XII

Dienstag. Nachmittag. Ich besuche einen alten Weggefährten in seinem Münchener Büro. Nein, »Weggefährte« wäre anmaßend. Er ist mehr als 30 Jahre älter. Vielmehr hat er einige Wege geebnet.

Zuletzt war ich vor mehr als zehn Jahren hier. Er hat mich immer warten lassen. Nie aber hat er es versäumt, mich seinen vorherigen Gästen vorzustellen. Ein begnadeter Netzwerker. Seine Büroräume waren eine Drehtüre für selbst ernannt und tatsächlich ­Bedeutungsvolle. Die Einrichtung ist sogar für ­Münchener Verhältnisse mondän. Erfolgsbewusst und statusgetrieben. Bilder mit den Wichtigen. Manchmal eine Widmung. Urkunden.

Man bittet mich zu warten. Natürlich. Aber etwas ist anders. Es ist ruhig. Zu ruhig. Außer der Dame am Empfang ist niemand zu sehen. Im Hintergrund läuft eine Klassik-Playlist. Ausschließlich Beethoven. Von der unvermeidlichen »Für Elise« zur mäßig interpretierten »Eroica«:

Die Tür schwingt auf. Ein dröhnendes »Hallo«. Umarmung. Wie früher. Nur kein vorheriger Gast, den er mir vorstellen könnte. Er wirkt gealtert, müde. Schon lange müsste er nicht mehr arbeiten. Die Verantwortung für das Tagesgeschäft ist längst abgegeben.

»Warum gehst du überhaupt noch ins Büro?«, frage ich ihn.

Ich erwarte eine selbstbewusste Antwort, wie etwa: »Ich werde hier noch gebraucht.« Stattdessen Schweigen. Lange.

Schließlich sagt er: »Weil ich sonst so gotterbärmlich einsam bin. Ich ertrage es nicht, allein zu Hause zu sitzen.«

Er kenne seine Kinder und Enkel kaum. Sie würden ihn meiden. Zwei Familien der Karriere geopfert. »Mit meiner dritten Frau war ich glücklich. Dann der verdammte Krebs. Und ich stelle fest, da ist keiner mehr. Nichts. Hier habe ich wenigstens die Erinnerung und gelegentlich Gäste wie dich.«

Wir sprechen etwa eine Stunde, scherzen, tauschen Anekdoten aus. Ich verabschiede mich. Er starrt auf die kalte, leere Platte des Schreibtisches. Früher standen hier Fotos seiner (jeweiligen) ­Familie. Der Tisch würde ihn an einen Obduktionstisch erinnern. Eine schauerliche Metapher. Fehlt nur noch ­Beethovens Fünfte aus den Lautsprechern im Flur. Es wird uns erspart.

Zwei Tage später rufe ich ihn an. Ob ich seine ­Geschichte anonym teilen dürfte. »Erzähle sie. Vielleicht bringt sie jemanden zur Besinnung.« Er hält kurz inne: »Ich habe alles erreicht und alles versäumt. Euch bleiben noch ein paar Jahre. Macht es anders.«

Freitag. Velden am Wörthersee. An der ­Promenade eine Büste von Roy Black. Ich glaube, sie wurde ­bereits mehrfach geklaut. Es gibt elegantere Briefbeschwerer. Bürgerlich hieß der Schlagersänger und Schauspieler Gerhard Höllerich. Ein Bühnenleben auf der Überholspur. Gleißendes Scheinwerferlicht. Aber immer ein Rollenspiel. Irgendwann der Verlust der Authentizität. Die Leere im Herzen. Der Spott. Die Aufmerksamkeitssucht. Der Alkohol. Er wurde gerade einmal 48 Jahre alt.

Von Beethoven über meinen Bekannten zu Roy Black: drei Ikonen erfolgsverwöhnter Verlassenheit. Eine seltsame Woche.