Landra stolperte zwei Schritte hinter Tobias her. Blieb stehen. Sah ihm nach. Starrte die Kämpfenden an. Sie konnte Marith spüren. Schimmernd. Erneut hob er sein Schwert, und die Klinge blitzte auf. Seine Stimme hallte laut wie das Ende aller Dinge über das Land.
»Tobias!«, schrie Landra verzweifelt. »Komm zurück!«
»Lass ihn«, sagte Raeta.
»Er wird sterben!«
»Warum sollte er sonst hergekommen sein?«
»Er kam, um Marith zu töten.«
»Er kam, um zu sterben, Landra. In der Gewissheit zu sterben, dass er etwas Sinnvolles getan hat. Du jedoch kamst her, weil du leben willst. Also begleite mich. Dort hinunter. Jetzt.«
Sie liefen den Hügel hinab. Hitze stieg vom Schlachtfeld zu ihnen empor. Die Luft schmeckte nach Asche und salziger Gischt.
Die Ruinen von Ethalden griffen vor ihnen nach dem Himmel. Hier, dachte Landra. Das Haus meines Ahnen Amrath. Das Haus meines Gottes. Wir müssen hineingehen, dachte sie. Zwischen die Mauern. Durch das Schlachtfeld.
Mariths Soldaten breiteten sich aus, hielten auf die Festung zu. Sie sah entsetzt mehrere bekannte Gesichter innerhalb von Mariths Reihen: Lord Stansel auf seinem hohen, kantigen Sattel, Lord Erith, Osen Fiolt, der sein Schwert schwenkte. Sie knirschten mit den Zähnen, hatten Speichel auf den Lippen, Blutgier im Gesicht. So viele. So viel mehr als die illyrianischen Soldaten, so wie es auch mehr Tote als Lebende gab.
Wären die Illyrianer klug gewesen, hätten sie sich zwischen den eingestürzten Mauern verschanzt, dachte Landra.
Geduckt und zitternd näherten sie sich. Die eingestürzten Türme von Ethalden leuchteten im Sonnenlicht. Färbten sich rot, als der rote Regen herabfiel. Schatten tanzten um die Türme. Landra hatte den Eindruck, als würden sie singen. Die Schatten und die Ruinen. Als würden sie vor Freude singen.
Der Schatten der Türme fiel auf die kämpfenden Illyrianer. Dunkle Schatten. Kalte Schatten. Wären die Illyrianer klug gewesen, dann hätten sie vermieden, dass sich die Ruinen zwischen ihnen und der Sonne befanden, dachte Landra.
»Komm«, zischte Raeta. Ihr Gesicht war weiß wie der Tod. Sie umklammerte ihre Schulter, als müsse sie verhindern, dass ihr Körper auseinanderfiel. Schimmernd, ins Nichts vergehend, eintausend Gesichter starrten durch ihr Gesicht, Zähne, Hörner, Klauen, Wurzeln, Blumen, Flügel. Geduckt und schlurfend. Sich auf der falschen Zahl an Beinen fortbewegend. Sie versuchten, die Kämpfenden zu umgehen, und waren daher gezwungen, nah am Meer und der Küste zu laufen. Das Wasser brodelte noch immer, rang mit sich. Gewaltige Meeresbestien, die einst ganze Kriegsschiffe verschlungen hatten, starben in den tosenden Wellen. Das Ufer lag voller Leichen, die bereits verwesten. Die verfluchte Ascheerde von Ethalden nahm ihresgleichen in sich auf. Aufgeblähte Leichen ertrunkener Illyrianer. Sterbende Meeresbestien, die nach Wasser verlangten. Erstickten. Eingerissene Fischschuppenhaut. Die Männer der Weißen Inseln grinsten. Honigsüße Freude in ihnen, als sie starben.
Ein Mann rannte vor ihnen über den Strand. Er war nackt. Mit Blut bedeckt. Hielt den abgetrennten Kopf eines anderen in den Händen. Dann blieb er stehen, hob den Kopf hoch, küsste ihn. Legte ihn auf die Asche, schrie: »Tod!« Rannte von ihnen weg. Warf sich auf zwei mit Schwertern bewaffnete Männer, die ihm in den Weg traten.
