7

Sie blieben einen Monat in Malth Calien.

»Was machen wir hier?«, wollte Thalia nach einigen langen, ereignislosen Tagen von Marith wissen.

»Wir warten.« In seinem Lächeln lag eine entsetzlich schwere Traurigkeit. »Rufen alle herbei, die zu mir kommen werden.«

»Wozu?«, fragte sie und kam sich so unwissend vor. Hier wimmelte es von Männern, Soldaten, Aktivitäten; ein Schiff hatte am ersten Morgen bei Anbruch der Dämmerung abgelegt, und Marith wartete nervös auf dessen Rückkehr, blickte jeden Tag aufs Meer hinaus.

»Um meinen Thron zu beanspruchen«, sagte Marith bedächtig.

»Aber … du bist der gekrönte König.« Eine Krone aus Silber in deinem schimmernden schwarzroten Haar.

»Der König wovon genau?« Er wirkte gereizt, weil sie seine Welt nicht verstand. »Terz ist nur ein Teil der Weißen Inseln. Der Sitz des Königs befindet sich in Malth Elelane, auf Seneth, im Turm der Freude und Verzweiflung, dem Turm, der für Eltheia errichtet wurde, dem Turm, von dem aus Altrersys als erster König herrschte. Das ist mein Thron. Meine Krone. Mein Zuhause. Ich habe Ti gesagt, dass ich komme. Dass ich König bin und nach Hause zurückkehre. Ti und … Königin Elayne. Sie haben mir nicht geantwortet. Daher muss ich mit Schwertern und Speeren heimkehren und sie dazu zwingen, vor mir als ihrem König auf die Knie zu fallen.«

»Sie hielten dich für tot«, gab Thalia zu bedenken. »Möglicherweise glauben sie nicht einmal, dass du es wirklich bist. Tiothlyn hat dich nur ganz kurz gesehen.« Du hast deinen Vater getötet, dachte sie. Was werden sie wohl tun?

»Sie haben mich nie für tot gehalten«, erwiderte Marith. »Mein Tod wäre für sie zu viel erhofft gewesen.«

So verbittert. Diese unfassbare Verbitterung in seiner Stimme. Aber was weiß ich denn schon von Familie?, dachte sie. Ich wurde bei meiner Geburt dem Gott übergeben. Und dennoch … die kleinlichen Rivalitäten im Tempel, die beiläufigen Nichtigkeiten, die im Laufe der Jahre wuchsen, vereiterten und zu tödlichen Wunden wurden. Ja, vielleicht weiß ich doch etwas über derartige Dinge.

Nach einer Weile fragte sie: »Und was ist, wenn sie sich nicht hinknien?«

Er lachte harsch auf. »Was denkst du? Aber sie werden es tun.« Er verdrehte die Augen und sah bei diesen Worten völlig verrückt aus. Sie erschauderte. So gemein. So viel Hass in ihm. Töte ihn, sagte sie sich. Es ist falsch, etwas anderes als Abscheu für ihn zu empfinden. Aber er wachte in dieser Nacht verschwitzt auf und flüsterte den Namen seines Vaters. Thalia gab ihm Wasser und streichelte sein Gesicht. Seine Augen brannten wie im Fieber. »Aber ich musste es tun. Ich habe es getan. Ich habe es getan. Er hätte mich getötet. Und dich.«

»Ja. Du hast es getan.«

Er hatte beim Abendessen viel getrunken, so wie er es immer tat, mit seinen Lords in der großen Halle von Malth Calien gelacht und gegrölt, rau und grobschlächtig, was sie verabscheute, und nach allem, was er ihr erzählt hatte, war sie davon ausgegangen, ihm würde es genauso gehen, aber er schien völlig von ihnen in Beschlag genommen zu werden, ein Mann unter Männern, ein König an seinem Hofe, ein Krieger, der sich seiner Taten brüstete. Er genoss ihre Bewunderung, und die Neidischen unter ihnen brachten endlose Trinksprüche auf Marith aus, den Kriegsherrn, Marith, den Eroberer, Marith, der sogar Amrath in den Schatten stellte. Thalia gegenüber lachte er darüber und verspottete diese Worte, aber sie erfreuten ihn, und sein erhitztes Gesicht strahlte; am nächsten Morgen sagte er ihr lächelnd, sie wären hohle, feige Narren, nur um am Abend erneut mit ihnen seinen Wein zu trinken und erfüllt von ihrem Lob und vor Stolz lachend ins Bett zu taumeln.

