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Da wären wir also«, sagte Raeta. Ihre Schulter war dick und geschwollen. Stank. Bebte wie Schlamm, wenn sie sich bewegte. Gab ein schmatzendes, widerwärtiges Geräusch von sich, wann immer sie den Arm zu hoch hob. Tobias musste auf die Knie gehen und sie anflehen, den Arm nicht so hoch zu heben. Ihr Gesicht war grau-grün-weiß-lila. Sie keuchte beim Sprechen. Sterben: ein Rennen, um herauszufinden, wer zuerst tot sein würde, er oder sie oder sie alle drei zusammen. Sie lagerten einen etwa dreistündigen Fußmarsch von Ethaldens Mauern entfernt.

»Wir brechen bei Tagesanbruch auf«, verkündete Tobias.

»Bei Tagesanbruch. Warum nicht heute Nacht?«

»Weil dies der Turm des wiederkehrenden Todes ist, Amraths Festung, daher ist es keine gute Idee, in der verfluchten Dunkelheit dorthin zu gehen, verstanden? Außerdem brauche ich vorher ein wenig Schlaf.«

Ich will eigentlich überhaupt nicht dorthin gehen, dachte Tobias. Ich war einmal da. Wollte nie mehr zurückkehren. Sie konnten es spüren, alle drei. Das sah er ihnen an. Den Druck. Er suchte sie heim. Jeder Schritt, den sie jetzt taten, führte sie über heiligen, verfluchten Boden. Zu den Ruinen von Amraths Festung zu gehen, um nach Amraths skelettierten Überresten zu suchen und ihm einen Ring vom skelettierten Finger zu ziehen, in dem ein Dämon gefangen gehalten wurde: unfassbar bescheuert und unglaublich furchterregend.

»Einen Tag zu spät, wie du mich zu Recht angeschrien hast.«

»Bei Tagesanbruch«, beharrte Tobias. »Bitte.«

»Bei Tagesanbruch. Wenn du darauf bestehst. Aber gib nicht mir die Schuld.« Dann fügte Raeta hinzu: »Tobias, ich habe dich nicht verzaubert, damit du herkommst. Ich habe dich nicht verzaubert, damit du den Wunsch verspürst, ihn zu töten.«

 

Tagesanbruch. Sie liefen durch ein schmales Tal, das zwischen steilen Hügeln lag. Ein paar sumpfige Abschnitte auf dem versengten schwarzen Hochland im westlichen Illyr am Rand der verdammten Welt. Jenseits des Tals einige niedergebrannte Häuser. Tote Schafe. Drei tote Menschen. Tobias versuchte, sie nicht anzusehen, tat es dann doch und schwor abermals gebratenem Fleisch ab. Weiter oben auf einer Hügelspitze die Ruine eines Gebäudes. Ein Wachturm. Sie spürten, wie er auf sie herabblickte, als sie darunter entlangliefen. Das Land stieg wieder an. Karge grüne Wände umschlossen sie. Wasser rann über Felsen. Schwarze Steine. Blassweißer Morgenhimmel.

Seltsamerweise ein wunderschöner Ort. Das Gras weich unter den Füßen. Moosig. Ein nackter Baum am Hang eines Hügels, der sich dem Weiß entgegenreckte. Das Wasser säuselte leise. Der Schwung der Hügel, schlafenden Bestien gleich. Üppiges, tiefes, warmes Grün.

Maden auf einem Leichnam, dachte Tobias beim Anblick der Landschaft. Das sind wir Menschen. Maden auf einem verdammten Leichnam. Sieh dich nur um. Hier ist es wunderschön. Viel zu schön, als dass Menschen hier herumlaufen sollten, vor allem, wenn man bedachte, was Menschen so taten.

»Keine Menschen«, korrigierte ihn Raeta. »Er.«

»Sie folgen ihm«, erwiderte Tobias. »Sie haben ihn zum König gekrönt.«

Die Hügel sanken plötzlich zu einer breiten Flussniederung ab. Verkümmerte Dornbüsche, ein hervorstehender Felsen wie ein Steinhügel, schwarze Aschehaufen. Und Lärm, Rauchgeruch, Menschengeruch. Salziger Wind. Da, vor ihnen, die Ruinen von Ethalden, die golden aus dem verbrannten Boden ragten, im Hintergrund das silbrige Meer.

