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Anna Smith-Spark

Das Reich
der zerbrochenen
Klingen

Roman

Cover

Das einst mächtige Kaiserreich von Sekemleth wird von Dekadenz und Verfall bedroht; verfeindete Adelige streiten um die Vorherrschaft, und dazu ist ihnen jedes Mittel Recht. Als der mächtige Fürst Orhan Emereth den Thron des Reiches mithilfe einer Söldnerarmee an sich reißen will, ahnt er nicht, dass sich unter den gekauften Kriegern ein ganz besonderer junger Mann befindet: Marith ist nicht nur auf der Flucht vor seiner Vergangenheit, sondern auch vor seinem Vater, der ihn tot sehen will – und sein Erbe macht ihn zur Schlüsselfigur im Spiel um die Macht.

Dieses Buch ist meinem Vater gewidmet,
der mich mit der Fantasy, der Geschichte
und der Mythologie
vertraut gemacht
und mich das Schreiben gelehrt hat.

Teil I

Bronzemauern

1

Messer.

Überall Messer. Prasseln herab wie Regentropfen.

Um die Sache zu Ende zu bringen, ringen Männer im Schlamm, hacken aufeinander ein, zu erschöpft, um überhaupt noch an etwas anderes denken zu können. Einfach sterben und es endlich hinter sich haben. Die Hälfte kämpft mit aus dem Leib hängenden Gedärmen, nach Kot stinkend und rosa, rote und weiße Flüssigkeiten absondernd. Halb tote Männer liegen im Dreck. Schreiend. Viele schreien.

Man weiß nicht mehr, wer wer ist. Schlamm, Blut und Schatten, das ist alles. Töte sie! Töte sie alle! Töte weiter, bis wir alle tot sind. Das Messer sticht und dreht sich, und der Mann, gegen den er kämpft, fällt zur Seite, während er erleichtert seufzend den letzten Atemzug ausstößt. Ein weiterer ist hinter ihm. Bei den Göttern, seine Arme tun weh. Er hat Kopfschmerzen. Blut in den Augen. Wieder dreht er das Messer und stößt mit einem abgebrochenen Schwert zu, und auch dieser Mann stirbt. Feuer explodiert irgendwo zu seiner Linken. Weiß wie Maden. Lautlos wie Maden. Dann Schreie, als Männer verbrennen.

Er schwingt den Schwertrest und erwischt einen Gegner am Bein; nicht fest, aber fest genug, um den Mann ins Straucheln zu bringen, und schon hockt er mit dem Messer auf ihm. So viel Blut, und der Mann liegt am Boden und ist tot, zuckt noch immer wie ein Fisch, aber man sieht in seinen Augen, dass er am Ende ist, nur seine Beine haben es noch nicht mitbekommen.

Die Sonne geht unter und wirft lange Schatten. Oh, wunderschöner Abend! Sterne gehen an einem Himmel in der Farbe schwärender Wunden auf. Der Drachenschlund. Die Weiße Dame. Der Hund. Ein guter Stern, der Hund. Er bringt Seuchen und Fieber und entfacht das Verlangen. Sein Erscheinen weist auf den nahenden Sommer hin. Dann wären die Kämpfe im verdammten Regen vielleicht vorbei. Feuchtes Leder stinkt. Schlamm stinkt. Kot stinkt, wenn der Latrinengraben überquillt.

Eine weitere Explosion weißen Feuers. Er verabscheut es umso mehr, weil es lautlos ist. Unnatürlich. Nervtötend. Erneute Schreie. So laut, dass einem danach tagelang die Ohren klingeln. Der Himmel weint und heult, und man weiß nicht genau, woher die Schreie eigentlich kommen. Von einem selbst, dem Feind oder etwas anderem.

Männer ballen sich kämpfend zusammen. Er läuft zu einer Stelle, an der zwei Gegner miteinander ringen. Springt einen von hinten an, zerrt ihn zu Boden, spießt ihn auf. Hört das Knacken von Knochen und das leisere, herrliche Nachgeben von Fett und Gedärmen. Von Talg. Der andere schreit heiser auf und schlägt nach ihm. Hat sogar sein Messer verloren. Kämpft mit bloßen Händen. Er duckt sich und tritt fest zu, verliert dabei fast das Gleichgewicht. Der Mann tritt zurück und versucht, ihn in den Würgegriff zu nehmen. Dicht voreinander blecken sie die Zähne. Eine Hand schlägt ihm ins Gesicht, erwischt seine Nase, krallt sich fest. Er beißt hinein. Sie ist dreckig. Voller Schwielen. Metallischer Blutgeschmack dringt ihm in den Mund. Aber die Hand lässt nicht los und drückt sich auf sein Gesicht. Er schluckt und muss ob des Blutes aus der Wunde, die er geschaffen hat, beinahe würgen. Blut und Rotz und Stücke von Menschenhaut. Irgendwie gelingt es ihm, dem Mann das Messer in den Oberschenkel zu rammen. Nicht tödlich, aber die Hand verschwindet aus seinem Gesicht. Er schlägt zu und erwischt seinen Gegner an der weichen Stelle der Kehle, zieht das Messer heraus und sieht auf dem Schlachtfeld zu den Gestalten hinüber, die aufeinander einhacken, während die Erde unter ihnen verfault. Sie kämpfen schon seit einer Ewigkeit. Alles wurde stumpf. Schwerter, Messer und der Verstand. Weitertöten. Weitertöten. Immer weitertöten, bis wir alle tot sind.

Und dann ist er tot. Eine Klinge trifft ihn in die Seite, an der Schwachstelle unter der Schulter, an der seine Rüstung nachgiebig ist, damit er sich bewegen kann. Sie wird tief hineingestoßen und gedreht. Zielt nach unten. Eine tödliche Wunde. Er hört, wie sein Körper aufgerissen wird. O Götter. O Götter und Dämonen. O Götter und Dämonen und Scheiße. Er wirbelt herum und schlägt den Mann, der ihn getroffen hat. Die Gestalt vor ihm ist ein Geist, scharlachrot von Blut und mit gespaltenem Schädel, aus dem Hirnmasse quillt. Du stirbst, denkt er. Du stirbst, und du hast mich getötet. Das ist nicht gerecht.

Schatten wirbeln um sie herum. Wir sterben alle, stellt er fest, auf die eine oder die andere Weise. Nur, dass einige von uns schneller sterben als andere. Man kämpft, und man stirbt. Und immer stehen bereits zwanzig Männer hinter einem Schlange.

Warum müssen wir sterben oder ziehen in Kriege,

Des Lebens Sinn … Alles eine Lüge!

Tod! Tod! Tod!

Das begreift er besser, als er je etwas verstanden hat, es ist greifbarer als sein eigener Name.

Aber auf einmal, nur für einen Augenblick, ist er sich nicht sicher, dass er sterben will.

Stille legt sich über das Schlachtfeld. Er blinzelt und sieht Licht.

Eine Gestalt in silberner Rüstung. Weiß, schimmernd, strahlend hell wie die Sonne. Ein roter Umhang weht im Wind. Rein und makellos bewegt sie sich durch die Reihen der Toten und Sterbenden und lässt ihr Licht auf sie fallen.

»Amrath! Amrath!«, flüstern Stimmen, die an den Wind erinnern, der über die Salzmarsch weht. Stimmen wie Vogelgezwitscher. Hier, unter uns, hell wie Sommertau.

»Amrath! Amrath!« Die Schatten weichen, als die Gestalt vorbeigeht. Es gibt nur noch Licht.

»Amrath! Amrath!« Die Männer jubeln im Einklang. Es gibt keine Seiten mehr, nur noch Männer, die starren und jubeln, als die Lichtgestalt an ihnen vorbeischreitet. Er fällt mit ein, bis seine Kehle brennt. Allein der Anblick schenkt ihm neue Kraft. Er ist nicht länger erschöpft, verwundet, dem Tode nahe, sondern geheilt und stark.

»Amrath! Amrath!«

Die Gestalt bleibt stehen. Sieht sich um. Sucht. Findet. Ein dunkel gekleideter Mann springt vor und taumelt ins Licht. Schwankt und beugt sich zu der Gestalt hinüber. Zieht ein von blauen Flammen umspieltes Schwert.

»Amrath! Amrath!« Eine raue Stimme, wie die einer Krähe. Herausfordernd. »Amrath!«

Er sieht freudig zu. Wie wunderschön! Starrt gebannt hin, und nichts hat Bedeutung außer dem Strahlen seines Gottes.