»Er hat mich gehasst.«

»Ja.« Sie dachte: Er hat dich nicht gehasst. Das habe ich gesehen, ich, die ich nie einen Vater gekannt habe. Er hat dich nicht gehasst, nicht mehr, als du ihn gehasst hast. Aber da ist noch etwas anderes, das nicht ausgesprochen werden kann. Wenn wir die Lüge oft genug wiederholen, wird sie wahr, oder nicht? Ohne diese Lüge … ohne diese Lüge sind wir nichts.

Ich hätte in meinem Tempel bleiben sollen, als die Männer kamen, um mich zu töten. Ich hätte die anderen Priesterinnen wecken, die Wachen rufen sollen. Doch ich habe nicht um Hilfe gerufen. Ich bin weggerannt. Zwei Sklaven fanden den Tod. Ich lief fort.

»Ich werde ihn mit allen Ehren bestatten.« Marith rieb sich heftig die Augen.

Er ist fast schon bemitleidenswert, schoss es Thalia durch den Kopf. Und ich … ich habe Mitleid mit ihm. So werden wir in der Tat glücklich sein. Wenn Mitleid und Leidenschaft zusammen Liebe und Glück hervorbringen können.

»Mit allen Ehren.« Er dämmerte bereits wieder weg. »Er hätte dich getötet … Er hat allen gesagt, ich wäre tot … König Illyn …«, murmelte er abermals und rieb sich das Gesicht. »König Illyn Altrersyr …« Vor Thalias innerem Auge entstanden die Mauern des Großen Tempels, hoch und gewaltig, der kurze Blick auf goldene Kuppeln und silberne Türme, der Klang von Stimmen, Gesprächen über Dinge, die sie nie gesehen hatte. Hohe, dicke Mauern, die die Welt aussperrten.

 

Das Wetter änderte sich; es wurde bitterkalt, die Welt gefror, eines Morgens war alles mit einer dünnen Schneeschicht überzogen. Die Sümpfe froren zu, und die dünne Eisschicht knackte, wenn ein Mann den Fuß darauf setzte. Das Schilf stand nackt und schwarz da. Die Vögel flohen vor dem Eis, die letzten Schwärme versammelten sich auf den Dächern von Malth Calien, um wie lange Rauchschwaden in den Westen zu fliegen. Einsame Rehe wanderten auf der Suche nach Futter über die gefrorene Landschaft. Die dick mit Frost ummantelten Baumstämme bogen sich durch. Die letzten Lords der fernen Inseln trafen ein, und aus Seneth war zu hören, dass Tiothlyn in Malth Elelane zum König gekrönt worden war und eigene Truppen aushob.

»Warum hasst er ihn?«, fragte Thalia Matrina Fiolt, Osens Frau. Zuerst hatte Thalia sie nicht gemocht, diese goldhaarige Frau mit schweren, tief hängenden Brüsten und runden Wangen, die Marith schöne Augen machte und ihn anlächelte, die ihn länger kannte, die wusste, wie sie Dinge zu sagen hatte, die Thalia nicht begriff, die ihn jedoch zum Lachen bringen konnten. »Herrin«, nannte sie Thalia, aber in ihrer Stimme schwang etwas mit, das Thalia aus dem Tempel kannte, eine Demut, die schneidend wie ein Messer war. Doch es war so langweilig, an diesem kalten Ort herumzusitzen und auf die Sümpfe hinauszublicken, während man an nichts anderes denken konnte als an das, was kommen würde.

