6

Dunkelheit. Ein enger Gang, der sich wie eine Faust um sie schließt. Sehr lange Zeit hatte er weiter nach unten geführt und sich in die Erde gebohrt. Von Würmern durchlöchert. Eine Leichengrube. Sie spürte schon seit einer ganzen Weile, wie ihr beim Kriechen der Zorn und der Hass folgten. Die Erde dröhnte vom Klang fallender Steine. Die Welt brach zusammen.

Der Tunnel senkte sich noch weiter ab. Schluchzend kroch sie vorwärts und scheuerte sich am rauen Boden die Hände auf. Der Tod ihrer Familie war ihr ständiger Begleiter. Sie war so müde. So erschöpft. Ihre Trauer brach immer heftiger über sie herein. Trauer, Schuldgefühle und Wut. Nach und nach machte sich der Hunger bemerkbar. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon kroch. Stunden. Minuten. Tage. Ihr Mund war vor Durst völlig ausgetrocknet. Ihr Kopf schmerzte an den Stellen, an denen sie vom Magierfeuer getroffen worden war. Ihre Blase drohte zu platzen.

Der Tunnel wurde gerade und stieg dann an. Ein feuchter, frischer Geruch stieg ihr in die Nase. Geisterhaftes Licht tauchte vor ihr auf. Ein Geräusch. Langsam rückte sie weiter vor, konnte es kaum erwarten, hier herauszukommen, und fürchtete sich gleichzeitig vor dem, was sie dort erwartete. Verlass den Tunnel, entkomm dieser Bedrängnis. Bleib hier im Dunkeln, wo nichts echt ist. Dort draußen wurde alles in Asche verwandelt. Alle sind tot, und die Welt ist verbrannt. Ganz langsam erreichte sie das Tunnelende, das sich als Loch in den Klippen herausstellte und von heruntergefallenen Felsen verdeckt wurde. Das Meer brandete unter ihr an den Strand und ließ die Kieselsteine singen und seufzen. Das letzte Abendlicht, einige Sterne, die von einer aufsteigenden Wolke verschluckt wurden. Sie kroch keuchend ins Freie und atmete die Luft ein, die nach dem Meer roch. Am Leben! Die Trauer in ihr machte Gelächter Platz, denn sie hatte ihn geschlagen. Sie war am Leben!

Landra Relast, die älteste Tochter des Lords von Terz, die Verwandte der Altrersyr, der Calboriden und der Könige von Bakh, die Nachfahrin von Amrath, eine hohe edle Dame von den Weißen Inseln. Landra Relast, deren Bruder, Schwester, Mutter und Vater ermordet worden waren, deren Heim zerstört war, die mit angesehen hatte, wie Marith Altrersyr, der ihr versprochene Gatte, ihren ganzen Besitz in Asche verwandelte. Landra Relast, die als Einzige der Macht entronnen war, die er über sie hatte, dem Zauber, mit dem König Marith, der Amrath war, sie belegte, diese wahnsinnige, glorreiche Gier nach dem Morden und dem Tod. Landra Relast, die vor ihm geflohen war, hatte sich einen Weg durch die alten Geheimtunnel unter Malth Salene gebahnt, fort vom Bannfeuer, vom Magierfeuer und den Schwertschlägen und in die Sicherheit des einsamen Steinstrands.

Landra Relast, der nichts mehr geblieben war.

Sie pinkelte hinter einen Felsen, obwohl niemand hier war, der sie sehen konnte. Als sie sich die Hände und das Gesicht im Meer wusch, brannte das Salz schmerzhaft in ihren Wunden. Ihr Kleid war völlig zerrissen, und sie stank vermutlich nach Rauch. Was mit ihrem Haar und ihrer Kopfhaut geschehen war, wollte sie lieber gar nicht so genau wissen.

Es war sehr kalt. Der Wind war stärker geworden, und die Wellen donnerten auf die Kieselsteine. Dünner, bitterer Regen. Landra legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Ihr ganzer Kopf tat weh.

Ein Stück voraus müsste ein Dorf liegen. Einen Marsch von etwa einer Stunde entfernt. Ihre Beine zitterten, da sie so hungrig war, und sie beschloss, langsamer zu gehen. Der Weg über den unebenen Boden fiel ihr schwer, ständig rutschten Steine unter ihren Füßen weg, und nach einer Weile zog sie die Schuhe aus in der Hoffnung, es würde leichter gehen, nur um sie kurz darauf wieder anzuziehen, weil ihr die Steine in die Haut schnitten. Es war so dunkel, das Meer toste beinahe unsichtbar neben ihr. Endlich vor ihr Lichter, die aus dem Dorf kommen mussten, das Ächzen, die Unterhaltungen und der Geruch von Menschen.