Die Lichtgestalt zieht ein Schwert, das glänzt wie alle Sterne, der Mond und die Sonne. Ein einzelner Rubin ist im Griff eingelassen. Die dunkle Gestalt stürmt vorwärts und brüllt etwas. Mit lautem Krachen prallen die beiden aufeinander. Weißes Licht und blaues Feuer. Blaues Feuer und weißes Licht. Seine Augen tun beim Zusehen fast schon weh. Aber er kann den Blick nicht abwenden. Die beiden kämpfen gegeneinander. Wie eine flackernde Kerze. Wie die Abendsonne über dem Meer. Blaues Feuer lodert auf, umgibt alles, die glänzende Silberrüstung ist in Flammen getaucht. Metall trifft auf Metall, Funken fliegen wie auf dem Amboss eines Schmiedes. Die leuchtende Gestalt tritt einen Schritt zurück, pariert, schlägt zu. Ihr Gegner fängt den Hieb ab. Brüllt. Jault. Lacht. Die Magierklinge durchschneidet erneut die Luft und zieht eine Spur aus blauem Feuer hinter sich her. Ein blauer Bogen im Abendlicht. Formen und Worte, geschrieben in Luft. Worte des Todes. Worte der Schmerzen. Worte der Hoffnung, der Furcht, der Verzweiflung. Die Lichtgestalt pariert ein weiteres Mal, das Silberschwert flimmert unter der Wucht des Hiebes. So strahlend, dass auf dem Boden darunter Regenbögen tanzen. Wie das Haar einer Frau, das im Sommerregen zurückgeworfen wird und Regentropfen durch die Luft schleudert. Wie fallender Schnee. Wie farbige Sterne. Die beiden Kämpfer tauschen die Position, treten in die Fußstapfen des Gegners. Treten in den Schatten des anderen. Umkreisen sich wie Vögel.

Das Silberschwert blitzt auf, als es hochgerissen und nach unten gestoßen wird, und der andere taumelt nach hinten und blutet aus dem Hals. Das Blut spritzt regelrecht hervor. Die blaue Flamme erlischt.

Er jubelt, und sein Herz schmerzt, da es vor Freude dem Bersten nahe ist.

Die Lichtgestalt dreht sich um. Sieht die Männer an, die sie beobachten. Sieht ihn. Schreit. Dinge erwidern den Schrei und bringen die Welt zum Erzittern. Das Silberschwert zuckt durch die Luft. Fünf Männer. Zehn. Zwanzig. Ein Leichenhaufen. Er sieht dem Sterben gebannt zu. Diese Schönheit. Das Schönste, was er je erblickt hat. All das Töten und so eine vollkommene Freude. Sein Herz quillt über. Es frohlockt. Das, oh ja, das ist es, wofür alle Männer geboren werden. Er schreit als Antwort, stirbt, wirft sich den Feinden seines Gottes entgegen, mit Messer und Schwert, mit Nägeln und Zähnen.

Warum müssen wir sterben oder ziehen in Kriege,

Des Lebens Sinn … Alles eine Lüge!

Tod! Tod! Tod!

2

Das Gelbe Reich … ich kann es beinahe erkennen. Ja. Es ergibt Sinn.«

Die dunkelgelbe Wüste, durchzogen von zerbröckelnden gelbgrauen Felsen und schäbigen gelbbraunen Dornbüschen. Mattgelber Himmel, tief hängende gelbe Wolken. Selbst die Haut und die Kleidung der Männer wurden gelb und waren fleckig von Schweiß und Sand. Es war so verdammt heiß, und vor Tobias’ Augen sah eigentlich alles gelb aus. Trocken und staubig und gelb wie Galle und alte Knochen. Das Gelbe Reich. Die berühmte goldene Straße. Das berühmte goldene Licht.

»Wenn ich den Rest meines Lebens knietief in schwarzem Schlamm stecken muss, würde ich als glücklicher Mann sterben, behaupte ich jetzt mal«, sagte Gulius und spuckte in den gelben Sand.

Rate kicherte. »Und es ist offensichtlich, wie sie all das Geld verdient haben. Staub ist wertvoll. Aber irgendwie hänge ich noch daran, da es eine erfrischende Abwechslung zu Kuhdung ist.«

»Ja, das ging mir auch schon durch den Kopf. Wenn dies das Herz des wohlhabendsten Reiches ist, das es jemals auf der Welt gab, dann bin ich eine der Kühe von Rates Vater.«

»Ein auf Sand gebautes Reich … klingt poetisch.«

»Weil man mit Poesie auch so viel Geld verdienen kann.«

»Sie sind nicht die Kühe meines Vaters, sie gehören meinem Vetter. Mein Vater kümmert sich nur um sie.«

»Ich tippe auf Magie«, schaltete sich Alxine ein. »Mysteriöse arkane Kräfte. Sie wedeln mit den Händen, und der Staub verwandelt sich in Gold.«

»Ich habe in Alborn mal jemanden gesehen, der das konnte. Er hat Eisenpfennige in Goldmark verwandelt.«

Rate riss die Augen auf. »Wirklich?«

»Oh ja. Aber er konnte kein zweites Mal in einem Geschäft einkaufen und musste seinen Namen ständig ändern …«

Sie kamen an einen schmalen Fluss und machten halt, um zu trinken und ihre Wasserschläuche aufzufüllen. Das Wasser war warm und schmutzig und schmeckte nach Ziegendung. Nachdem sie fast fünf Stunden lang marschiert waren, fühlte es sich dennoch herrlich auf der Haut an und rann ebenso die Kehle hinunter.

Fließendes Wasser, einige kleine Steine, auf denen man sitzen konnte, zwei größere, die Schatten spendeten. Was konnte sich ein Mann im Leben mehr wünschen? Tobias besprach sich mit Skie.

»Wir werden hier eine Weile rasten, Männer. Esst zu Mittag. Ruht euch aus. Warten wir, bis die schlimmste Hitze vorüber ist.« Wenn es noch heißer würde, liefen sie Gefahr, mit schmelzenden Schwertern herumzulaufen. Die Männer jubelten. Kochtöpfe wurden gefüllt und Äste gesammelt; Gulius machte sich daran, wässrigen Haferbrei zu kochen. Der neue Junge, Marith, wurde losgeschickt, um ein Loch für die Latrine zu buddeln. Tobias setzte sich und streckte die Beine aus. Er schloss die Augen. Kühle dunkle Schatten und der Geruch von Wasser. Herrlich.

»Was denkt ihr, wie lange es noch dauert, bis wir da sind?«, wollte Emit wissen.

Himmel, mussten sie ihn das ständig fragen? Tobias schlug die Augen wieder auf und seufzte. »Ich habe keine Ahnung. Frag Skie. Ein paar Tage? Eine Woche?«

Rate grinste Emit an. »Bist du den Sand etwa schon leid?«

»Ich sterbe vor Langeweile, wenn ich nicht bald etwas anderes als Sand und dein Gesicht sehe.«

»Ich habe vor einigen Stunden eine Ziege gesehen. Was willst du denn noch? Und es war auf jeden Fall eine Ziege und kein Bock, lass dir das vor deiner Antwort gesagt sein.«

Sie waren seit fast einem Monat unterwegs. Vierzig Mann, leicht bewaffnet und nur dürftig gerüstet. Keine Pferde, keine Bogenschützen, kein Magier oder dergleichen. Und kein Arzt, auch wenn sich Tobias damit brüstete, ein brauchbarer Feldscher und Wundheiler zu sein. Sie waren nur vierzig Männer in der Wüste, die gen Westen in Richtung der untergehenden Sonne marschierten. Ihr Ziel war nahe. Die Götter allein wussten, was sie dort erwartete. Das reichste Imperium, das die Welt je gesehen hatte. Oder gelber Sand.

»Gar nicht so übel«, meinte Alxine und kratzte die letzten Haferschleimreste aus seiner Schüssel. »Dank der Schlammklumpen schmeckt es anders als das Zeug, das wir zum Frühstück hatten.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das Schlamm ist …«

»Und ich will es eigentlich gar nicht genau wissen.«

Sie trugen den sehr fantasievollen Titel Freie Kompanie des Schwertes. Es war ein alter Name, wenn nicht gar ein berühmter. Wohlbekannt in gewissen politischen Kreisen. Tobias hatte schon mehrmals vorgeschlagen, ihn zu ändern.

»Der Sand verleiht dem Ganzen auch eine interessante Konsistenz. Es knirscht so schön zwischen den Zähnen.«

»Das hast du gestern auch gesagt.«

»Und ich werde es morgen vermutlich wieder sagen. Ebenso übermorgen. Wahrscheinlich werde ich mir noch als alter Mann Sand aus den Zähnen pulen.«

»Und auch aus anderen Stellen.«

»Das, mein Freund, ist etwas, worüber ich lieber nicht nachdenken möchte.«

Die heiße gelbe Erde und die heiße gelbe Luft sorgten dafür, dass alles andere nebensächlich wurde. Wasser. Essen. Wasser. Rasten. Wasser. Schatten. Tobias lehnte sich mit dem Rücken an einen Stein und lauschte der monotonen Unterhaltung seiner Männer, die genauso war wie am Tag zuvor, dem Tag davor und noch einen Tag davor. Sie war fast schon rhythmisch. Musikalisch. Besaß ein angenehmes, vorhersehbares Muster. Vorwärts und rückwärts, vorwärts und rückwärts, vorwärts und rückwärts. Immer dieselben Gedanken. Die gleichen Worte. Das Grundgerüst eines Menschenlebens.

