Und so breitete sich im ersten Morgengrauen die Armee von Amrath auf dem Feld der Schande aus, um die Illyrianer anzugreifen, die Abtrünnigen, die Verräter am Welteneroberer. Die zweite große Schlacht um Illyr, die größte von Mariths bisherigen Schlachten und die eine, von der alles andere abhing. Thalia half ihm höchstpersönlich, die Rüstung anzulegen, und befestigte seinen Umhang mit einer Brosche, die sie als Geschenk zum Jahresherzen für ihn gemacht hatte, silberne Ranken wie Blumen oder Wasser oder ihr offenes Haar, die sich um einen Rubin wanden, der beinahe schwarz aussah, bis das Licht im genau richtigen Winkel darauf fiel und ihn in blendendem, perfektem Rot erstrahlen ließ. Er hatte einen Makel, eine lange dunkle Narbe, die sich von einem Ende zum anderen zog. Wenn er den Stein in der Hand drehte, konnte er sehen, wie sich die Narbe bewegte. Wie etwas Lebendiges. Dann musste er an Drachenfeuer denken oder an die Narben auf Thalias Arm. An etwas, das begraben war und um die Freiheit kämpfte. Sie steckte sie an seinen blutbedeckten Umhang. Trockenes Blut blieb an ihren Fingern hängen. Ihre Hände zitterten. Sie stach sich mit der Brosche und blutete.
»Thalia! Hast du Angst?«
»Nicht um dich«, antwortete sie.
»Versprich mir, dass du dieses Mal fernbleiben wirst. Halt dich aus der Schlacht heraus. Bleib bei deinen Wachen.«
»Ich wollte es aus der Nähe sehen. Wissen, was die Männer tun. Die für uns sterben.«
Vor dem Zelt räusperte sich jemand, vermutlich Osen.
»Nun hast du es gesehen. Es ist weniger verwirrend, als es vermutlich aussieht.«
Ihm ging durch den Kopf, dass Carin ihn gewiss begleitet hätte. Er wäre an seiner Seite in den Kampf gezogen. So hätte es sein müssen: Er wäre überall anders, wo Marith ihn nicht im Auge behalten konnte, nutzlos gewesen; er hätte nie selbst das Kommando übernehmen können. Neben ihm, Seite an Seite, wie sie einander das Blut der Getöteten von den Lippen leckten.
Er verdrängte diesen Gedanken. An Carin hatte er schon sehr lange nicht mehr gedacht. Umso seltsamer war es, dass er ihn jetzt ganz deutlich vor Augen hatte.
»Sehr viele Männer werden sterben, nicht wahr?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich. Mehr, als mir lieb ist. Ja. Es ist meine Schuld«, gestand er. »Ich werde dir eine Feder vom Vogelgott mitbringen, die du dir ins Haar stecken kannst.«
Sie lächelte ihn an. »Ich hätte gern so viele, dass ich daraus einen Umhang machen kann. Geh jetzt. Ansonsten räuspert sich der arme Osen noch zu Tode.«
Die Illyrianer waren in der besseren Position. Einer deutlich besseren Position. Ihre Linien erstreckten sich über die Ebene, grenzten zur Linken an dicht bewaldete Hügel und zur Rechten an den tiefen Jaxertane, der noch viel Regenwasser führte. Daher konnte Marith sie nicht einfach von der Seite attackieren. Sie würden einen festen Wall bilden und ausharren, während sich seine Männer ihnen wie Wellen entgegenwarfen. Die Ebene hinter ihnen war breit und stieg sanft an, was bei Bedarf einen ordentlichen Rückzug in die Sicherheit der westlichen Hügel ermöglichte. Ihm blieb als Rückzugsort nur das schmale Flusstal, in dem die Männer wie Schafe eingezwängt wären. Am Himmel über ihnen zuckten tanzende silberne Lichter. Der goldene und silbrige Feuervogelgott mit seinen scharfen, schimmernden, metallischen Krallen. Schatten sammelten sich um Marith. Kleiner. Schwächer. Ihnen fehlte der Drache. Sie fürchteten sich.
»Haltet sie auf«, befahl er den Schatten. »Was auch passiert. Die mächtigen Wesen. Die Lichter. Ihr müsst sie von den Männern fernhalten.« Die Schatten zischten gehorsam. Widerstrebend und doch seinem Willen unterworfen.
Der tragische, unerwartete Tod von Maen Bemann hatte eine rasche Umsortierung der Befehlshaber erforderlich gemacht. Osen übernahm nun den rechten Flügel, die schwer gerüsteten Schwertkämpfer und eine Reserve aus ithischen Speerkämpfern mit Dreizackspeeren, deren Spitzen mit Gift überzogen waren. Yanis Stansel lenkte die Mitte, den robusten Kern aus Sarissakämpfern. Kiana Sabryya führte die leichte Kavallerie am linken Flügel, berittene Schwertkämpfer und ihre berittenen Bogenschützen, unter die sich auch Bogenschützen zu Fuß und zwei Bannfeuer-Bliden mischten. Weit links außen befand sich der kleine überlebende Trupp schwerer Kavallerie, den Marith selbst anführte.
»Halten«, befahl er seinen Hauptleuten. »Was auch passiert, haltet die Reihen. Wir dürfen uns nicht zurückdrängen lassen. Was sie auch tun, wir dürfen nicht zurückweichen.« Die Reihen seiner Soldaten glitzerten vor ihm. Er spornte sein Pferd an, hob sein Schwert und brüllte mit einer Stimme so laut wie Trompeten: »Amrath und die Altrersyr! Dies ist mein Königreich! Das Königreich von Amrath! Seine Knochen warten auf uns! Sie führen uns zum Sieg! Hier auf dem Feld der Schande werden wir den Feind schlagen! Rache üben! In Amraths Namen verspreche ich es! Für den Ruhm! Für die Vergeltung! Für die Zerstörung! Tod und alle Dämonen! Tod! Tod! Tod!«
Die Armee von Amrath bewegte sich langsam durch den Regen vorwärts.