»Wer? Wer hasst wen?«

»Marith. Warum hasst er seinen Bruder? Und die Königin?«

Matrina legte ihre Stickerei beiseite, einen langen, feinen Gürtel mit Blumenmuster. Sie runzelte die Stirn. »Ich … Die meisten Brüder hassen einander, jedenfalls ein bisschen, glaube ich … Und Marith und Ti … Ich kann es nicht sagen, ich bin Tiothlyn nie begegnet. Aber es muss schwer gewesen sein für sie beide, bei allem, was vor ihnen lag … Und Mariths Bruder zu sein … Habt Ihr keine Brüder oder Schwestern, auf die Ihr neidisch wart? Habt Ihr Euch nie als besser, schlechter oder anders gesehen oder geglaubt, Eure Eltern würden Euch weniger lieben?«

Nein. Nichts davon. Für sie hatte es nur den Gott gegeben, den Großen Tanis, der über Alles herrscht, dessen Macht bis in einen kleinen dunklen Raum und zu einem Messer reichte. Leben und Tod kenne ich, dachte Thalia. Licht und Dunkelheit. Das Töten. Doch nichts dazwischen. Nichts, was im Leben eines Menschen von Bedeutung war.

»Ich habe mich als Kind ständig mit meinem Bruder gezankt«, fuhr Matrina fort, »wir gerieten uns wegen jeder Kleinigkeit in die Haare. Ich habe ihn selbstverständlich geliebt, aber ich war auch froh, als ich abreisen und herkommen konnte. Und sie sind altersmäßig nicht weit auseinander und sich sehr ähnlich, und Marith … und die leibliche Mutter des Königs …«

»Sie ist tot«, sagte Thalia. »Sein Vater hat sie getötet.«

Matrina errötete leicht und lachte. »Seht mich nur an!« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund, nicht darüber zu reden; jetzt nicht mehr. Sie starb, als Marith noch ganz klein war, und der König, der alte König, meine ich, König Illyn, heiratete kurz darauf Königin Elayne. Diese alten Geschichten geraten in Vergessenheit. Was macht das schon? Sie starb vor zwanzig Jahren. Aber dann fing Marith an, darüber zu reden, baute sich vor seinem Vater auf und beschuldigte ihn, schuld am Tod seiner Mutter zu sein. Mein Vater und mein Bruder waren dort und haben alles mit angesehen. Und Tiothlyn war damals so wütend. Der König natürlich auch. Marith musste sich entschuldigen und behaupten, es wäre alles gelogen. Aber wer weiß? Junge Männer streiten sich mit ihren Vätern und Brüdern und hegen einen Groll gegen ihre Stiefmütter. Mein Vater und mein Bruder zanken sich auch häufig. Mein Vater war sich nicht einmal sicher, ob es ernst gemeint war …«

So ging es immer weiter. Selbst damals hatten die Schatten bereits an ihm genagt … Thalia erschauderte. Sie sah alles vor sich, den alten König, Augen und Mund offen, golden wie Honig. Mörder allesamt. Tod und Hass. Wieder und wieder und wieder.

Ein Klappern im Hof, eine raue Stimme brüllte: »Schneller! Noch mal! Wenn ihr das nicht schneller könnt, seid ihr alle tot! Noch mal!« Ein Schwall feinen Pulverschnees wehte durchs Fenster herein. Sand und Staub waren vor langer Zeit gelegentlich in den Tempel geweht, als alles anders gewesen war.

»Seneth ist eine wunderschöne Insel«, sagte Matrina. »Vielleicht nimmt Osen mich mit, damit wir dort leben können, falls der König ihn weiter an seiner Seite haben will.« Sie runzelte erneut kurz die Stirn, griff nach ihrer Stickerei und fuhr damit fort. »Ich wünschte, mein Vater würde kommen. So ist die ganze Angelegenheit recht peinlich.« Marith hatte Thalia die Angelegenheit erklärt: Matrinas Vater Lord Dair saß in seiner Halle auf der Beleninsel und war hin- und hergerissen zwischen seinem Erstaunen über das Glück seines Schwiegersohnes und seiner eigenen Loyalität den Muraden und der Königin gegenüber. All diese komplizierten Verstrickungen bereiteten Thalia Kopfschmerzen. Letzten Endes ging es doch immer nur darum, einen Angehörigen zu töten.