Rate war heute richtig in Form. »Wenn wir dort sind, werde ich als Erstes ein richtig gutes Steak essen. Durchwachsen, mit ordentlich Fett, gebrochenen Knochen, sodass das Mark herausquillt, vielleicht noch etwas warmes Brot und ein paar Pilze dazu, um den Saft aufzutunken.«

Emit schnaubte. »Das wohlhabendste Reich der Welt, und du träumst von einem Steak?«

»Sterben oder ein gutes Mahl, das ist mein Leitspruch.«

»Oh, dagegen sage ich auch nichts. Ich finde nur, dass es dort etwas Besseres als ein Steak geben sollte.«

»Etwas Besseres als ein Steak? Nichts ist besser als ein Steak.«

»Sagte die Hure zum heiligen Mann.«

»Ich dachte, du wärst Steaks langsam leid, Rate.«

»Da hast du dich gewaltig geirrt. Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, die dämlichen Viecher tagein, tagaus zu hüten und doch nie ein Stück von ihnen essen zu dürfen?«

»Sagte der heilige Mann zur Hure.«

Müdigkeit senkte sich auf sie herab. Langweile. Furcht. Sie marschierten und murrten, und es war heiß, und nachts war es kalt, und sie wollten endlich ankommen, fürchteten sich gleichzeitig aber auch davor, doch sie hatten die Nase voll vom gelben Staub, der gelben Hitze und der gelben Luft. Aber es sind wirklich gute Männer, stellte Tobias fest. Gute Soldaten. Sie gingen ihm zwar gehörig auf die Nerven, und wenn er noch zweimal schlecht schlief, würde er jeden einzelnen von ihnen vermutlich windelweich prügeln, aber im Grunde genommen waren es gute Männer. Er konnte fast schon stolz auf sie sein.

»Das Gelbe Reich.«

»Das Goldene Reich.«

»Das Sonnige Reich.«

»Sonnig klingt schön und fröhlich. Golden macht Hoffnung. Das Gelbe Reich – mit hoffentlich feigen Soldaten.«

Gulius schlug mit der Kelle gegen den Kessel. »Will noch jemand Haferbrei? Holt ihn euch, solange er noch nicht ganz geronnen ist.«

»Das, was mir letztens aus der Nase kam, sah irgendwie aus wie das Zeug auf dem letzten Löffel.«

»Ein Steak … angebraten, sodass das Fett noch zischt, der Knochen schön schwarz … Pilze … Sauce … ein Becher Immish-Gold …«

»Ich nehme noch eine Schüssel, nicht dass der Brei noch schlecht wird.«

»Schlecht? Mann, wir reden hier über Haferbrei. Der liegt schon bewusstlos in der Gosse und wartet auf den Gnadenstoß.«

Eine Krähe flog krächzend über sie hinweg. Alxine versuchte, sie zu fangen. Es gelang ihm nicht. Sie flatterte wieder nach oben und kackte auf einen ihrer Tornister.

»Mistviech. Eine von denen krieg ich schon noch.«

»Aber an der war selbst für eine Krähe nicht viel dran.«

»Wenn ich sie mit ein paar Kräutern koche, würdest du dich nicht beschweren. In Allene gelten langsam geröstete Kräheninnereien als Delikatesse. Soll besser sein als Steak.«

»Das war mein verdammter Tornister!«

»In Allene heißt es, dass es Glück bringt, wenn einem eine Krähe auf den Kopf kackt.«

»Ruhe!« Tobias sprang auf. »Da rechts hat sich was bewegt.«

»Das war bestimmt nur eine Ziege«, erwiderte Rate. »Wenn wir richtig Glück haben, ist es die von vorh…«

Der Drache hatte sich bereits auf sie gestürzt, bevor sie auch nur die Gelegenheit bekamen, ihre Schwerter zu ziehen.

 

So groß wie ein Zugpferd. Dunkel, schlammig, faulig, rotzartig, modrig, widerlich grün. Trug sein Narbengewebe wie einen bestickten Umhang. Die Flügel schwarz, weiß und silbrig, schwer und gefährlich wie Klingen. Ein Gestank, der einen würgen lässt. Feuer und Asche. Heißes Metall. Angst. Freude. Schmerz. In der Wüste gibt es Drachen, stand auf den alten Karten des alten Kaiserreichs, und sie hatten gelacht und gesagt, nein, nein, nicht in der Nähe der großen Städte, und falls es überhaupt je Drachen gab, dann sind sie heute nichts als Erinnerungen an einen vergangenen Traum. Seine Zähne, riesig und zackig, schlossen sich um Gulius’ Arm; seine Augen waren wie Messer, als er sich mit dem blutigen Arm im Maul abwandte. Er spuckte Blut und Schleim und stieß erneut Flammen aus, bevor er mit den Flügeln schlug und sich in die Luft erhob. Männer wichen schreiend zurück, mit angesengten und geschmolzenen Rüstungen, die sich in Fleisch brannten. Der Geruch von geröstetem Fleisch umgab sie. Besser als Steak.

Gulius klammerte sich irgendwie ans Leben und starrte das Loch an der Stelle an, wo sein rechter Arm gewesen war. Der Drache schlug die Krallen der Vorderbeine in Gulius’ Körper. Blut spritzte auf. Gulius verschwand. Ein kleiner roter Fleck auf dem Grün. Ein durchdringender Schrei, als die Klauen über heiße Steine schabten. Schreie. Schreie. Schlagende Flügel. Der Strom erhob sich und brodelte. Zwei Männer waren im Wasser, um ihre Brandwunden zu kühlen, und das kochende Nass spritzte ihnen ins Gesicht, und sie schrien ebenfalls. Alles war heiß und kochend und brannte, trockener Wind, trockene Erde, trockenes Feuer, trockene heiße Schuppen, der ganze große Echsenkörper sengend heiß wie ein Schmelzofen; ein brüllend heißes mörderisches dämonisches Todeswesen.

Wir werden sterben, dachte Tobias. Verdammt noch mal, wir werden alle sterben.

Er fand sich neben dem neuen hübschen Jungen Marith wieder, der die Kreatur fasziniert und mit eiterbleichem Gesicht anstarrte. Ja, gut, das musste man ihm lassen, ein solcher Anblick war schon bemerkenswert, wenn man eben vom Graben eines Lochs zurückkehrte, in das seine Vorgesetzten scheißen sollten. Selbst Tobias war ja ziemlich erstaunt. Aber der Junge würde in zehn Herzschlägen weder schön noch erstaunt aussehen, wenn der Drache ihn erst einmal gegrillt und geköpft hatte.

Wenn er doch wenigstens sein Schwert ein wenig anheben würde.

Oder sich ducken.

»O Götter und Dämonen und Scheiße.« Tobias, der zehn Jahre Kampferfahrung hatte und den so gut wie nichts erschüttern konnte, zog sein Schwert, packte den Griff mit beiden Händen und bohrte dem Drachen die Klinge ins rechte Auge.

Der Drache schrie auf, als hätte er tausend Stimmen. Warf sich zur Seite. Das Schwert steckte noch immer in seinem Auge. Halb fallend, halb springend zog Tobias Marith mit sich zu Boden.

»Dein Schwert!«, schrie er. »Zieh dein verdammtes Schwert!«

Die Vorderklauen des Drachen fuhren nur wenige Zentimeter vor Tobias’ Gesicht durch die Luft. Das Tier drehte sich im Kreis und schlug mit den Krallen, dem Schwanz und den Flügeln um sich. Spie manisch Flammen, kreischte, drückte den Rücken durch. Es verbrannte sich beinahe selbst, das dumme Vieh. Zwei Männer loderten wie lebende Fackeln, ein dritter wurde vom Schwanz getroffen und sackte mit gebrochenen Knochen zu Boden. Tobias rollte sich ab, sprang wieder auf und tänzelte nach hinten. Sein Helm saß schief, daher konnte er nur sehen, was sich direkt vor ihm befand. Eine große zuckende Masse grüner Drachenbeine. Er ging erneut in die Hocke und versuchte, sich für den Aufprall grüner Schuppen zu wappnen. Gegen die Flammen würde er ohnehin nichts ausrichten können.

Ein Mann stürmte gebückt heran und trieb dem Drachen sein Schwert in die Seite, wo es von den Schuppen abprallte, dann jedoch in die weichere Haut am Bauch eindrang, als das Tier sich drehte. Er bohrte es tiefer hinein, zog es weiter, riss das Fleisch auf. Schwarzes Blut spritzte heraus, gefolgt von schimmerndem Weiß und roten, sich entwirrenden Gedärmen. Männer schlugen sich schreiend ins Gesicht, als sie vom Blut getroffen wurden. Nun steckten zwei Schwerter im Drachen, eins davon in seinen Eingeweiden, und er kreischte noch lauter, zuckte, bäumte sich auf, drehte sich im Kreis, blutete, während Männer hastig zur Seite sprangen.

