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Tobias entdeckte sie. Er bog um die Ecke und sah: Landra. Raeta. Thalia. Amraths Knochen.

 

Landra hob den Kopf und bemerkte Tobias. Sein Gesicht, als er Thalia sah. Sein Gesicht, als er die Knochen sah.

»Thalia, Mädchen …«, begann Tobias unsicher. »Thalia, Mädchen …«

»Du hättest mich einfach in Ruhe lassen sollen«, sagte Thalia mit brechender Stimme. Sie wirkte dünner. Älter. Die Knochen an ihrem Hals und ihren Handgelenken waren deutlich zu erkennen. Eine dicke Diamanthalskette lag um ihren Hals. Wie ein Halsband, dachte Landra. Ein Halsband für eine Sklavin. Oder einen Hund. Thalia legte eine Hand auf ihren Bauch, ihren linken Arm, abermals ihren Bauch.

»Du bist eine Närrin, Mädchen«, erklärte Tobias. »Das habe ich dir schon unzählige Male gesagt.«

»Ich bin die Königin der Weißen Inseln und von Ith und Illyr und Immier und der Ödnis und des Bittermeeres. Die Königin von Ganz Irlast.«

»Und, war es die Sache wert?«, wollte Tobias wissen. »All diese Leben, nur damit du das sagen kannst? Ist er wirklich so gut im Bett, dein hübscher König Kotze? Hat er dir diese Kette geschenkt und das schöne Kleid? Ich habe dich gewarnt, Mädchen.«

»Ich bin die Königin der Weißen Inseln und von Ith und Illyr und Immier und der Ödnis und des Bittermeeres. Die Königin von Ganz Irlast. Mein Leben ist voller Wunder. Wunder und Wonnen und Macht und Liebe. Der Preis dafür … Warum sollte er mich scheren?« Thalias Hand wanderte von ihrem Arm zu ihrem Bauch zu ihrer Halskette. »Du hast die Welt für weit weniger verkauft als ich, Tobias. Eine Handvoll Münzen. Einen Augenblick, in dem du dir eingeredet hast, dein Leben wäre lebenswert. Das war dein Preis.«

Tobias öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und stieß ein heiseres Krächzen aus.

»Wieso glaubst du noch immer, ich wäre bloß blind vor Liebe zu ihm?«, fragte Thalia.

Raeta schrie etwas. Es war ein hasserfüllter Schrei ohne menschliche Worte. All ihre Gesichter verzerrten sich vor Hass. Ihr ganzer Körper schlug zu, Zähne, Flügel, Hörner, Klauen. Sie warf sich auf Thalia. Riss sie mit sich zu Boden.

 

Männer kamen mit gezückten Schwertern angerannt. Thalias Wachen? Sie griffen Raeta an, die mit Thalia rang. Tobias trat ihnen entgegen. Vier gegen einen. Tobias stand mit dem Rücken an einer Säule. Ein Schwert in jeder Hand, sich verteidigend, einfach nur kämpfen, kämpfen, in der aussichtslosen Hoffnung, am Leben zu bleiben.

Goldenes Licht drang aus Thalia hervor. Goldenes Licht verschluckte Raeta. Umgab sie. Goldenes Licht, warm, sanft und tröstlich wie die Morgensonne. Goldenes Licht wie Schmiedefeuer, Waldbrände, die grelle, sengende Wüstensonne, Licht ohne Schatten, das jeden Makel und jeden Fehlschlag eines Lebens erhellte.

Raeta kreischte. Der Schmerz in ihrer Stimme entbehrte jeglicher Menschlichkeit. Sie warf Blätter und Äste und Klauen und Flügel von sich. Es duftete nach Früchten und Blumen. Goldenes Licht waberte über ihren Körper und verbrannte sie. Tobias stand mit dem Rücken an der Säule und verteidigte sich verzweifelt.

Die Knochen ihres Gottes lagen vor ihr. Sein leerer, starrender Schädel. Der zertrümmerte Brustkasten, wo der Drache, sein Bruder, auf ihn gestürzt war. Ein Silberring auf seinen Handknochen.

Landra beugte sich vor. Kroch los.

 

Tobias kämpfte, versuchte nicht einmal, sie zu verletzen, sie anzugreifen, wollte sie nur abwehren, nur einen Augenblick länger am Leben bleiben, nur leben. Das Leben ist ein Haufen Scheiße. Das Leben ist ungerecht und sinnlos und tut weh. Das Leben ist eine lange, qualvolle Art zu sterben. Aber ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben! Eine Stichwunde in seiner Schulter. Ein Schnitt auf seinem Arm. Schwerter in beiden Händen, und er zittert so sehr, dass die Schwertklingen nutzlos sind. Bleib einfach am Leben. Bleib einfach am Leben. Bleib einfach am Leben. Ein Hieb traf ihn im Gesicht. Seine Knie gaben nach. Ich will nicht sterben. Ich sterbe. Ich will nicht sterben. Ich will weiterleben.