 

»Wir haben Krieg«, sagte Marith erschöpft, als sie ihn danach fragte. Sie standen nebeneinander auf der Außenmauer und beobachteten eine Kolonne von Männern, die durch das Tor marschierte. »So läuft es nun mal im Krieg.« Sein Gesicht war blass, und er verfolgte das Vorankommen der Soldaten mit gierigen Augen. Purpurfarbene Rüstungen und dunkle Speere, flatternde weiße Banner, auf denen eine orangefarbene Sonne loderte, kamen von im Wattenmeer liegenden Schiffen herauf, von denen man schwarzes Holz, weiße Segel und auf den Bug gemalte rote Augen erkennen konnte. Fast der Letzte, dachte er, Stansel von Belen mit dreihundert Mann und fünf Schiffen. Kein riesiges Heer, das sich hier versammelt hatte, aber groß genug, um die Hallen von Malth Calien zweimal zu füllen, und nun hatten die Männer im Obstgarten und auf der Pferdekoppel ihre Zelte aufgeschlagen, fraßen der Burg und den Dörfern die Lagerhäuser leer und jagten und fischten in den Sümpfen, bis es nichts mehr zu fangen gab. Jene, die zurückblieben, erwartete ein harter Winter. Der Boden rings um die Burg war von Abwasser verdorben, und die Krankheiten würden nicht lange auf sich warten lassen.

Sie mussten bald aufbrechen. Marith wusste das natürlich. Die in der Burg eingepferchten Männer wurden unruhig und waren begierig aufs Kämpfen. Irrlichter flackerten draußen in den Sümpfen. Schatten umkreisten die Türme von Malth Calien. Grelle Todesschreie am Abend. Töten und töten und töten und töten. Tod! Tod! Tod! Es wäre besser für ihn, wenn sie aufbrachen, dachte Thalia. Hinaus in die frische Luft. Etwas taten. Er saß abends in der Halle und ließ sich lobpreisen und als König und Eroberer bezeichnen, und die meiste Zeit lachte er mit ihnen und glaubte es, aber manchmal verspottete er sie auch oder verfluchte sie in ihrem Beisein, und einmal war er zusammengebrochen und hatte geweint. Er musste fort von all dem. Wenn sie allein sein konnten, wieder sie selbst wären … Sie standen zu zweit auf den Mauern, und er hatte sein trauriges Lächeln aufgesetzt und sah eher aus wie früher, wunderschön und trostlos wie der Frost auf den Sümpfen. Sie würden nach Malth Elelane gehen. Sie würden seinen Vater begraben, und er würde sie zu seiner Königin machen. Und dann würde er vielleicht endlich etwas Frieden finden.

Er sah sie mit seinen schönen toten Augen und seinem Lächeln an, als die letzten Männer auf den Hof kamen und jemand mit lauter Stimme befahl, das Tor zu schließen. »Das sind die Letzten. Bald. Sehr bald.«

Männerstimmen hallten über den Hof, Befehle, Begrüßungen, Jubel. Sie gelangten von der Mauer mitten hinein, zwischen die Männer, Pferde und Diener, Matrina Fiolt mit nervöser Miene, die versuchte, in ihrem Haushalt so etwas wie Ordnung herzustellen.