»Zieht euch zurück!«, rief Tobias ihnen zu. »Geht von ihm weg, macht ihm Platz! Zurück mit euch!« Seine Stimme ging im Getöse unter. Er muss doch sterben, dachte er verzweifelt. Es mochte ein verdammter Drache sein, aber ihm hingen die Gedärme aus dem Leib, und ein Schwert steckte in seinem Kopf. Eine Feuerwoge raste in Tobias’ Richtung. Er ließ sich auf den Bauch fallen. Fand sich neben dem neuen Jungen Marith wieder.

»Lenk ihn ab!«, schrie Marith ihm ins Ohr.

Was …?

Marith rappelte sich auf und sprang los.

Auf einmal balancierte der Junge absurderweise auf dem Rücken des Drachen. Klammerte sich wie ein Verrückter daran fest. Fiel fast herunter. Sah so lächerlich klein aus. Dann zog er sein Schwert und stach nach unten zu. Blut spritzte auf. Marith schrie. Fiel nach hinten. Stürzte herunter. Der Drache schrie lauter als je zuvor. So laut, als wäre das Ende der Welt angebrochen. Er zuckte am ganzen Körper und stieß Flammen aus. Brach kreischend zusammen. Sein Schwanz fegte noch mehrmals hin und her. Die letzten rasselnden Erschütterungen, fast schon erbärmlich. Ein Stöhnen, Seufzen, Wimmern. Schließlich lag er reglos und tot da.

 

Ein toter Drache ist ziemlich groß. Tobias starrte ihn lange Zeit einfach nur an. Spürte beinahe einen Stich von Reue. Auf seine Weise war das Tier wunderschön. Wild. Durch und durch wild. In diesen Augen lag keine Weisheit. Nur wilde Freiheit und die Freude am Töten. Eine unveränderliche Kraft wie ein Berg oder eine Gewitterwolke. Ein totes Wesen. Aber ein wunderschöner Tod. Was Gulius’ Familie wohl dazu sagen würde: Er starb im Kampf gegen einen Drachen. Ein Drache hat ihn getötet. Ein Drache. Das war, als würde man sagen, er wäre von einem Gott getötet worden. In manchen Gegenden wurden sie als Götter angesehen. Oder als gottgleich. Er streckte die Hand aus und berührte die dunkelgrünen Schuppen. Weich. Noch warm. Er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Was hast du erwartet?, fragte er sich. Er war lebendig. Eine lebende Kreatur. Natürlich ist er weich und warm. Er bestand aus Fleisch und Blut.

Dabei hätte er aus Stein sein sollen. Aus Feuer. Aus Schatten. Irgendwie war es nicht richtig, dass er lebendig gewesen war und jetzt tot. Dass er sich jetzt nicht mehr von totem Vieh, toten Menschen oder toten Hunden unterschied. Er sollte sich … anders anfühlen. So wie sich der Schmerz anders anfühlen sollte. Tobias fühlte sich wie nach einem Kampf gegen Menschen. So hatte er sich das letzte Mal nach einer Schlägerei in einem Gasthaus gefühlt. Das war nicht richtig. Er berührte den Drachen erneut, nur um ganz sicherzugehen. Vielleicht wäre es besser, er würde zu Staub zerfallen. In einem Feuer duftender Flammen vergehen.

Sein Fleisch und Blut werden grässlich stinken, wenn er verrottet, schoss es ihm durch den Kopf.

Da war ein Geräusch hinter ihm. Tobias wirbelte panisch herum. Ein weiterer Drache. Ein Dämon. Eltheia, die Wunderschöne, nackt auf einem weißen Pferd.

Es war der neue Junge Marith. Er starrte den Drachen an wie ein Mann, der seinen eigenen Tod vor Augen hat. Kurz lief es Tobias eiskalt den Rücken hinunter. Ein Schrei und ein Kreischen in seinen Ohren oder seinem Kopf. Die wunderschönen Augen des Jungen, der nicht einmal blinzelte. Ein Schatten darin, als wäre es auf einmal dunkler geworden. Als würde die Sonne am Himmel flackern. Dann seufzte der Junge schwer, setzte sich auf den Boden und rieb sich das Gesicht. Tobias sah, dass sein linker Handrücken schwer verbrannt war.

»Das war ziemlich gut«, sagte Tobias schließlich.

»Du hast gesagt, ich soll mein Schwert ziehen.«

»Stimmt.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Du hast ihn getötet.«

»Er war sowieso schon fast tot.«

»Du hast einen verdammten Drachen getötet, Junge.«

Der Junge lachte verbittert auf. »Es war kein sehr großer Drache.«

»Und du kennst dich damit aus?«

Er bekam keine Antwort.

»Du hast ihn getötet, Junge. Du hast einen verdammten Drachen getötet. Eine legendäre, unverwundbare Bestie, von der alle glaubten, sie würde nicht mehr existieren, bis sie ihren Zeltnachbarn gefressen hat. Du solltest dich wenigstens freuen. Stattdessen sitzt du da und siehst aus wie ein Häufchen Elend, während Rate und die anderen Männer versuchen, hier wieder Ordnung reinzubringen.« Er hätte den Jungen am liebsten geschüttelt. Was blies er hier Trübsal? »Lass mich wenigstens deine Hand untersuchen.«

Damit schien er zu Marith durchzudringen. Der Junge starrte seine Verletzung an. »Was, das hier? Es tut fast gar nicht weh.«

»Es tut nicht weh? Du hast dir die halbe Hand verbrannt. Wie kann das nicht wehtun? Ich schätze, es war das Blut. Es verbrennt Dinge. Hat mein Schwert völlig zerstört. Dabei war es ein richtig gutes Schwert. Hatte einen Rubin im Griff und all so was. Der Kerl, von dem ich es hatte, schien es auch zu schätzen, da ich ihn umbringen musste, um es zu bekommen.« Er redete weiter, um seine rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Derweil schrie diese leise Stimme im hintersten Winkel seines verwirrten Verstandes die ganze Zeit nur: »Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

»Das Blut ist Säure«, murmelte Marith geistesabwesend. »Und kochend heiß. Erst wenn er tot ist, wird es kälter und weniger ätzend.« Plötzlich drehte er sich zu Tobias um, als wäre ihm auf einmal etwas klar geworden. »Du hast zuerst auf ihn eingestochen. Um mich zu retten. Ich habe überhaupt nichts gemacht, hab einfach nur dagestanden.«

Es war absurd, wie jung Marith jetzt wirkte. Zerbrechlich. Schwach. Mit Haaren wie rotschwarzer Samt. Augen wie blassgraue Seide. Haut in der Farbe frischer Milch und mit einem Gesicht wie eine erstklassige Hure. Im richtigen Licht wäre er wahrscheinlich sogar als Eltheia, die Wunderschöne, durchgegangen. Jedenfalls vom Hals aufwärts.

Er konnte nicht kochen. Konnte kein Feuer machen. Konnte nicht mal eine lächerliche Kanne Tee zubereiten. Mit dem Schwert hatte er gerade so umgehen können, nachdem jemand eins für ihn aufgetrieben hatte, aber seine Hand schien immer zu zittern, wenn er eine Klinge führte. Nachts im Zelt weinte er viel. Emit hatte zehn Eisenmünzen darauf gewettet, dass er eines Tages weinend zusammenbrechen und nach seiner Mutter verlangen würde. Eltheia, die Wunderschöne, hätte im richtigen Licht vermutlich einen besseren Söldner abgegeben.

»Du hast einfach nur dagestanden. Das ist richtig. Genau wie die meisten anderen.« Und, o Götter, oh ja, die aufmunternden Worte des Kompaniebefehlshabers sprudelten bereits unaufhaltsam aus ihm heraus. Na, dann los, Tobias, alter Kumpel, lass sie wie einen Furz fahren. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Wenn uns das nächste Mal ein feuerspeiender, menschenfressender Drache anspringt, wirst du bereit sein und genau wissen, was du zu tun hast.«

Marith schüttelte sich. Rieb sich die Augen. »Ich könnte jetzt wirklich etwas zu trinken gebrauchen.«

Tobias stand auf. Seufzte. Der Junge musste einen nicht einmal direkt um etwas bitten, damit man es für ihn tat. Er schaffte es auch allein mit seinem Tonfall. Seinen traurigen Hundeaugen. »Du solltest deinen Kommandanten nicht so herumscheuchen, Junge. Und wir haben keinen Alkohol mehr, falls du das gemeint hast. Es gibt Wasser zum Teekochen, solange man es flussaufwärts von … dem hier holt. Da du ein Held bist, werde ich dir den Gefallen tun und Wasser holen.« Er ging auf das Lager zu. »Möchtest du auch etwas essen, wenn ich schon mal dabei bin?«

 

Der Versuch, etwas zu essen und zu trinken. Das Lager so weit in Ordnung zu bringen, dass jemand mit einem besonders robusten Magen eine Mütze voll Schlaf finden konnte und nicht von Strömen aus Blut, Eingeweiden und dem zerlaufenden Gesicht seines Zeltkameraden träumte. Der Drache fand noch ein letztes Opfer: Jonar, der Mann, der den Bauch des Viehs aufgerissen hatte, war verschwunden, sein Körper völlig zerfressen. Vier andere waren tot, Gulius eingeschlossen. Einer war in Feuer und heißen Dampf getaucht worden und lag im Sterben. Skie bereitete seinen Qualen ein Ende, indem er ihm den knusprig schwarz und rosa gefärbten Kopf abschlug. Weitere vier waren schwer verwundet; Tobias vermutete, dass wenigstens zwei das Glück haben und die Nacht überleben würden. Einer, ein junger Mann namens Newlin, der zu seiner Schwadron gehörte, hatte eine Verbrennung am rechten Bein und konnte kaum noch stehen. Tobias hatte bereits beschlossen, dass es am besten wäre, ihm bei der nächsten Gelegenheit ein Messer in den Leib zu stoßen. Einer der anderen Männer würde die Sache sonst vielleicht noch vermasseln.

