Donnerstagvormittag. Berlin Mitte. Ein Spielplatz, auf dem vor vielen Jahren unsere Kinder tobten. Manchmal führt mich eine merkwürdige Romantik an solche Orte zurück. Vielleicht auch Melancholie.
Die Hauptstadt zeichnet an diesem Morgen ihr Antiklischee. Ein Angestellter des Straßen- und Grünflächenamtes sorgt für nahezu sterile Gepflegtheit. Im Sand liegen bunte Plastikschaufeln statt Heroinspritzen. Der lustige Hundehaufen-Slalom zu den Klettergerüsten ist Geschichte. Ebenso die morgendlichen Bierdoseninstallationen im umliegenden Park. Fröhliches Kinderkauderwelsch. Vielsprachig. Mehr Väter als Mütter auf den Bänken. Vielleicht sind es auch männliche Nannys. Wie gendert man eigentlich Nanny? Könnte in diesem Stadtteil einer Erwartungshaltung entsprechen.
Ein kleiner Junge steht oben auf der Rutsche. Er wirkt verunsichert. »Papa, ich hab’ Angst!« Eine Person, die Papa sein dürfte, schlurft heran. Handy am Ohr. »Blödsinn, wovor hast du Angst? Die anderen haben auch keine.« Der Junge sucht die Augen des Vaters. Er klettert die Leiter wieder herunter, zittert und beginnt zu weinen. Sein Vater hat sich bereits umgedreht. »Was für ein Schisser«, lacht er ins Telefon. »Knickt jetzt bereits ein.«
Ich setze mich auf eine Bank. Ein Blick in die Tageszeitungen. Die Themen bedrücken. Potenzielle Eskalation im Ukrainekrieg. Auswüchse künstlicher Intelligenz. Bankenpleiten. Klimawandel. Der Grundtenor eines Teils unserer Gesellschaft scheint zu lauten: »Nur nicht einknicken.« Ein anderer: »Nur nicht einmischen.« Im Kern zwei Formen des Umgangs mit Angst. Ohne diese aber zu artikulieren. Diese Blöße will man sich nicht geben.
Auch ich hatte meine Ängste. Zur Genüge. Vor Versagen. Vor der nächsten Schlagzeile. Vor Charaktervernichtung. Vor den anklagenden Blicken meiner Nächsten. Vor Verlust. Manches trat ein. Vieles anders. Ich habe ein halbes Leben gebraucht, um zu verstehen, wie viel davon Selbstprojektionen anderer sind, die mich nicht berühren müssen. Gelegentlich flackert sie, die Angst, natürlich noch auf. Dann hilft der Gedanke, dass unsere Realität nie die Zukunft ist.
Ich schaue wieder auf den Spielplatz. Erneut heult ein Kind. Wütend. Es steigert sich in einen beachtlichen Jähzorn. Eine Frau, offenbar die Mutter, klappt ihr Tablet zu, steht von ihrer Bank auf und geht zu dem Kind. Seelenruhig. Kein Wort. Sie nimmt es in den Arm und drückt es fest an sich. Anfangs wehrt sich das Kind. Schreit weiter. Nach einigen Minuten nur noch vereinzelte Schluchzer. Dann ist es still. Beide verschmelzen zu einem Atemzug. Ein Bollwerk der Ruhe gegen alle Ängste.
Eine Umarmung. Das Kind ahnt noch nicht, wie flüchtig Vertrauen und Geborgenheit sein können. Es erkennt nur ihre Notwendigkeit. Manche sind ein Leben lang auf der Suche nach dieser Erfahrung. Oft unbewusst. Für andere ist es lediglich rührseliges Beiwerk. Umarmt wird allein der Erfolg. Und umgekehrt. Mephistophelisch.
Eine Umarmung. Mir fehlte sie zuweilen in meiner Kindheit. Nicht mehr.