Es sah aus wie eine Wunde. Eine Wunde in der Welt. Schmerz.

So gewaltig. Viel größer als in Tobias’ Erinnerung. Als wäre es seit seinem letzten Besuch gewachsen wie ein Tumor auf einem Körper, wie ein Pilz an einem Baum. Drachenfeuer und Ruin, und noch immer erstreckte es sich höher als Berge und breitete sich weit auf dem Boden aus. Keine Festung, sondern eine Stadt. Ein Königreich. Die Luft darüber vollkommen leer. Die Luft schimmerte. Die Luft war sehr kalt. Wehrgänge. Torhäuser. Waffenkammern. Exerzierplätze. Silberne Türme. Weiße Marmorterrassen. Mauern aus Magierglas. Mauern aus Gold. Mauern aus Menschenknochen. Es stank nach Tod und Mordlust. Schien jeden, der es sah, aufzufordern, zu zwingen, sich ehrerbietig zu verbeugen, alles als Zentrum und Herz der Welt wieder aufzubauen. Hier, schrien die zerbrochenen Steine, hier ist der Sitz des einzig wahren und echten Königs. Hier ist die Macht. Hier ist der Ruhm. Hier ist Gott. Dies ist der einzig wahre Ort auf der Welt.

Landra schlug staunend die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.

Die illyrianische Armee lagerte in der Nähe, zwischen den Ruinen, dem Fluss und dem Meer. Die illyrianische Armee bestand nun im Grunde genommen aus zwei Männern, einem Hund und einem dreibeinigen Pferd. Sie hatten eine Palisade aus Dornenzweigen errichtet, hinter der eine armselige Reihe von Wagen und Karren stand. Der schmale Jaxertane bot ihnen immerhin etwas Schutz im Westen. Silbrige Lichter schimmerten am Himmel um sie herum. Im Meer und im Fluss regten sich Wesen mit Zähnen und klauenbewehrten Fingern. Kämpfen oder sterben. Sterbend kämpfen. Kämpfend sterben. Diesen letzten Abschnitt zerstörten, verfluchten Bodens halten. Die zertrümmerten Mauern von Amraths Festung: Wir geben sie nicht auf, schien das Lager zu demonstrieren. Wir lassen nicht zu, dass Ihr an diesen Ort zurückkehrt, an dem wir Euch vernichtet und von dem wir Euch vertrieben haben.

Das Lager war in Aufruhr, Gestalten liefen schreiend herum; als er auf sie hinabblickte, konnte Tobias die Angst spüren, die in ihnen aufstieg. Panische Stimmen riefen zur Ordnung, hektisch wurden Rüstungen angelegt, Pferde gesattelt, Vorbereitungen getroffen.

Ein Schrei. Die Armee von Amrath kam auf sie zu. Marith an vorderster Front, schimmernd wie ein Diamant, wie er vor den Reihen entlanggaloppierte. Die rote Standarte hinter ihm knallte und schwankte. Blut tropfte herab. Am Himmel kreisten die Schatten. Verdrehten die formlosen Körper, bleckten die Zähne.

»So schnell«, murmelte Raeta. »Er ist so schnell hier. Ich dachte, wir hätten mehr Zeit.«

Bannfeuer regnete auf die Illyrianer herab. Kleine gerüstete Gestalten kreischten und brannten. Die Schatten ergossen sich in die zerstörten Türme. Ethaldens Steine schienen zu schwanken.

Das Meer hinter ihnen war eine Masse zuckender Gliedmaßen. Meeresbestien. Meeresmonster. Gewaltige weiße Wellen. Mahlende Pferdezähne. Ausschlagende weiße Schaumhufe, die wie wild gen Ufer traten. Verzweifelt versuchten, ihn zu erreichen. Ihn zu vernichten. Seine Soldaten zu brechen, wie sie schon so viele Altrersyr-Schiffe zerbrochen hatten. Die Schatten flogen über das Wasser, und das Wasser erhob sich in dem Versuch, sie zu ertränken.