Sie hatten im ganzen letzten Jahr nur drei Männer verloren, und das größtenteils durch unglückliche Unfälle. (Wie hätten sie auch ahnen können, dass die hübsche Bauerstochter ein Rebmesser unter ihrem Umhang verbarg? Bis zu diesem Augenblick hatte sie so gut wie keinen Widerstand geleistet.) Zehn zu verlieren war eine Katastrophe, und sie liefen langsam Gefahr, gefährlich unterbesetzt zu sein.

Was für ein verdammtes Pech, dass sie sich ausgerechnet an einem Steinhaufen zum Mittagessen niederließen, hinter dem sich ein Drache verbarg. Selbst wenn es kein besonders großer war.

Sie bauten immer noch die Zelte auf, als Skies Diener Toman näher kam. Er meldete, dass Skie sich mit Marith Drachentöter unterhalten wolle.

»Der Held ist willkommen«, sagte Tobias grinsend. Aber bei Skie wusste man nie. Möglicherweise wollte er dem Jungen nur einheizen, weil er den Drachen nicht schon früher getötet hatte.

Marith stand langsam auf. Da flackerte etwas wie Furcht in seinen Augen. Oder vielleicht war es auch Schmerz.

Tobias erschauderte erneut. Der Junge war in einer seltsamen Stimmung.

3

Skies Zelt bestand aus wunderschönem altem Leder, gut ausgehärtet, anders als die stinkenden, fettigen Stoffdinger, in denen die Männer schliefen, und war mit einem Muster aus ineinander verwobenen Blumen versehen. Die Farben der Bemalung ließen sich an einigen Stellen noch erkennen, ebenso wie die Überreste von Blattgold. Marith war davon überzeugt, dass er es irgendwo erbeutet haben musste. Es könnte Teil des Jagdpavillons einer Dame gewesen sein. Die waren allerdings meist mit einer juwelenbesetzten Flagge gekrönt. Auf Skies Zelt prangte eine skelettierte Hand.

Skie war ein kleiner, dünner Mann, grau und hart, mit kahlem Kopf. Er trug einen zotteligen grauen Bart, ohne den er viel besser ausgesehen hätte, und hatte eine Narbe auf dem Nasenrücken. Ansonsten wirkte er nicht außergewöhnlich, bis er sich bewegte und man sah, dass er den linken Arm unterhalb des Ellbogens verloren hatte. Marith blickte auf die zerklüftete Verbrennung an seiner linken Hand herab.

»So.« Skie fixierte ihn mit kalten Augen. »Der Drachentöter höchstpersönlich. Ich schätze, wir verdanken dir unser Leben.« Er bedeutete Marith, sich ihm gegenüber vor den Zelteingang zu setzen. »Das war weitaus mehr, als ich dir bei unserer ersten Begegnung zugetraut hätte, wie ich zugeben muss. Rein aus Interesse: Woher wusstest du, wo du zustechen musst?«

»Ich weiß, wie man Drachen tötet.«

»Das ist unbestreitbar. Ich wüsste gern, woher du das weißt. So etwas ist nicht allgemein bekannt.«

»Ich dachte, es wäre offensichtlich.«

Skie schnaubte, was möglicherweise ein Lachen war. »Du bist entweder ein sehr entschlossener Lügner oder der größte Narr, der mir je begegnet ist, Drachentöter. Und hüte deine Zunge in meiner Gegenwart, Junge.« Marith sank unter seinem Blick kurz in sich zusammen. Die dunklen Augen starrten ihn an, schienen ihn einzuschätzen. Ihn zu verspotten. So hatte sein Vater ihn auch immer angesehen. Wertend. Wissend. Verächtlich. Maße dir kein Urteil über mich an, dachte er zornig. Du hast auch nicht gerade viel aus deinem Leben gemacht, würde ich behaupten.

Auf dem Boden zwischen ihnen lag ein kleines, in Leder gebundenes Buch, sehr alt, abgenutzt und stellenweise eingerissen; das dunkle Leder war zu einem unbestimmten Gemisch aus Braun, Grün und Grau verblasst. Skie leckte sich die Finger und blätterte vorsichtig darin. Die Anspannung zwischen ihnen ließ ein wenig nach. Marith betrachtete das Buch interessiert und atmete seinen staubigen Geruch ein. Eine Erinnerung: wie er sich mit einem Stapel alter Bücher in einem Sessel verkrochen hatte; Geschichten, Gedichte, historische Aufzeichnungen, Reiseberichte. Simple Freuden. Gute, ehrliche Dinge. Er schüttelte den Kopf, und die Erinnerung verblasste. Wenigstens scheint sich die Geografie endlich als nützlich zu erweisen, dachte er. Und hätte beinahe schmerzlich aufgelacht.

Skie hantierte mit seiner einen Hand geschickt mit dem Buch, bis er die richtige Seite gefunden hatte. Er holte eine Feder und einen Tintenstein aus seinem Gepäck. Leckte die Feder an, um zu beginnen.

»Was ist das?«, fragte Marith.

Der Alte verzog mürrisch das graue Gesicht. »Man stellt seinem Kommandanten keine Fragen, Junge. Das solltest du dir merken. Rede, wenn du dazu aufgefordert wirst. Ansonsten halt den Mund und gehorche. Das ist eine Aufzeichnung der bemerkenswertesten Taten der Kompanie. Gewonnene Schlachten, geplünderte Städte, all solche Dinge. In den letzten Jahren ist nicht viel hinzugekommen. ›Kleines Dorf geplündert, zwei alte Männer getötet‹ ist nicht gerade der Stoff für Legenden. Der Lange Frieden war nicht gut zu unsereins. Aber ich finde, ein Drache und ein Drachentöter sollten Erwähnung finden.«

Skie schrieb sorgfältig, aber so unsicher wie ein Mann, der es nur notdürftig gelernt hatte. Doch vielleicht sollte man beeindruckt sein, dass er des Schreibens überhaupt fähig war, noch dazu mit einer Hand. Mariths Hand kribbelte, als er mit ansehen musste, wie die Worte zittrig und langsam auf Papier gebracht wurden.

»Lundra, siebenundzwanzigste Erde«, sagte Skie langsam und sprach jedes Wort mit. Marith presste die Lippen aufeinander, als er bemerkte, dass Erde nicht richtig geschrieben war. »An diesem Tag hat Marith, der neueste Rekrut der edlen Kompanie, tapfer einen Drachen in der Wüste östlich von Sorlost erschlagen. Belohnung: sechs Eisenpfennige. Normalerweise hättest du dir dafür eine Silbermark verdient, aber uns gehen langsam die Vorräte aus, und du könntest das Geld hier ohnehin nicht ausgeben.« Er bedachte Marith mit einem kalten Lächeln. »Jedenfalls für nichts, was dich interessieren könnte, Junge. Geh zu Toman, vielleicht hast du ja Glück, und er gibt dir das Geld sogar.«

Ich habe einen Drachen getötet, dachte Marith wütend, als er zu seinem Zelt zurückging. Ich habe einen Drachen getötet, du undankbarer alter Mann. Du solltest deinen Göttern und Dämonen dafür danken. Und nicht über mich lachen. Er spürte ein Kribbeln im Körper und fühlte sich mitgenommen und krank. Schloss die Augen und atmete tief ein. Bleib ruhig, sagte er sich. Bleib einfach ruhig. Alles wird wieder gut. Als er die Augen erneut aufschlug, blendete ihn das Licht, und er konnte zuerst nichts sehen. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Es ist alles in Ordnung. Bald ist alles wieder in Ordnung. Es ist besser als zuvor. Wirklich. Die raue dunkle Landschaft sah fast schon unwirklich aus. Er blickte sich im Lager um. Feuer wurden geschürt, jemand kochte mehr dünnen Haferbrei. Jemandem, der mehr Glück gehabt hatte als Alxine, war es gelungen, eine Krähe zu fangen und zu schlachten, und er tauschte sie gegen Tee und Salz ein. Zwei Männer saßen im Schatten eines struppigen Dornbusches und würfelten; zwei weitere stritten sich hitzig über den Preis für einen angeschlagenen Kochtopf. Die sechs Eisenpfennige klebten in seiner Hand. Er steckte sie seufzend in die Jackentasche. Hier konnte er sie wirklich nicht ausgeben.

