllte. In der Ostwüste tanzten angeblich rote, grüne und silberne Drachen im Wind. Die Luft wurde heiß und stickig. Die Stadt litt unter Schwärmen aus großen, dicken schwarzen Fliegen. Das Haus der Blumen stand verschlossen und schweigend da. Orhan saß vor Bils Schlafzimmertür und lauschte, wie sie seinen Sohn hinter der verriegelten Tür beruhigte.