Sie rollten über den Boden. Stechend. Kratzend. Nackte Hände gegen Klingen aus Metall.
Lustvolles Stöhnen, als er starb.
Landra wandte sich ab. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an.
Tobias hieb auf sie ein. Die Armee von Amrath, verflucht sollte sie sein, verdammt, in Stücke zerfetzt! Er hieb mit seinen Schwertern zu, hackte, bohrte, schlug, stach, vernichtete sie, riss sie entzwei, diese Krankheit der Welt, vermaledeiter Ruin, vermaledeiter Tod. Plage. Madenwesen. Kranker, böser Dreck, der es nicht verdiente zu leben.
Die Armee von Amrath wollte den Tod? Er würde ihn ihr geben. Oh ja, verdammt noch mal.
Ein Schwert in jeder Hand. So hatte er noch nie zuvor gekämpft. Eine verrückte Kampfweise. Aber auch sehr, sehr amüsant. Schlachte sie alle ab. Erstich sie, zermalme sie zu blutigem Brei. Dreck und Abschaum und Pestilenz. Kranke Mistkerle allesamt. Sie hatten es nicht verdient zu leben. Töten und töten und töten, und, bei den Göttern, wie hatte er das vermisst. Er war Soldat. Er hatte es so vermisst, zu kämpfen und zu töten.
Die Illyrianer warfen sich der Armee von Amrath entgegen. Die Armee von Amrath stürzte sich auf sie. Männer auf beiden Seiten stöhnten ekstatisch, während sie töteten und im Kampf starben. Herrliche Kampfeslust! Sie strömte auch durch Tobias’ Adern. Keuchen, Leidenschaft, töten, schwitzen. Oh, wie wundervoll! Oh, es ist wie nichts, was man sich auch nur ausmalen könnte! Und dieses Mal etwas ganz Besonderes, weil es in verdammter Rechtschaffenheit und auf der tugendhaften Seite geschah. Ein Schwert in jeder Hand. Kämpfen wie ein Verrückter. Was für ein Spaß! Töte jeden einzelnen der kranken, vergifteten, elenden Mistkerle. Die Armee von Amrath! Vernichte sie. Lösch sie aus. Töten! Töten! Töten!
Die Menschen glauben, ihnen würde etwas am Leben liegen. Aber tief in ihrem Inneren ist das, was ihnen wirklich wichtig ist, das Töten und der Tod.
Landra stolperte am Rand der Kämpfe entlang. Vier illyrianische Soldaten liefen mit brennenden Gesichtern an ihr vorbei. Schwarz wie die Nacht. Schwarze Wolken. Roter Regen fiel zischend auf ihre Verbrennungen.
Ein Strahl aus weißem Licht traf die illyrianischen Soldaten.
Schon waren sie verschwunden.
Einfach nicht mehr da.
Du hast mit einem Schwertmeister geübt, dachte Landra. Du hast vor Skerneheh einen Mann getötet. Dein Vater hat Männer in seinen Hallen bewirtet, damit sie ihm treu ergeben bleiben und für ihn in den Krieg ziehen. Für ihn töten. Für ihn sterben.
Hierfür.
»Hier entlang! Komm!«
Sie folgte Raeta und musste rennen. Raeta zitterte am ganzen Körper, war immerzu in Veränderung. Trieb Äste und Gliedmaßen aus. Raeta war groß wie eine Riesin. Raeta humpelte und konnte kaum laufen. Sie wären beinahe über eine Gruppe von Soldaten gefallen, die sich in eine Mulde hockten und neu formierten. Mariths Soldaten, den roten Abzeichen nach. Raeta erstrahlte golden, und der ganze Haufen war tot. Wie die Illyrianer. Einfach weg.
»Hier entlang! Hier entlang!« Raeta war wie besessen. Schaum klebte an ihren Lippen. Die Ruinen ragten vor ihnen empor. Zu ihrer Linken erschütterte eine Explosion das Schlachtfeld. Ein tausendstimmiger, markerschütternder Schrei.
Raeta schrie ebenfalls. Zeigte. Entsetzen. Gebrochene, verzweifelte, endlose Trauer.