Landra ließ sich auf den Boden sinken und dachte nach.

Lady Landra Relast. Jemand würde sie erkennen. Alles andere wäre undenkbar. Selbst wenn man sie nicht erkannte, wäre anhand ihres feinen Kleides und der verbrannten Haut offensichtlich, woher sie kam. Es ließ sich nicht vorhersagen, wie die Dorfbewohner das Geschehen aufgenommen hatten oder auf welcher Seite sie standen.

Doch ihr blieb nichts anderes übrig.

Das erste Haus lag vollkommen dunkel da. Im nächsten brannte Licht, das in dünnen Linien durch die Ritzen der Fensterläden drang. Mehrere Steine an einem Band hingen am Türpfosten. Hühnergötter, die vor den Mächten der Dunkelheit schützen sollten. Ein gutes Omen. Landra klopfte an die Tür. Im Haus waren leise Stimmen zu hören, das Klappern von Metall, dann Schweigen, bis die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Ein Mann starrte heraus. Er hielt eine lange Eisenstange in der Hand.

»Ich bin unbewaffnet«, sagte Landra schnell und hob ihre weißen Damenhände, die ganz blutig, verbrannt und wundgescheuert waren. »Ich brauche … ich brauche Hilfe. Bitte. Einen Unterschlupf. Etwas zu essen. Ich kann dafür bezahlen.«

»Hilfe?« Helle Augen blickten sie ängstlich an. Er sah ihr verkohltes Haar und ihr verbranntes Gesicht und wollte die Tür schon wieder schließen.

Nicht wieder hinaus in die Nacht. In die Finsternis. Ihre Beine hätten beinahe nachgegeben. Sie war so hungrig. So durstig. So müde. Nicht wieder hinaus in die Nacht. »Bitte.« Fast hätte sie geschrien. »Bitte. Ich bin Landra Relast aus Malth Salene, Lord Relasts Tochter. Es gab eine Schlacht … Ihr wisst vermutlich davon. Bitte, ich flehe Euch an. Etwas zu essen und Wasser. Bitte.«

»Lord Relast ist tot«, sagte der Mann. »Sie sind alle tot. Malth Salene ist eine rauchende Ruine. Auch der König ist dort oben gestorben. Es gibt jetzt einen neuen jungen König.« Er musterte sie skeptisch. »Ja, Ihr seht aus wie er, wie der junge Lord, der im Frühling gestorben ist. Lord Carin, Lord Relasts Sohn.« Er blickte hinter sich ins Haus, murmelte etwas und öffnete dann die Tür. »Kommt besser herein, wer immer Ihr auch seid. Dies ist keine gute Nacht, um sich außerhalb von Steinmauern aufzuhalten.«

Das Haus war winzig, ein Zimmer zum Wohnen und Schlafen, der Boden unter dem Stroh aus festgetretener Erde, Fischernetze unter der Decke. Im Licht der Feuerstelle erkannte Landra, dass der Mann jung war, noch keine dreißig, mit hellem Haar und heller Haut. Eine Frau saß am Feuer, ebenfalls jung und mit dunklem Haar. In der Ecke war eine Wiege auszumachen, verziert mit dem Bild eines Hirsches.

Der Mann stellte die Eisenstange wieder neben die Feuerstelle. »Ich hole Euch etwas Warmes zu essen. Ist noch etwas vom Eintopf übrig, Hana?«

Die Frau nickte. Sie stand auf und half ihrem Mann, einen Becher Wasser, eine Schüssel mit Fischeintopf und etwas Brot zu holen. Landra aß und verzog ob des salzigen Geschmacks das Gesicht. Die Hand, mit der sie den Löffel hielt, zitterte vor Erschöpfung. Die Geräusche von Wind und Wellen drangen laut durch die Fenster herein und übertönten das Knistern des Feuers und den sanften Atem des schlafenden Kindes. Der Mann und die Frau beobachteten sie mit Furcht in den Augen.