Als er zu seinem Zelt zurückkehrte, stellte er fest, dass Alxine so freundlich gewesen war, ihm ein Stück Drachenhaut als Andenken hinzulegen.

 

Sie marschierten am nächsten Morgen weiter und gingen schnell, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und den toten Drachen zu bringen. In der Morgenhitze hatte das Tier in der Tat angefangen zu stinken; es verströmte einen scheußlichen, fauligen Geruch, der an gekochtes Metall erinnerte, und zog massenhaft Krähen an. Insekten. Sogar einen Buschlandadler. Ringsumher lagen nun kleine Leichen auf dem Boden.

»Man sollte doch annehmen, dass sie eine natürliche Abneigung gegen ihn hätten«, meinte Rate, der das Geschehen neugierig beobachtet hatte. »Allein schon wegen des Geruchs. Die Viecher auf dem Hof meines Vaters haben immer einen großen Bogen um verwesendes Fleisch gemacht.«

Tobias deutete auf die leere Landschaft rings um sie herum. »Hier gibt es nicht gerade viel zu fressen. Wahrscheinlich würden sie sich auf alles stürzen, was mal lebendig gewesen ist. Fleisch riecht wie Fleisch, wenn man hungrig genug ist. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass sie nicht gerade oft einen toten Drachen sehen« – er grinste Marith an und zwinkerte ihm zu –, »da die Viecher bekanntermaßen schwer zu töten sind.«

Zwei weitere Männer waren im Verlauf der Nacht gestorben, die das beklagenswerte Pech hatten, nicht schnell genug laufen zu können, um mit der Truppe mitzuhalten. Einer von ihnen war Newlin. Marith bedauerte das sehr, vor allem, da sie sich ein Zelt geteilt hatten, aber es war wahrscheinlich besser so. Der Mann hatte überdies geschlafen, als es passierte, und vermutlich nicht einmal mitbekommen, was geschehen war.

Alxine schien deswegen jedoch erstaunlicherweise aufgebracht zu sein, und er verzog besorgt sein kupferfarbenes Gesicht. »Er war ein Kamerad«, sagte er immer wieder. »Wir haben ein Zelt geteilt. Er hat uns vertraut.«

»Er war kein Kamerad, er gehörte zu meiner Schwadron«, entgegnete Tobias entschieden. »Und er war aufgrund seines verletzten Beins eine Belastung. Es hätte sich gewiss entzündet, und so sind ihm die Schmerzen erspart geblieben.«

Das mochte sein. Jedenfalls hatten sie jetzt mehr Platz im Zelt.

 

Am Nachmittag rasteten sie auf einem niedrigen Hügel und blickten auf ein kleines, armseliges Dorf hinab; gerade mal fünf Häuser, die um eine Scheune herumstanden. Doch eine so große Siedlung hatten sie seit Tagen nicht mehr gesehen, daher jubelten mehrere Männer.

Nach längerer Diskussion schickte Skie eine Handvoll Männer hinunter ins Dorf, um Güter zu kaufen oder einzutauschen. Sie kehrten mit einer erschreckend dürren toten Ziege, einem Sack Zwiebeln und fünf anständig großen, mit einer Flüssigkeit gefüllten Steinkrügen zurück. Da niemand im Dorf Immish sprach, die letzten fünfhundert Jahre anscheinend an ihnen vorübergegangen waren und fast keiner außerhalb des Kaiserreichs noch mehr als ein paar Brocken Literanisch beherrschte, weil die Grammatik und Syntax unglaublich komplex waren, wusste keiner so genau, um welches Getränk es sich handelte. Es war bräunlich, schaumig und roch alkoholisch, daher bezeichneten sie es als Bier, auch wenn es vom Geschmack her ein Unkrautvernichtungsmittel hätte sein können. Marith war jedoch der Ansicht, dass sie Glück gehabt hatten, überhaupt etwas bekommen zu haben, schließlich hatte sich der losgeschickte Trupp darauf beschränken müssen, auf ihre Bäuche zu zeigen, einige Münzen in die Luft zu halten und »Essen« und »Geld« auf Immish, Pernisch und sogar Aen zu rufen. Wenn sie ganz großes Pech hatten, handelte es sich bei dem Zeug in den Krügen um das hiesige Heilmittel gegen Koliken.

»Mehr konnten wir nicht kaufen«, erklärte Tobias, als er die mürrischen Mienen bemerkte. »Das Dorf ist zu groß, als dass wir es überfallen könnten, ohne dass es in der Stadt bemerkt wird, und wenn wir versucht hätten, Vorräte für vierzig Männer zu kaufen, hätten wir unsere Karten zu früh offengelegt.« Er schien kurz nachzudenken. »Dreißig Männer, meine ich.«

Das vermeintliche Bier wurde unter den Männern aufgeteilt, und sie veranstalteten eine provisorische Trauerfeier für die Opfer des Drachen. Es schmeckte widerlich, war jedoch erstaunlich stark; der kleine Becher, den Marith geleert hatte, bewirkte, dass er leicht benebelt war, immerhin hatte er wochenlang nichts als Brackwasser und Tee getrunken. Seine Augen fingen erneut an zu jucken. Atme, ermahnte er sich verzweifelt. Es ist alles in Ordnung. Atme einfach weiter. Er ballte die Fäuste. Konzentrierte sich auf das Gefühl seiner Fingernägel, die sich in seine Handflächen bohrten. Schmerz. Ruhe. Atmen.

Er musste gezuckt haben, da sich einige der anderen Männer zu ihm umdrehten.

»Ist alles in Ordnung, Junge?«, erkundigte sich Alxine. Er klang aufrichtig besorgt.

»Es geht mir gut.« Er verkrampfte die Hände noch mehr und trank einen großen Schluck Wasser.

»Der Kleine verträgt den Geschmack richtigen Biers nicht, das ist alles«, spottete Emit. Dabei war er vermutlich nur wenige Jahre älter als Marith. Eines Tages bringe ich ihn um, dachte Marith. Ich würde es jetzt tun, wenn mich Skie dafür nicht enthaupten lassen würde.

Er rieb sich ein weiteres Mal die Augen und drückte noch fester zu. Schmerz. Ruhe. Atmen. Alles wird wieder gut. Denk einfach nicht mehr solche Dinge.

Rate lachte los. »Ach, jetzt hör aber auf, Emit. Lass diesen Unsinn mit dem ›richtigen Bier‹. Das Zeug hier schmeckt wie Affenpisse, und das weißt du selber. Die Ziege ist fertig, falls jemand was davon will.«

»Findest du etwa keinen Abnehmer dafür?«

»Die Ziege wollte schon lange, bevor wir hier aufgekreuzt sind, keiner haben. Gegen die ist ja sogar der Haferbrei noch Gold wert.«

»Langsam geröstete Ziegeninnereien sind in Allene eine Delikatesse.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das ihre Innereien sind …«

Alxine gab ihnen allen eine Portion, die er elegant auf einem dünnen Bett aus mit vergammelten Zwiebeln gewürztem Haferbrei servierte. Das Ganze schmeckte eindeutig noch schlimmer als das Bier. »Bei den Göttern, stellt euch vor, ihr würdet hier draußen leben und jeden Tag eures verdammten Lebens Affenpisse trinken und ranzige Ziegendödel essen«, sagte er fröhlich. »Immerhin können wir uns darauf freuen, in wenigen Tagen einen brutalen Tod zu sterben.«

»Ich glaube, das Bier macht dich rührselig«, erwiderte Rate. »Zu unserem Glück ist es alle. Kennt einer von euch ein paar ›Dankt allen Göttern, dass ich nicht mehr trinke‹-Lieder?«

Inhaltsloses Gerede. So sinnlos. Dass sie im Angesicht ihres sicheren Todes derart entschlossen das Leben genossen. Dass sie überhaupt lebten und Zufriedenheit fanden. Marith stand auf und ging ein Stück von den anderen weg in die Dunkelheit. Die Luft war sehr kalt, klar und trocken, wenn er sie einatmete. Er holte tief Luft. Sterne funkelten über seinem Kopf, tausend blinde Augen. Götter. Wunderschöne Frauen. Tote Seelen. Die Sichel. Die Weiße Dame. Der Drachenschlund. Der Feuerstern.