»Lass uns zur Schmiede gehen«, schlug Marith vor. Er sah dort gern bei der Arbeit zu, wenn der große Hammer auf den Amboss prallte, in hohem Bogen die Funken flogen, das weiße Metall zischte, zuckte und beim Abkühlen schwarz wurde, wie das Licht der Sonne im Kessel strahlte, aus dem sich flüssiges Feuer ergoss, das heller war als das Licht. Es hatte beinahe etwas Heiliges, wie seine Augen mit den Funken tanzten und der Lärm so laut in den Ohren dröhnte, dass jeglicher Gedanke übertönt wurde. Sie behielten die alten Bräuche bei, die Männer der Inseln, und brachten Gaben in Form von Bier, Honigwaben oder grünen Weideästen für die Männer der Schmiede und verbeugten sich leicht vor ihnen aus Hochachtung vor ihrer Macht, aus dem glänzenden Licht Dinge zu erschaffen, sie zu verbrennen und Totes zu neuem Leben zu erwecken. Mit ihren geschwärzten Händen voller Narbengewebe und den glänzenden Metallsplittern, die in ihre Haut eingebettet waren, glichen sie Halbgöttern. Magiern. Totenbeschwörern. Drachenmännern.

»Es ist fast fertig«, stellte Marith glücklich fest, als sie durch die niedrige Tür der Schmiede traten. »Das Schwert.« Der Hammer fuhr herab, es stank nach Metall, und seine Stimme ging unter. Sie standen schweigend da und sahen zu, wie der Meistereisenschmied ein Langschwert fertigte.

Er nahm das Schwert vom Amboss, tauchte es in einen Eimer Wasser, aus dem Dampf aufstieg. Er drehte es in den Händen und warf es hoch, um ein Gefühl für das Gewicht zu bekommen. Dann reichte er es Marith. »Es muss noch bearbeitet werden, aber wenn mein König es in der Hand halten möchte …?«

Marith nahm es vorsichtig entgegen, begutachtete es, drehte und wendete es, so wie der Schmied es zuvor getan hatte. Er hob es hoch und ließ es auf den harten Steinboden herabfahren. Das Klirren von Metall ertönte. Funken stoben auf. Schmutzig und unfertig. Es glänzte in seiner Hand.

»Ein gutes Schwert, denke ich. Das Gewicht fühlt sich richtig an.« Er gab es dem Schmied zurück. »Was meint Ihr, wie lange braucht Ihr noch?«

Der Schmied dachte nach und verlagerte das Schwert von einer Hand in die andere. »Ein paar Tage, vielleicht … drei oder vier? Es muss gehärtet, gehämmert und wieder gehärtet werden. Das letzte Abkühlen erfolgt in Pferdeblut. Schärfen, die Edelsteine einsetzen, die Runen erschaffen … Fünf Tage.« Er musterte Marith besorgt. »Stellt das meinen König zufrieden?«

»Selbst wenn es nicht so wäre, könnte ich die Sache kaum beschleunigen. Also werden wir wohl so lange warten müssen. Immerhin bedeutet das fünf weitere Nächte in einem weichen Bett. Fünf weitere Tage, an denen Tiothlyn König spielen kann.«

 

Fünf Tage. Zwei Tage und zwei Nächte wilden Feierns, die Männer tranken, bis sie in der Halle zusammenbrachen, es kam zu Streitereien um eine Frau, ein genuscheltes Wort oder gar ohne guten Grund, drei Männer starben, einer wurde schwer verletzt, und in der Halle wurde es immer chaotischer und dreckiger. Lobgesänge und Kriegsballaden wurden geschmettert, wilder und wütender und voller eifriger Freude. Einen Tag und eine Nacht der Ruhe, Malth Calien grau und schweigend, schlafend. Diener schlichen durch die Gänge und schrubbten alles wieder sauber. Der Schnee kam, Weiß bedeckte die Ruinen, so wie es in Malth Salene geschneit hatte, um die Toten zu bedecken.

Dann unverhoffte Aktivitäten, in der Burg herrschte Trubel wie in einem Rattennest, Hektik, Schreie, überall Wagen und Rüstungen und Schwerter. Aus dem Chaos bildete sich eine Armee, achttausend Mann, bewaffnet und bereit, Pferde, Schiffe, Vorräte. Sie drang in die Welt vor wie ein Kind bei seiner Geburt. Verschmolz wie Bronze in der Schmiede. Trotz der Nachtruhe war Marith rastlos, murmelte im Schlaf, bis er endlich mit dem Gesicht in Thalias Haaren etwas Ruhe fand. Bei Anbruch des fünften Tages kamen Diener, um sie zu wecken, anzukleiden und in Amraths Kapelle zu bringen, wo sie um seinen Segen für den bevorstehenden Krieg baten.