 

Landra schließt die Hand um Knochensplitter. Tot und trocken unter ihren Fingern. Ihre Hände trocken und mumifiziert. Vergiftet. Das Leben wird aus ihr herausgesaugt. Sie glaubt, geblendet zu sein. Krallt sich fest, kann nichts sehen, nichts mehr spüren. Blasphemie. Missachtung. Das ist ihr Gott.

Raeta stirbt. Tobias stirbt. Tobias versucht mit erhobenen Armen, Schwertschläge abzuwehren.

Die trockenen Knochen zerfallen unter ihren Fingern.

Der Ring gleitet problemlos in ihre Hand.

 

Tobias kämpft stirbt kämpft stirbt kämpft stirbt kämpft stirbt kämpft.

Und dann stockt alles. Die Männer, die ihn töten. Thalia, die Raeta tötet. Alles.

Landra steht vor ihnen. Landra hält einen Ring mit einem Dämon darin in der Hand. Das Einzige, was Amrath gefürchtet hat. Das Einzige, was ihn zerstören kann.

 

Landra hält einen Ring mit einem Dämon darin in der Hand. Und sie kann ihn spüren. Den Hass. Den unbändigen Hunger. Eine Kreatur der Rache. Ein Wesen, das einzig und allein töten will.

Sei nicht auf Rache aus, hatte Ru gesagt.

Thalia ist so schön, dass sie sie nicht ansehen kann. Raeta ist gewaltig wie die Sterne. Tobias stirbt. Landra steht inmitten der verbrannten, toten, zu Staub zerfallenden Knochen ihres Gottes und hält einen Ring mit einem Dämon darin in der Hand.

Landra reicht Raeta den Ring.

»Aber der Dämon ist schlimmer«, flüstert Landra. »Schlimmer als er.«

 

Raeta nimmt Landra den Ring ab. Tobias kann kurz ihr Gesicht erkennen und sieht, dass sie furchtbare Angst hat.

»Der Dämon ist schlimmer als er«, flüstert Landra.

»Ja«, sagt Raeta. »Aber er muss vernichtet werden. Um jeden Preis. Sein Tod ist alles, was hier und jetzt zählt. Sein Tod.«

Raeta lodert hell und leuchtend, Blumen und Früchte, Blätter und süße, frische Sommererde. Die Luft bebt wie ein Donnerschlag.

Der Gabeleth bricht aus.

 

Weiß und blass wie Holzrauch. Flussnebel. Stark und dicht hängt der Nebel vor ihren Augen. Eine zuckende Männergestalt. Lange Männerarme. Ein Männergesicht.

Riesig.

 

Rufe auf dem Schlachtfeld. Schreie. Sogar Jubel? Aber die Armee von Amrath hat natürlich schon Dämonen und Drachen gesehen. Was immer es ist, es kann nichts sein, wovor man sich fürchten muss. Ein zuckendes weißes Ding erhebt sich, reißt das Maul auf, streckt lange Arme aus. Blut umrandet seine Züge. Augen und Mund sind klaffende Wunden. Hände greifen zu. Von Maden wimmelnde Finger fahren über Landras Haut.

So riesig. Es überragt sie. Raeta, die Lebensgöttin, liegt zusammengebrochen vor seinen Füßen.

Tobias schreit. Nässt sich vor Entsetzen ein. Er sieht es. Kennt es. Eine Kreatur der Rache. Herbeigerufen durch Blutvergießen.

Landra kauert sich zusammen. Von Maden wimmelnde Finger berühren sie. Drücken sie zu Boden. Schmerz, als es sich einen Weg hineinbahnt. Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist tot. Meine Schwester ist tot. Mein Bruder ist tot.

Nein.

Nein. Nein. Nein.

Oh, bei den Göttern, denkt sie, was habe ich freigelassen? Was habe ich getan?

Soldaten rennen herbei. Bluttriefende Rüstungen. Bluttriefende Gesichter. Bluttriefende Gedanken. Sie ziehen schreiend die Schwerter. Fallen davor auf den Boden, winden sich im Staub, wenden den Blick ab. Rache. Blutvergießen. Es verzehrt sie. Vernichtet sie. Dieses Wesen der Rache.