Es war lange her, dass er so zu den Sternen hinaufgeblickt hatte. Zusammen mit Carin hatte er es früher gelegentlich getan, wenn sie Seite an Seite im moosigen Gras oder auf dem feuchten Sand eines Strandes lagen, die Hände ebenso miteinander verschlungen wie das Haar. Carin hatte all ihre Namen gekannt. Im Sternenlicht hatte sein Haar aschenbleich ausgesehen, und die Sterne hatten sich in seinen Augen gespiegelt.

»Da ist dein Stern, Marith, und da ist meiner. Sieh nur! Und da sind der Wurm und die Jungfrau und die Krone des Lachens, und der große Grüne da ist die Träne. Siehst du ihn?«

»Ich sehe ihn.« Vor seinen Augen funkelte und flackerte es wie ein Sturm aus Lichtfunken. Sein Stern.

Aber er durfte nicht an Carin denken.

Die Last der Sterne schien sich auf seinen Körper zu drücken, ihre endlose Unbarmherzigkeit, ihre schiere Anzahl. Zu ihnen hinaufzuschauen war wie ein kleiner Tod, die Auslöschung seines Ichs. Der große Abgrund, der alles zu verschlingen drohte. Die Dunkelheit. Es gab nichts als die Dunkelheit. Sie war das einzig Wahre. Er konnte sie tief unter seiner Haut spüren. Sie kennt dich. Sie weiß, was du bist. Er sah weiter nach oben und leerte seinen Geist. Die Wüste war totenstill. Hier konnte ein Mann bis in alle Ewigkeit weiterlaufen, bis er vor Durst oder Einsamkeit den Verstand verlor. Hier konnte ein Mann in Frieden leben, fort von allem und jedem. Einfach nur dasitzen und die Sterne anstarren, bis der Geist aufgab. Ein Mann konnte hier draußen sterben, langsam, qualvoll, von der heißen Sonne und dem trockenen Staub verbrannt. Marith drückte die Hand auf die Tasche, in der sich die sechs Eisenpfennige befanden. Gestern habe ich einen Drachen getötet, dachte er. Die Worte begeisterten ihn. Ich habe einen Drachen getötet.

Er ging zurück zum Lagerfeuer. In seinem Zelt wickelte er sich in seinen Umhang ein und legte sich zum Schlafen hin, um dann durch den Riss im Zeltstoff erneut zu den Sternen hinaufzusehen. Die anderen saßen noch um das Feuer und unterhielten sich; er konnte ihre Stimmen hören, verstand die Worte jedoch nicht, was beinahe so war, als befände er sich im Delirium oder würde träumen. Es war seltsam tröstlich. Als wäre er wieder ein Kind und würde die Stimmen von der anderen Seite des Raumes hören, während er schlief.

 

Er wachte ruckartig auf, als er Wasser spürte. Verwirrt und leicht panisch setzte er sich auf und wusste zuerst nicht, wo er sich befand oder warum sein Gesicht nass war. Durch seine Bewegung weckte er Alxine, der sich ebenfalls aufsetzte und instinktiv nach seinem Schwert griff.

»Ich bin’s nur«, zischte Marith. »Es ist alles gut.«

Alxine murmelte etwas Unverständliches, legte sich wieder hin, nur um erneut hochzuzucken. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er mit einem Hauch von Furcht in der Stimme. Nach der Begegnung mit dem Drachen waren sie alle ein wenig nervös.

»Das ist Regen. Es regnet.«

»Regen?«

Erstaunlicher- und wundervollerweise regnete es. Dicke, schwere, fette Tropfen fielen herunter, warmer, duftender Sommerregen, der wie Pferdehufe auf die Zeltplane donnerte. Marith kroch ins Freie, stand ganz still da und ließ das Wasser über sein Gesicht strömen und seine Kleidung und sein Haar durchnässen. Es war beinahe Morgen: Am Himmel zeichnete sich bereits das erste Licht ab. Männer taumelten aus ihren Zelten, starrten zum Himmel empor und lachten oder fluchten, weil sich der Staub unter ihren Füßen in Schlamm verwandelte. Sie sahen im Zwielicht aus wie Geister, während sie hinter dem Wasserschleier herumliefen. Das Wasser bildete erste Rinnen und trug Steine mit sich, die gegeneinanderklapperten.

Rate sprang mit einem Freudenschrei aus seinem Zelt. Er kniete sich neben den frisch geschaffenen Strom und schaufelte Wasser über seinen Kopf und seinen Oberkörper, rappelte sich einen Augenblick später wieder auf und zitterte in der kalten Luft, war nun jedoch sauber. Einige der anderen Männer taten es ihm nach, und schon füllte sich der Fluss mit schreienden, zitternden, miteinander rangelnden Körpern. Alxine, der ob des Lärms grummelnd aus dem Zelt gekrochen war, beobachtete sie grinsend.

»Willst du nicht baden?«, fragte ihn Marith. Nachdem sie schon so lange ein Zelt teilten, war die Vorstellung, einen gewaschenen Alxine neben sich liegen zu haben, sehr reizvoll. Der große Vorteil von Newlins Tod bestand darin, dass letzte Nacht etwas mehr Platz zwischen Mariths Kopf und Alxines Füßen gewesen war.

»Vielleicht mache ich das, wenn sie fertig sind.« Alxine zog sich in den Schutz des Zeltes zurück und legte sich in seinen Mantel gewickelt wieder hin. »Regenwahnsinn sagt das Wüstenvolk dazu.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal sehe, wie sich erwachsene Männer so darüber freuen, dass sie nass werden.«

Die Sonne ging auf, und Pflanzen offenbarten sich nach und nach in der Wüste. Die Dornbüsche öffneten sich und bekamen winzig grüne Blätter, die so weich waren wie die Ohren neugeborener Kätzchen; auf Flecken mit kränklich gelbem Delftgras entsprangen strahlend rosafarbene Blüten mit gekräuselten Rändern, die wie zerrissene Seide aussahen. Ein Schwarm juwelengrüner Vögel tauchte herab, um in den Pfützen zu baden und zu trinken. Insekten kamen aus der aufgesprungenen Erde hervor, schillernde Käfer, groß wie ein Männerdaumen, gelbliche Grashüpfer mit riesigen braunen Augen. Sogar mehrere kleine dunkle Frösche hüpften wild im flachen Wasser herum.

Marith sah sich das alles staunend an. So viel Leben. So viel Leben an einem toten Ort. Die Luft roch nach Leben. Der Strom sang das Lied des Lebens. Am Himmel wimmelte es von Leben, farblos und flüssig. Eine wilde, friedliche Zufriedenheit stieg in ihm auf, wie er sie als Kind gefühlt hatte, wenn er auf einem hohen Felsen stand, auf das Meer hinabblickte und triumphierend die Arme hob.

»Emmna therelen, mesereth meterelethem

Isthereuneth lei

Isthereuneth hethelenmei lei.

Interethne memestheone memkabest

Sesesmen hethelenmei lei.

Inmitten der Wüste

Kamst du zu mir wie Wasser,

Dein Antlitz starr wie Wasser,

So schnell entsprang meine Liebe, wie Blumen«, sagte er leise.

»Was?«, fragte Alxine erschrocken und starrte ihn an. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Das ist von Marian Gyste. Die ersten Zeilen von Der Silberbaum. Zuerst im Original in Literanisch, danach in Daljians Übersetzung. Es schien mir … passend zu sein.«

»Oh.« Alxine schüttelte den Kopf und dachte kurz nach. »Dann soll es so schlüpfrig klingen?«

Marith lachte auf. »Du solltest dir mal den Rest durchlesen.«

Das Licht schimmerte um ihn herum, der Sand wie poliertes Silber, die Luft klar wie Glas. Eines Tages, dachte er. Eines Tages wird alles brennen, und es wird kein Leben mehr geben.

 

Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, ordnete Skie an, dass sie Wachen aufstellten und sich an die Ablösung hielten. Zuvor hatten sie sich in der Hinsicht keine Mühe gemacht, da tief in der Wüste zwei oder drei Mann ausreichten, um den gesamten Trupp zu bewachen. Jetzt sollte es drei Schichten mit jeweils fünf Mann geben, und sie waren angehalten, auch beim Marschieren wachsam zu bleiben. Keine Feuer mehr, nicht einmal ein kleines zum Teekochen. Das allein verriet ihnen bereits, dass sie ihrem Ziel nahe waren. Der große Nachteil eines Feldzugs durch die Wüste war, dass man Rauch oder Feuer oder auch nur das Aufblitzen reflektierten Lichts auf poliertem Metall schon aus großer Entfernung sehen konnte. Wurden sie hier draußen erwischt, wäre ihre kleine Streitmacht schnell verloren. Weglaufen war sinnlos, da es keine Rettung gab: Ohne Wasser konnte ein Mann zwei, vielleicht drei Tage überleben; ohne Deckung würde man ihn aufspüren und jagen. Auch Geräusche trugen erstaunlich weit – jeder im Umkreis von zwanzig Meilen musste den Drachenangriff laut wie ein Gewitter gehört haben –, daher wurde ihnen befohlen, nahezu lautlos zu marschieren und zu lagern, nur über Gesten miteinander zu kommunizieren und einander ins Ohr zu flüstern. Ihnen standen einige lange dunkle Nächte bevor.