Die Lords von Mariths Armee standen voll gerüstet beisammen. Draußen in den Höfen stellten sich die Soldaten in langen Reihen auf. Gedämpfte, angespannte Stille. Marith allein neben Amraths Statue, das steinerne Gesicht dem seinen so ähnlich.

Osen trat vor, kniete sich vor Mariths Füße und reckte ein Schwert in der Scheide empor. Die Scheide aus dunkelrotem Leder, über und über mit Silber verziert, Drachen bei dem Versuch, ihre Schwänze zu fangen. Ein Griff aus dunklem Silber, schlichtes, unbearbeitetes Metall mit einem einzelnen großen Rubin am Knauf. Marith zog es. Die Klinge zischte in der Luft.

»Ich bin Marith Altrersyr, Lord der Weißen Inseln und von Illyr und von Immier und der Ödnis und des Bittermeeres. Der Erbe von Amrath und Serelethe. Der Drachengleiche. Der Dämonengeborene.« Er ließ das Schwert langsam sinken und drehte sich zu der Statue um. »Amrath! Ich ziehe los, um meinen Thron zurückzuerobern, der einst deinem Sohn gehörte, um die wahre Linie deiner Kinder wiederherzustellen und meinen rechtmäßigen Platz als dein Erbe, als Lord und König einzunehmen. Wo das Volk der Weißen Inseln ehedem deine Gefährtin Eltheia willkommen hieß, werde ich stehen und als König empfangen werden. Ich werde König sein.«

Die Menge in der Kapelle sank auf die Knie, wobei Rüstungen klapperten und schwere Seide raschelte. Alle holten tief Luft und hielten sie einen Augenblick an, die Anspannung der Stimmung vor einen Wolkenbruch gleich. Und dann das Gebrüll: »Preiset Marith Altrersyr, Ansikanderakesis Amrakane! König Marith! König Marith!« Weißes Feuer zuckte über die Länge der Klinge wie Wasser, toste über Mariths Hände, vergoldete ihn, bedeckte ihn, fuhr die Linien seiner Knochen und Haare nach; er legte die Finger fester um den Schwertgriff, weißes Feuer züngelte über seine Haut, hell und flüssig, strahlend wie die aufgehende Sonne. Er stand da und blickte sie an, sein Volk, reglos wie die Statue neben ihm, die nicht brannte, sondern dunkel und schweigend verharrte, das Gesicht dem seinen so ähnlich. Thalia fragte sich, ob er überhaupt bemerkte, dass er brannte.

Er steckte das Schwert in die Scheide. Das Feuer erlosch. Lächelte Thalia an. Diese Freude in seinen Augen. Sieh nur! Sieh! Erblicke, was ich bin! Erblicke, was ich getan habe!

Der Hof erhob sich und bejubelte ihn als König. »Preiset Marith Altrersyr, Ansikanderakesis Amrakane! König Marith! König Marith!« In Prozession ging es aus der Kapelle und hinunter an die Küste, wo die verankerten Schiffe auf dem Meer schwankten und andere aufs Watt gezogen worden waren. Marith hielt Thalias Arm, hatte den Blick erhoben, ohne jedoch etwas zu sehen. Er schaute in weite Ferne, ins Feuer und ins Licht. Seine Hand war kalt wie eisiges Metall. Ihnen folgten die Lords und Ladys, atemlos, noch immer seinen Namen jubelnd. Die Soldaten kamen danach, die Diener, Malth Calien leerte sich, alle Menschen eilten hinaus aufs Watt, wo die Schiffe warteten, und reckten die Hälse, um den König zu sehen. »Preiset Marith Altrersyr, Ansikanderakesis Amrakane! König Marith! König Marith!«

Ein Signalfeuer brannte am Ufer. Männer hatten die ganze Nacht Wache gehalten und die Flotte vor den Mächten des Meeres und des Himmels beschützt. Nun im glitzernden Morgenlicht sah Thalia lange Schatten, die sich um die Masten wanden. Irrlichter flackerten in den Sümpfen und waren selbst bei Tageslicht auszumachen.