Die Wellen brachen über sich selbst herein. Weißer Schaum spritzte auf, die Wellen wirbelten, kämpften, drehten sich im Kreis. Im Wasser entstand ein Mahlstrom, ein Wirbel, der sich selbst einsaugte, die Meeresbestien in die Tiefe riss. Zischend stieg Dampf auf. Wellen schlugen ans Ufer und versuchten, die illyrianischen Soldaten zu erreichen. Winzige, stockartige Gliedmaßen zappelten im Wasser. Kreaturen im Meer. Menschen und Monster wurden zertrümmert. Gegen Ethaldens eingestürzte Mauern geschleudert, wo sie am Stein zerbrachen.

Marith hatte auf den Weißen Inseln eine Wetterhand bei sich gehabt, fiel Tobias wieder ein. Einen Mann, der die See beherrschen konnte.

Verdammt nutzlos beim Durchqueren einer kargen Ödnis.

Verdammt hilfreich, wenn der Feind mit dem Rücken zum Strand steht.

Die silbernen Lichter flackerten am Himmel. Bannfeuer flog in alle Richtungen. Unkontrolliert. Verbrannte Mariths eigene Männer. Die Schatten stürzten sich auf die Illyrianer. Der goldene Göttervogel eilte zu ihrer Verteidigung. Ein weiterer kreiste und schien etwas in Mariths Reihen zu suchen. Die Wetterhand? Marith? Ein Strahl aus weißem Feuer traf die vordersten Reihen der Armee von Amrath, zerfetzte Männer, verschlang sie.

Mariths winzige Gestalt, der mit ansehen musste, wie seine Männer starben. Tobias hätte schwören können, selbst aus dieser Entfernung, dass er nur leicht gereizt die Achseln zuckte.

Marith hob sein Schwert. Schrie. Ein Geräusch wie zuknallende Bronzetore. Der Todesschrei der Hoffnung.

Eine weitere Welle ging auf die hinteren Reihen der Illyrianer nieder.

Die Armee von Amrath griff an. Marith wie ein schimmernder Diamant an ihrer Spitze.

Tötet ihn, schrie Tobias innerlich.

»Tobias«, sagte Raeta. »Du kannst gehen. Tu es. Möglicherweise habe ich dich nur verzaubert, damit du am Leben bleiben willst«, fügte sie hinzu. »Hast du schon mal darüber nachgedacht?«

Die illyrianischen Linien brachen zusammen vor dem Ansturm. Wurden zerlegt und zerschmettert. Die Armee von Amrath eilte weiter. Jeder hatte nur einen Gedanken. Töten.

Tötet sie. Jeden einzelnen dieser kranken, vergifteten, widerlichen Mistkerle. Ich weiß, was sie sind und was sie fühlen, dachte Tobias. Sie dürfen nicht länger am Leben bleiben.

Tobias stellte fest, dass er den Hügel hinabrannte, um sich den illyrianischen Soldaten anzuschließen. Du kannst das nicht tun, schrie ein Teil seines Verstandes. Keiner, der noch bei Verstand ist, würde so etwas machen. Man legt sich nicht mit einem trunk- und drogensüchtigen, vom Tode besessenen, unverletzlichen Dämon an. Altes, geheimes Söldnerwissen. Er zog im Rennen sein Schwert. Die Armee von Amrath! Zerstöre sie. Lösch sie aus. Plage. Krankheit. Tollwütige, tobsüchtige, blinde, verderbende Bestie.

»Tobias!«, kreischte Landra hinter ihm. »Tobias! Bitte nicht!«

Er kam dem Kampf näher und immer näher. Die zerstörten Mauern ragten um ihn herum auf. Ein Schatten verdeckte die Sonne. Tobias stürzte sich in die Schlacht. Hackte und schlug auf bronzegerüstete Soldaten ein. Rief: »Marith! Marith!«, als könnte der Junge ihn hören und würde kommen, um sich ihm zu stellen.

Vom wolkenlosen blauen Himmel regnete es Blut.