Was habe ich getan? Was habe ich getan?

Soldaten rennen herbei. Gekleidet in abgezogene Menschenhaut. Sie feiern jubelnd ihren Sieg. »Tod und Ruin! Tod und alle Dämonen! Tod! Tod! Tod!« Sie wissen nicht, was sie sagen. Nun erkennen sie die Wahrheit. Tod. Es zerstört sie. Zerreißt sie, zerfetzt sie qualvoll, zerrt ihnen die Herzen heraus, die Augen und die Zungen. Verwandelt sie in nichts. In Fleischklumpen. Fleisch, Blut und Dreck.

Für irgendjemanden endet immer die Welt. Und dies ist Rache. Tod und Ruin. Geistloser, toter, verzweifelter Hass. Verbrenn die Welt. Piss auf die Asche. Das Leben ist eine Illusion. Das Leben besteht nur aus Schmutz und Sterben. Nur Tod und Tod und Tod.

Marith kommt taumelnd näher. Hebt sein Schwert, um zuzuschlagen. Glaubt, er könne es töten. Ein langer, blutiger Kratzer zieht sich über seinen Arm, als die Finger der Kreatur ihn berühren.

Mariths Schwert prallt ab. Er hackt und hackt. Schwankt. Sticht. Schlägt. Starrt die Kreatur verwirrt an. Hilflos. Die Gestalt aus weißem Rauch und Nebel attackiert ihn.

Marith stolpert. Fällt. Stößt einen wortlosen Schrei aus. Versucht noch immer, sein Schwert zu schwingen.

Weiße Finger aus Rauch und Nebel schließen sich um ihn. Ein sehniger Arm legt sich um seine Kehle.

Alles so lautlos. Kein Geräusch. Kein Geruch. Kein Gefühl. Ein Wesen, das gar kein echtes Wesen ist. Ein Nichts aus Rauch und Nebel. Es zerdrückt ihn.

Er stirbt!, schreit eine Stimme in Landras Kopf. Er stirbt! Er ist schon fast tot!

Marith zuckt, schlägt um sich, liegt auf dem verbrannten Boden, umgeben von Rauch und Nebel.

Zähne klaffen im wunden Mund auf. Zähne beißen zu.

Marith schreit.

Kreischende Schatten in der Luft. Sie kreisen und kreisen. Formlos. Keine Flügel, keine Hände, kein Gesicht. Blinde Schattenflecken voller Hass auf die Welt. Sie stürzten sich auf die Kreatur. Zerren daran. Schwarze Schatten, weißer Rauch. Blitze zucken zwischen ihnen. Schwarze Feuerstöße. Marith rollt schreiend und blutend über den Boden. Hände aus Nebel und Rauch zerquetschen seine wunderschöne weiße Kehle.

Sie zerquetschen Marith. Vernichten seine Soldaten. Lassen die Steine seiner Festung einstürzen.

Rache! Rache! Vergeltung für die Toten!

Töte ihn! Töte ihn!

Warmes weißes Licht. Lichtstrahlen wie beim Sonnenaufgang.

Heller als alles andere. Heller als das Leben. Heller als die Sonne.

Thalia hebt die Arme zum Himmel.

Licht strömt aus ihrem Gesicht.

Der Gabeleth erschaudert. Wird vor ihr schwächer. Nebel und Spinnweben. Eine Kreatur aus Hass und Rache. Ein Wesen des Blutes. Des Todes.

Goldenes Licht. Goldene Schatten.

»Geh«, sagt Thalia. Sie leuchtet strahlend hell.

So schwach, der Gabeleth. Ein geschwächtes Wesen des Hasses. Des Nichts. Des Todes.

»Geh.«

Es heult auf. Krallt nach ihr.

Sie steht ganz still.

Es kann ihr nichts anhaben.

Ein schwaches Ding.

Ein Wesen des Nichts.

Verschwunden.

Thalia leuchtet triumphierend. Der Nebel lichtet sich. Der Himmel beruhigt sich. Die Sterne leuchten auf sie herab. Der Drachenschlund. Die Weiße Dame. Der Hund.

Der Königsstern.

Leuchtet.

Marith setzt sich auf. Angeschlagen und verletzt. Röchelnd. Blut im Gesicht. Das Licht der Sterne lässt Mariths Silberkrone glänzen.

Thalia hilft ihm auf.

Thalia sieht Landra an. Und Tobias.

Lächelt.

Seufzt.

Führt Marith weg.

Tobias und Landra bleiben reglos sitzen, sind wie erstarrt.

Raeta liegt neben ihnen tot am Boden.