Marith war überrascht, wie freudig die Männer die neuen Regelungen annahmen. Während sie in der vergangenen Nacht noch ein wilder Haufen gewesen waren und sich um ihren Anteil am Bier gestritten, gesungen und gelacht hatten, um dann jauchzend und kreischend am Morgen im Regen zu planschen und Skies wütende Ermahnungen, dass es an Selbstmord grenzte, im Fluss zu schwimmen, zu ignorieren, waren sie jetzt leise, diszipliniert und beschwerten sich nicht. Zum ersten Mal überhaupt wurde ihm bewusst, dass er es hier wirklich mit abgehärteten Soldaten zu tun hatte, Männern, die Skies Befehle gedankenlos aufs Wort befolgen und auf seine Anweisung töten würden.

Seltsam fühlte es sich an, das in ihnen zu sehen. Es zu begreifen. Dass jemand eine solche Macht über sie hatte, dass Skie ihnen einfach sagen konnte, was sie tun sollten, und sie ihm gehorchen würden.

Ihr Abendessen bestand aus rohem, in kaltem Wasser eingeweichtem Hafer, unter den einige Fleisch- und Käsestücke gemengt waren. Das Ganze schmeckte nicht unbedingt besser dadurch, dass alles nass gewesen und danach wieder getrocknet war. Dazu tranken sie kaltes Wasser, in dem einige Teeblätter schwammen, »für den Geschmack«. Es war schon erstaunlich, wie schnell man ranziges Ziegenfleisch und widerliches Bier vermissen konnte. Am Himmel stand nur eine schmale Mondsichel, und dünne Wolken verhüllten die Sterne. Die Männer krochen schweigend und um sich tastend in die Zelte, blind wie Vögel in der Dunkelheit. Marith legte sich einfach vollständig bekleidet schlafen, anstatt sich mühsam auszuziehen. Es war ja nicht so, als wäre er das nicht ohnehin gewohnt.

Doch es dauerte lange, bis er einschlief, und er starrte durch den Riss im Zelt zum Himmel empor. Alxine atmete hörbar neben ihm, und das Geräusch war fast schon hypnotisch und so laut wie ein Herzschlag. Abgesehen davon herrschte Stille, eine schrecklich leere Stille, die nur hin und wieder vom Schrei einer nachtaktiven Kreatur unterbrochen wurde, der traurig, wütend und wild klang. Marith erschauderte. Seine Haut und seine Augen juckten. Wenn wir da sind, dachte er auf einmal, wenn wir da sind, habe ich sechs Eisenpfennige, die ich ausgeben kann. Dort gab es doch bestimmt etwas, das zu kaufen sich lohnte. Dieser Gedanke tröstete ihn, und seine Furcht ließ ein wenig nach. Er lag wach und versuchte, sich zum Einschlafen zu zwingen, bevor er ohnehin wieder aufstehen musste. Wahrscheinlich würde er in wenigen Tagen tot sein, da wäre es doch schön, wenn er vorher noch ein wenig schlafen konnte.

 

Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, da auf einmal Tobias im Zelt war und ihn für die Morgenwache weckte. Im Freien war es stockdunkel. Die Sterne waren jetzt ganz hinter dicken Wolken verschwunden. Marith wedelte mit den Armen, während er wach wurde, krabbelte aus dem Zelt und stolperte dabei über Alxine, der daraufhin losfluchte. In der kalten Luft angekommen, versuchte er, etwas zu erkennen. Marith erinnerte das Ganze an ein Kinderspiel, bei dem man ihm einen dicken Samtschal ums Gesicht gebunden hatte. Die Klaustrophobie, nichts sehen zu können, als wäre man tot – er hatte damals aufgeschrien, und sein Bruder hatte ihn ausgelacht. Die Sterne machten ihm Angst, aber er wünschte sich, sie würden zurückkehren, damit er etwas erkennen konnte. So tun konnte, als wäre da was. Er steckte eine Hand in die Tasche, um sich an dem Gefühl der Sicherheit festzuhalten. Sechs Eisenpfennige, die er ausgeben konnte. Aber es war so dunkel. Die Finsternis drückte auf seine Schultern und drohte, ihn zu ersticken. Sie rief ihn. Kannte ihn. Seine Augen juckten so sehr, dass seine Hände zitterten und er sich das Gesicht kratzte.

Dann sah er endlich das Licht im Osten, als die Sonne aufging und der Himmel von schwarz zu einem sanften Dunkelblau wechselte. Im Westen wurden die Wolken weggeweht, und man konnte die Sterne wieder sehen, die letzten Sterne des frühen Morgens, die Jungfrau, den Hund, den Baum, den Feuerstern, der sogar am helllichten Tag brannte. Eine rosafarbene Sonne erblühte am Himmel und erinnerte ihn daran, wie sich die Blüten des Delftgrases geöffnet hatten. Er wandte das Gesicht in diese Richtung, und ihm liefen Tränen über die Wangen, weil es wunderschön und lebendig war.

 

Nach dem Frühstück stellten sie sich auf und warteten auf ihre Befehle, die Skie ihnen gleich erteilen würde. »Wir nähern uns der Stadt.« Irgendwie gelang es ihm, leise, aber hörbar zu sprechen, und er hatte eine gute Stimme, um in der Schlacht das Kommando zu führen. Sie war tief und recht angenehm. Marith fragte sich, ob Skie auch singen konnte. »In etwa zwei Tagen müssten wir dort sein. Wie ich bereits gestern Abend sagte, wird es von jetzt an ernst. Die Wüste ist sicher; sie ist so gut wie unbewohnt …«

»Abgesehen von einem verdammten Drachen«, murmelte Rate.

»… und wird kaum bereist. Jeden, der in unsere Nähe kommt, können wir schon von Weitem sehen. Aber wir werden die Wüste bald hinter uns lassen und zu größeren Dörfern, Städten und Gehöften gelangen. Uns erwarten Soldaten auf Manöver, Stadtwachen. Menschen. Dreißig bewaffnete Männer sind nicht gerade unauffällig. Das wisst ihr alle.« Skie nickte ihnen zu. »Ihr habt so etwas schon öfter gemacht. Wir alle kennen das bereits. Wir werden uns in die einzelnen Schwadronen aufteilen und auf verschiedenen Routen marschieren. Die Zelte lassen wir hier.« Einige Männer jubelten halb ironisch. »Wenn wir zurückkommen können, nehmen wir sie wieder mit. Ich würde gern auf demselben Weg zurückgehen. Aber eure Bezahlung beinhaltet auch Geld für neue Zelte. Falls jemand erwischt wird, ist er auf sich allein gestellt. Ihr seid nichts als eine kleine Gruppe von Männern, die in der Stadt Arbeit suchen. Dorfbewohner, die von ihrem Land vertrieben wurden und glauben, die Straßen des Goldenen Kaiserreichs wären nach wie vor mit Gold gepflastert. Diebe. Mörder. Fahrende Musikanten, wenn euch das lieber ist. Es zählt nur, dass ihr allein seid und nichts von den anderen Gruppen wisst. Habt ihr das verstanden?«

Die Männer nickten und murmelten zustimmend. Skie ließ sie wegtreten, kehrte zu seinem Zelt zurück und rief die Schwadronführer zu sich. Die Männer machten sich daran, ihre Ausrüstung zu sortieren und zu verstauen und die kleinen Reiserucksäcke zu packen. Eine große Grube wurde im Sand ausgehoben und sorgfältig mit den Zeltplanen ausgelegt, auf denen dann die Zeltstangen landeten. Schließlich kamen Skies Zelt und dessen magerer Inhalt hinein, um unter weiteren Zeltplanen und einer Sandschicht zu verschwinden. Als Markierung legten sie einen Stein auf die Stelle.

Es sieht aus wie ein Grab, schoss es Marith durch den Kopf.

»Wir werden natürlich nie mehr hierher zurückkehren«, sagte Alxine fröhlich. »Und selbst wenn wir das tun, hat irgendein Mistkerl den Stein weggenommen. Aber so hat man wenigstens Hoffnung und kann so tun, als würden wir das alles bald wieder abholen.«

Sie brachen auf, kleine Grüppchen in der riesigen Wüste. Bald würden sie Ackerland erreichen, Wälder, Felder und Häuser, die Welt der Menschen.

Ihr Ziel war die große Stadt, die Unsterbliche, die Ewige, die Stadt der Träume, Sorlost die Goldene, die schönste, unbesiegte, unbesiegbare, die sterbende Hauptstadt des sterbenden Überrests eines der wohlhabendsten Kaiserreiche, die es je auf der Welt gegeben hatte.

Marith rieb sich seufzend die Augen und trottete langsam weiter. Tobias ging neben ihm her und beobachtete ihn.

Irgendwo in der Ferne hatte etwas geschrien, das ein Adler gewesen sein könnte.

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