»Mein Name ist Ben«, sagte der Mann schließlich. »Das ist meine Frau Hana. Mein Sohn Saem. Sie sagt, sie wäre Lord Relasts Tochter Lady Landra.«

Hana versteifte sich und nickte, bevor sie Landra einen mitfühlenden Blick zuwarf. »Es tut mir sehr leid.«

»Dann habt ihr den Kampf gesehen?«

Ben schüttelte den Kopf. »Wir sahen das Licht am Himmel, als es brannte. Männer aus dem Moor zogen mit Schwertern hinauf.«

»Einige Männer aus dem Dorf gingen hin, um es sich anzusehen«, berichtete Hana. »Fünf waren es, die aufbrachen. Zwei kamen zurück. Sie sagten, die anderen drei … die anderen drei würden nicht wiederkommen.« Ängstliche Augen. Nach mehrmaligem Blinzeln schaute sie weg.

»Wir richten Euch ein Bett her«, sagte Ben. »Morgen früh rufen wie die Heilerin Alli, damit sie Euch untersucht.«

Trauer, Schuldgefühle und Wut. Sie würde nicht schlafen können, da ihr Herz von Würmern zerfressen wurde. Das Bett bestand aus Heidekräutern, über die eine Wolldecke gelegt wurde, in der es von Flöhen vermutlich nur so wimmelte. Obwohl es kratzte und nach Fisch stank, schlief sie augenblicklich ein.

 

Schlagartig wurde sie wach. Grau machte sich die Morgendämmerung bemerkbar; die ersten Lichtstrahlen stahlen sich zwischen den Fensterläden hindurch, und der Klang des Meeres schien sehr laut zu sein. Sie wusste zuerst nicht, wo sie war: ein fremder Raum, die Atemgeräusche anderer, Feuchtigkeit in der Luft. Erdgeruch stieg vom Boden auf. Auf einmal kreischten draußen Möwen wild, laut und schmerzerfüllt. Und noch etwas anderes. Landra setzte sich auf und sah sich panisch um. Ein Brüllen, das an Lachen erinnerte und langsam verhallte. Das Kind wimmerte im Schlaf, der Mann und die Frau regten sich unruhig. Danach war es wieder still.

Der rhythmische Klang des Meeres, der Vögel und der Welt, die mit zunehmender Helligkeit erwachte. Im Haus regte sich bereits etwas, Hana bereitete Haferbrei zu, das Kind fing direkt nach dem Aufwachen an zu singen und vergoss seinen Becher verwässerte Milch über seine Kleidung. Ben setzte sich mit einem Krug Dünnbier an den Tisch, um seine Netze zu flicken. Besorgt euch das alles nicht?, fragte sich Landra, während sie die Familie beobachtete. Dass der König tot ist? Dass mein Vater gestorben ist? Dass sich die Welt verändert?

Kurz vor Mittag kam ein Mann aus dem Dorf vorbei. Ben bat Landra, sich auf dem Zwischenboden, auf dem sie ihre Vorräte aufbewahrten, zu verstecken, solange er da war. Der Besucher, Ben und Hana unterhielten sich so leise, dass Landra kein Wort verstehen konnte. Aber als es wieder sicher war, sagten sie ihr Bescheid, und sie konnte sofort erkennen, dass die beiden besorgt waren. Der König sei tot, bestätigten sie ihr. Sein Sohn wäre nun an seiner statt König. Marith, der den Gerüchten zufolge tot war. Man kannte ihn auf Terz, diesen Prinz Marith, der häufig zu Besuch kam, ein Freund der Relasts war; er wäre ein König, dem sie ein Gesicht zuordnen konnten, während sein Vater Illyn ein Fremder gewesen war. Fast schon ein Feind gar, der alte König Illyn: Die Muraden, Königin Elaynes Verwandte, waren auf Terz nicht beliebt, da sie seit Langem zu Lord Relasts Erzfeinden zählten. Die Kämpfe waren bis auf Weiteres vorüber. Das war für Ben das Wichtigste, dass es sich auf Malth Salene beschränkt und sich nicht auf seine kleine Ecke der Welt ausgewirkt hatte.

Aber besorgt waren sie. Mit ernsten Mienen und Angst in den Augen sprachen sie darüber. Doch nach und nach dämmerte es Landra, dass sich die Welt für diese beiden nicht verändert hatte.

 

Sie wollten sie keine weitere Nacht bei sich aufnehmen. Es sei zu gefährlich, sagte Ben traurig und beschämt und konnte Landra dabei nicht ansehen, sondern beobachtete seinen Sohn, der mit Steinen spielte. Wenn die Männer des Königs kämen …

»Ich bin unwichtig«, versicherte ihm Landra, »völlig unwichtig. Die Relasts sind alle tot.«

Ben zuckte die Achseln. »Es ziehen bereits Reiter über die Straßen, rufen den neuen König aus und werben Soldaten an. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« Er war jung und kräftig genug, um Soldat zu werden, erkannte Landra da. Jede Gefahr, und mochte sie auch noch so fern oder klein sein, jede Stimme, die eine Fremde in seinem Haus erwähnte, die Erwähnung seines Namens gegenüber anderen, all das musste vermieden werden.