Der Drache schoss feuerspeiend über sie hinweg. Eiter und Maden rieselten von seinen Flügeln herab. Er brüllte vor Schmerzen. Brüllte triumphierend. Flog weit aufs Meer hinaus, senkte den Kopf, ließ die See weiß kochen.
»Er war tot«, flüsterte Raeta. »Er war tot.«
Der Drache raste erneut über sie hinweg. So nah, dass Landra die Wärme spüren konnte, die er ausstrahlte. Die Bewegungen seiner Flügel. Blut und Eiter tropften aus seinem Bauch. Landras Haut verbrannte an den Stellen, an denen sie getroffen wurde. Ein Flammenstrahl schoss nach oben. Blutrotes Feuer erhellte den kochenden schwarzen Himmel.
»Ich dachte wirklich, er wäre tot«, wisperte Raeta.
Närrin, dachte Landra.
»Hier entlang! Hier entlang!« Sie rannten über das Schlachtfeld. Mussten einem anstürmenden reiterlosen Pferd ausweichen. Landras Herz fühlte sich an, als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie konnte nicht mehr. Konnte nicht weiterlaufen. Fast wäre sie gestürzt, Raeta musste sie an der Hand festhalten und stützen. Der Boden wackelte wie bei einem Erdbeben. Der Drache stürzte ab. Ging wie der Anbruch der Nacht auf das Schlachtfeld nieder. Schreie. Klirrendes Metall. Bronze, Eisen und Knochen schmolzen, zerbrachen, barsten unter seinem Gewicht. Er drehte sich jaulend herum. Spie abermals Feuer. Die Mauern der Festung bebten. Der Drache riss das Maul weit auf und verschlang unzählige Illyrianer.
»Hier entlang!« Sie stolperten weiter, rannten gebückt, Raeta wehrte einen blutbedeckten Schwertkämpfer mit einem Lichtstrahl ab.
Die Mauern von Ethalden ragten vor ihnen auf. Keuchend blieben sie vor der eingestürzten Ruine eines gewaltigen Tores stehen.
Zertrümmern, schneiden, hacken, schlagen, stechen, töten. Töte die Mistkerle! Ein Schwert in jeder Hand. Bluttriefende Klingen. Lass keinen von ihnen am Leben! Sie verdienen es nicht zu leben! Er schlägt und trifft und verfehlt und trifft und schneidet und tötet sie. Eine Krankheit. Sie sind eine Krankheit, die ausgelöscht werden muss. Laufen und stechen und töten und verfehlen und töten.
Ein illyrianischer Schwertkämpfer trat neben Tobias. Er humpelte stark, konnte den rechten Arm nicht mehr bewegen, umklammerte mit der Linken einen Schwertgriff. Verrückte, verdrehte Augen in seinem Leichengesicht. Stücke der Gehirnmasse eines anderen liefen daran herunter.
»Wir halten stand«, rief ihm der Schwertkämpfer keuchend zu. »Wir schaffen das. Wir müssen es schaffen. Es wird uns gelingen.«
Ein Reiter griff sie an. Tobias sprang zur Seite. Sein ganzer Körper protestierte. Der illyrianische Schwertkämpfer ging durch einen Schwerthieb zu Boden. Sein Kopf rollte über die Erde und wurde von einem Pferd zertrampelt.
Hacken und schlitzen und spucken und töten und verletzen. Töte sie. Töte sie. Töte sie. Kranke, verseuchte Wesen. Sie haben es nicht verdient zu leben.
Maden. Dreck. Gift. Töte sie.
Oh, bei den Göttern. Bei den Göttern.
Was für ein Spaß.
Landra geriet ins Stolpern, als sie sich dem Tor näherte. Das Haus ihres Ahnen, ihres Gottes. Die gewaltige Macht der Festung setzte ihr zu. Schrie sie an. Schlug auf sie ein, geifernd und gierig, voller Verlangen, Hass und Begierde. Sie ging in die Knie, kroch zitternd und vor Angst stöhnend weiter. Eine Hand vor die andere, mühsame Bewegungen. Die Steine, aus denen das Tor errichtet worden war, schienen auf sie herabzublicken. So viel Grausamkeit. So viel Hass. So viel Schmerz.
»Komm mit, Landra«, rief Raeta ihr zu.