Marith blieb vor dem Feuer auf dem Sand stehen. Einige Wellen schlugen bis an seine Stiefel. Abermals zog er das Schwert.

Ein Pferd wurde gebracht, den Harnisch üppig mit Gold verziert. Es stolzierte prächtig daher, und die glatten Bewegungen seiner Flanken glichen Wasser, das über Steine floss. Erst als es zu Marith kam, begriff es. Es blähte die Nüstern, schnaubte, verdrehte die Augen. Marith streckte eine Hand aus, und es beruhigte sich, sank vor ihm nieder und senkte den Kopf. Der Schnitt war sanft. Blut strömte in den Sand und lief ins Meer. Schweigen. Dann, aus eintausend Kehlen, ein gewaltiger, wortloser Triumphschrei, Schwerter, die gegen Schilde hämmerten.

Als das Pferd tot war, stellte man es auf Holzpfählen ins Wasser, und die Männer jubelten bei der Arbeit. »Amrath! Amrath und die Altrersyr! Sieg dem König!« Möwen und Krähen kamen sofort kreischend herbei. Der Tod zog sie an. Tote Dinge wie die Schwerter. Der heiße Gestank des Blutes ließ Thalia erschaudern. Erinnerungen. Trauer. Stolz. So viele hatte sie getötet in ihrem Tempel, um den Sterbenden den Tod zu bringen und das Leben zu jenen, die leben mussten. Sie spürte Blut auf ihrer Haut. Das Pferd wackelte auf den Pfählen, das Blut fiel ins Wasser, schwarz auf der silberschwarzen See. Die Blutfäden im Wasser glichen Mariths lockigem Haar.

Trompeten erklangen. Der langsame Schlag von Trommeln. Die Männer bewegten sich im Einklang, eine aufgewühlte Masse an der Küste, farbige Tuniken, farbige Rüstungen, farbige Banner. Wie schillernde Käfer. Blühende Blumen. Edelsteinbehängte Frauen, die mit wirbelnden Gewändern tanzten. Der Marsch zu den Schiffen, Schwerter, Schilde und Helme, wartende Gesichter, eine geordnete lange Reihe hinter dem toten Glückspferd, durch das Wasser stapfen und die Schiffe mit ihren glotzenden roten Augen besteigen, und das Wasser floss mit den Ranken aus Pferdeblut dahin, von Watt und Schlick stieg der Geruch nach Salz und faulen Eiern auf, helles Licht glitzerte auf den Wellen.

Diener halfen Thalia auf das Schiff. Ihre Füße rutschten auf den nassen Planken aus. Die nassen, schweren Röcke klebten an ihren Beinen. Kalt und widerlich wie tote Haut. Auf ein anderes Schiff kamen Pferde, die austraten und wieherten, woraufhin die Knechte nur noch lauter fluchten. Thalias Furcht glich der der Pferde, selbst dann noch, als Marith lächelnd ihren Arm nahm und sie Königin nannte. Blut an seinen Händen, das vom Meerwasser nicht fortgespült worden war. Sie konnte das frische Blut an ihm riechen, trotz seines stinkenden, verkrusteten Umhangs. Osen reichte ihm einen goldenen Becher, und er hob ihn hoch und warf ihn hinaus in die Wellen. Der Becher leuchtete im Sonnenlicht, Wein ergoss sich in das mit Blut vermischte Wasser.

»Möge uns die See nicht trotzen! Möge uns der Himmel nicht trotzen! Sieg!«

Der wortlose Jubel hallte zu ihm herüber. Schwerter hämmerten auf Schilde.