»Wir lassen Eure Verletzungen versorgen«, versprach Hana, »aber danach müsst Ihr gehen.« Sie betrachtete ihr Kind. Landra hörte in ihrer Stimme sowohl Güte als auch eine Drohung mitschwingen.

Die Heilerin Alli war die weise Frau des Dorfes, die Hexe, mit Knochenanhängern am Hals, Hühnergöttern aufgereiht über den Brüsten, dem Grün von Blättersaft auf der Haut. Ein sanftes Gesicht. Gütige, nachdenkliche Augen. Sie strich eine fettige Salbe auf Landras Wunden, die fleischig, fischig und bitter roch, brannte und sich wie die Spur einer Schnecke über ihre Arme zog. Aber Landra musste auch zugeben, dass sie den Schmerz ein wenig linderte. Danach sahen die roten Wunden etwas besser aus. Zu guter Letzt bewegte die Frau einen Zweig der grünen Sumpfhaselnuss über Landras Kopfhaut und murmelte dabei Gebete und heilende Worte. Toth, das ist die Kälte des Wassers. Ran, das ist der Frieden des Abends. Palle, das ist das Schimmern der ruhigen See. Danach zerbrach sie den Zweig und gab Landra eine Hälfte. Die andere nahm Alli mit, um sie in die Wellen zu werfen. »Pass gut darauf auf«, ermahnte sie Landra. »Bewahre den Zweig, dann wird deine Haut besser heilen.«

Hana gab Landra ein Stück Stoff, das sie sich um den Kopf wickeln konnte, damit sie wie eine alte, schüchterne Witwe aussah. Zudem bekam sie ein Kleid, das jedoch an Brust und Hüfte viel zu eng war. Die stämmige Lady Landra mit dem unscheinbaren Gesicht. Hübsch war sie nie gewesen, ebenso wenig stolz auf ihr Aussehen, doch sie hatte sich nie darum geschert. Eine bedeutende Dame, dafür geschult, einen großen Haushalt zu führen und die Söhne eines Lords oder Königs großzuziehen. Eine halb kahle Bettlerin ohne Heim und Namen.

»Was werdet Ihr jetzt tun?«, wollte Ben wissen. »Wohin wollt Ihr gehen?« Offensichtlich wollte er sie zum Aufbruch ermutigen. Oder er fürchtete, sie könnte sich ins Meer stürzen.

Sie hatte versucht, darauf eine Antwort zu finden. Wie soll es weitergehen? An wen kann ich mich wenden? Was kann ich sein? »Ich werde nach Seneth gehen«, antwortete sie. »Nach Morrstadt.«

»Nach Morrstadt?« Ben warf ihr einen misstrauischen Blick zu und wirkte auf einmal traurig. »Dahin wird auch unser neuer König gehen.«

Landra sah ihn auf die gleiche Weise an. »Ja, ich weiß.«

Seine Augen umwölkten sich. »Ich kann Euch nach Seneth bringen, aber nicht nach Morrstadt. Bis an die Küste im Süden, wo ich Euch unbemerkt absetzen werde. Von dort aus könnt Ihr die Straße durchs Moor nehmen.«

Ehrengäste verlassen im Hafen von Toreth ihr Schiff und reiten über die goldene Straße nach Malth Salene. Mörder, Ausgestoßene und tote Männer nehmen die Straße der Toten und kommen durch das hintere Tor, vor dem die Müllhaufen stehen. Diese Worte hatte sie zu Marith gesagt, ihrem dreckigen, gefesselten Gefangenen, als sie ihn nach Malth Salene zurückgebracht und damit das Schicksal aller besiegelt hatte. Voller Verachtung und Grausamkeit in der Stimme. Es war so gefühllos gewesen. Und Marith hatte beschämt den Kopf hängen lassen.

»Dann heute Abend?«, fragte sie zaghaft.