»Ich kann nicht … kann nicht … Eltheia … hilf mir, sei gnädig …«
»Sprich ihren Namen hier nicht aus! Du kannst und du wirst weitergehen!«
»Ich kann nicht … Bitte …«
»Du kannst.« Raeta lachte sie beinahe aus. »Sein Tod oder unser Tod. Was willst du sonst tun, hier rumsitzen und warten, bis er gekrönt wird?«
Landra schleppte sich auf dem Bauch weiter. Presste das Gesicht auf den verbrannten Boden. Robbte vorwärts, mit den Ruinen über sich, unbarmherzig, niederschmetternd. Bleib einfach liegen. Bleib liegen und stirb. Selbst mit geschlossenen Augen sah sie die schimmernden Steine. Ganz langsam schob sie sich über den Stein vorwärts. Weiter. Immer weiter. Na los. Streckte eine Hand aus und versuchte, sich mit den Fingerspitzen vorzuziehen. Die Steine bebten wieder, Staub rieselte auf sie herab. Das Torhaus schwankte. Weiter. Immer weiter. Na los. Na los. Die Ruinen wackelten. Lautes Gebrüll. Schreie. Ich kann nicht, dachte sie. Ich kann nicht. Die Luft um sie herum heulte. Amraths Haus. Ihr Vorfahre. Ich kann da nicht reingehen. Ich kann nicht. Er ist da. Amrath. Er ist da drin. Seine Knochen. Sein Körper. Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Hacken und stechen und treffen und verfehlen und töten. Sein ganzer Körper war nass von Blut.
»Es ist nicht ihre Schuld, dass sie für ihn kämpfen«, hatte Landra eines Abends gesagt, als sie die Lagerfeuer der Armee von Amrath in der Ferne flackern sahen. An diesem Tag waren sie auf eine Grube voller noch lebender, zuckender, zerhackter Illyrianer gestoßen. »Er befiehlt ihnen, das zu tun. Er ist ihr König. Er herrscht über sie. Sie folgen ihm. Nicht gegen sie sollten wir kämpfen, sondern gegen ihn.«
»Sie könnten sich weigern«, hatte Tobias erwidert. »Sie könnten die Waffen niederlegen. Weggehen.«
»Könnten sie das?«
Treffen und zerschmettern und hacken mit einem Schwert in jeder Hand, und sie fielen sterbend zu Boden. Sie könnten weggehen. Sie könnten verdammt noch mal einfach weggehen, wenn sie das wollten. Sie alle wussten, was Marith war.
Hacken und töten und zerschmettern und treffen und verletzen und töten.
Die Augen fest zugekniffen, und dennoch sah sie Schatten. Tobend und zuckend. Die Erde zerrte an ihr. Diesem schwachen, armseligen, wurmgleichen Ding.
»Komm schon«, flehte Raeta sie an. »Komm. Bitte, Landra.«
Eine Stimme aus der Ferne. Wie im Traum. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht mehr.
Sie zog sich vorwärts. Streckte die Hände aus. Zog sich mit den Fingern über den verbrannten Boden aus Asche und Stein.
»Komm schon. Komm schon.«
Die Last fiel von ihr. Sie schlug die Augen auf.
Sie hatte das Tor durchquert. War in den Ruinen von Ethalden.
Der Drache kroch über das Schlachtfeld. Riss den Boden unter sich auf. Sein Blut zerstörte die Steine darin. Er spuckte Feuer. Tötete alles, was er traf. Das Meer kochte. Wellen schlugen ans Ufer. Zerbrachen Knochen. Die silbernen Lichter am Himmel wurden blasser. Wie Sterne, wenn der Morgen anbricht. Verschwanden nach und nach. Wie eine erlöschende Kerzenflamme, wenn die letzte lebende Person das Totenzimmer verlässt. Feuer und Bronze und Eisen. Tobias tötete und tötete und tötete und tötete. Tod. Mord. Gemetzel. Töten. Lust. Schmerz. Tod. Liebe. Alles ging sterbend zu Boden. Nur Asche. Nur Dunkelheit. Staub. Knochen. Blut. Leichen. Ruin.
Spaß. Bei den Höllen.
Das macht dir verdammt großen Spaß, nicht wahr?