Wir ziehen vermutlich in den Krieg, dachte Thalia. Wie absurd. In den Krieg! Sie hatte ihm gesagt, dass sie mitgehen würde, dass sie nicht hier in den Sümpfen herumsitzen und auf ihn warten wollte. Vor der Schlacht in Malth Salene hatte sie auf einem Pferd Reißaus genommen, und Männer waren ihretwegen voller Schmerzen gestorben. Sie war die Hohepriesterin des Herrn über die Lebenden und Sterbenden gewesen, die heiligste Frau im ganzen Sekemleth-Reich. Sie würde nun als die Armee von Amraths Königin mit ihm ziehen.

»Denkst du …«, hatte sie ihn gefragt, »denkst du etwa, ich hätte Angst?«

»Natürlich nicht.« Er versuchte sich an einem Lächeln. »Aber ich habe Angst um dich.«

»Das musst du nicht.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Es wird so oder so alles gut«, versicherte er ihr.

Am Ufer mühten sich Männer mit dem Fass ab, in dem König Illyns Leiche steckte, und luden es vorsichtig auf ein Schiff. Das tote Gesicht mit den offenen Augen und Lippen sah noch immer erschrocken aus. Nun wurde er tatsächlich ehrenvoll behandelt, der Leichnam seines Vaters. Töte ihn, verfluche ihn, und begrabe ihn mit Gold und Liebe.

Die Schiffe waren bereit, die Truppen reihten sich an Deck auf. Matrina und ihre Frauen standen am Ufer neben dem toten Pferd. Windgepeitschte Gesichter. Schwarzer Schlamm auf feinen Röcken. Am Schiff des Königs flatterte das tiefrote Banner der Altrersyr, weißer, mit rotem Blut getränkter Stoff. Helle Segel, gebläht im Wind. Das Schiff ruckelte. Setzte sich in Bewegung. Marith stand mit weit aufgerissenen Augen am Bug, die Wangen fiebrig gerötet.

Ein gewaltiger Schrei durchschnitt die Luft wie ein scharfes Schwert. Ein Schatten flog über sie hinweg. Ein Adler. Schwarz gegen die Sonne. Er drehte sich über ihren Köpfen und zog Kreise über der Flotte. Die Augen der Männer, die aufgemalten roten Augen an den Schiffen und die toten Augen des Opfertieres blickten zu ihm empor. Schreie. Ein Tiefflug über die Schiffe. Hoch in den Himmel, und das Licht zuckte über seine Flügel. Etwas fiel aus seinen Krallen, trudelte durch die Luft, stürzte herab und landete vor Mariths Füßen. Ein leises Knirschen. Der Adler schrie und war verschwunden.

Vor Marith lag ein Fohlen, neugeboren, mit Blut und Flüssigkeiten bedeckt, noch in der schimmernden Eihaut.

Ein seltsamer Geruch nach Geburt und Blutvergießen. Es zuckte kurz, als wäre es noch am Leben.

»Das Glückspferd! Das Glückspferd!« Ehrfürchtige, flüsternde Stimmen auf dem Schiff. Hände, die Zeichen des Erstaunens schlugen, Zeichen gegen große Magie und göttliche Dinge. »Das Glückspferd!«

Marith starrte den jämmerlichen Körper an, sah zum Himmel hinauf und blickte in die Sonne, ohne zu blinzeln. »Das Glückspferd.« Er nahm Thalias Hand. »Hast du es gesehen? Verstehst du es?« Die Männer auf dem Schiff beugten die Knie. Marith hob das widerliche Ding auf. »Hoch damit! Rauf auf den Mast!«

Sie banden es über das Segel, Seemänner krabbelten wie Echsen hinauf, einer hatte sich die kostbare Fracht auf den Rücken gebunden, und die langen, zarten Beine wackelten, als hätte er seltsame Flügel ausgebildet. Noch schimmerte es schwarz und regenbogenfarben in der Sonne. Thalia wollte sich abwenden, aber dann hätte sie die Leiche des geopferten Pferdes am Ufer ansehen müssen. Verstehe ich es?, fragte sie sich. Irgendetwas davon?

Unter einem Banner aus toten Pferden segelte die Flotte schnell über das helle Wasser, und gemalte rote Augen blickten gierig ihrem Ziel entgegen.