Ben nickte. »Heute Abend.«

Hana gab ihr Brotkuchen, in Salz eingelegten Fisch und einen kleinen, runden Hartkäse aus Ziegenmilch mit. Sie schenkte ihnen das goldene Armband, das sie an ihrem linken Handgelenk trug. Im Dunkeln brachte Ben sie hinüber nach Seneth, dem Sitz der Könige der Weißen Inseln, wo ihre Ahnen Serelethe, Eltheia und Altrersys einst an Land gekommen waren, um nach dem Tod Amraths des Welteneroberers, des Königs der Schatten, des Königs des Staubes, des Königs der Toten, Schutz zu suchen. Dunkel und kalt war die Überfahrt, und über Stunden hörte sie nichts als das Schwappen des Wassers an den Schiffsrumpf und das Knarren der Ruder. Sie machten kein Licht, um nicht von einem anderen Boot entdeckt zu werden. Das Wasser sah in der Dunkelheit wie schwarzer Stein aus. Sie mussten ankern und eine Weile warten, als Seneth vor ihnen auftauchte, da Ben nicht riskieren wollte, im Dunkeln den Klippen und Felsen zu trotzen, auch wenn es den Anschein hatte, als würde er sich hier blind auskennen.

Endlich dämmerte es. Sanft erhellte das erste Licht den Horizont. Landra konnte das Land vor ihnen sehen, die Einzelheiten der Klippen, die hohen Felsen.

»Wollt Ihr das wirklich tun?«, fragte Ben.

Morrstadt, wo auch der neue König hingehen würde. Beinahe hätte sie gelacht. »Ja. Nein.«

Abermals legte er sich in die Ruder. Es war hell genug, um die Wirbel im Wasser zu erkennen, bevor Ben wieder seinen Rhythmus fand. Die Klippen vor ihnen wirkten wie Gesichter. Gewaltiger grauer Stein, der steil bis in den Himmel ragte.

Ben ruderte an der Küste entlang und am ersten Strand vorbei zu einer schmalen Landzunge, auf der Robben schliefen. Die Klippen wurden niedriger, Buschland reichte bis ans Ufer. Als sie näher kamen, bemerkte Landra einen Weg, der nach oben führte. Meeresvögel kreisten am Morgenhimmel. Einige Robben saßen auf den Steinen und starrten sie an. Das Boot kam knirschend auf dem Steinstrand zum Stillstand. Wellen brachen sich an den Seiten.

»Wollt Ihr das wirklich tun?«, hakte Ben noch einmal nach.

Landra kletterte unbeholfen aus dem Boot ins Wasser. Es reichte ihr bis an die Taille, und sie keuchte auf, weil es eiskalt war und das Salz an ihren Beinen brannte. Ben reichte ihr das Bündel mit ihren Vorräten.

»Danke«, sagte Landra verlegen, während Ben das Boot bereits wieder mit den Rudern zurück ins Meer schob. Sie bewegte sich mühsam über die Steine durchs Wasser, und ihr Kleid klebte ihr schwer an den Beinen. Als sie ausrutschte und sich den rechten Fuß an einem Stein stieß, tauchte sie unwillkürlich den linken Arm ins Wasser, und das Salz schmerzte in ihren Wunden. Sie erklomm das steile Ufer, als wäre es ein Hügel. Die kleinen Steine rutschten unter ihren Füßen herum. Ein dicker Haufen verwesenden Seetangs wimmelte von Fliegen. Kuttelfischgräten und eine tote Qualle glitzerten silbrig rot in der Sonne und sahen aus wie Knochen und ein totes Herz. Die grauen Klippen starrten sie wie Gesichter an. Wie alte, wartende Götter. Die alten Wesen des Landes. Möwen flogen über ihr kreischend mit dem Wind.

Landra drehte sich noch einmal zu Bens Boot um, das bereits kleiner wurde. Sie hob die Hand und winkte. Wie sinnlos. Aber er hatte sie freundlich behandelt.

Eltheia. Oh du Schönste. Pass auf ihn auf. Beschütze ihn. Ihn, Hana und das Kind.

Sie setzte sich auf die Steine, die sich unangenehm in ihre Haut bohrten, und hob den ersten auf, den ihre Hand berührte. Es war ein Hühnergott, graugrün, dessen Loch von einem kleineren blassgrauen Stein versperrt wurde. Ein Omen? Sie warf ihn weit ins Meer hinaus. Es platschte zufriedenstellend. Sie aß etwas Brot und trank aus ihrem Wasserschlauch. Es schmeckte widerlich, schal und nach Fisch.

Dann stand sie auf und ging steif den Weg zu den Klippen hoch, eine müde Bauersfrau in einem schlecht sitzenden Kleid, die nach Fisch, Talg und Kräutern roch.