XVI

»Sie hat ihn vernichtet. Die Hauptstadt. Obwohl er sein Leben für sie aufgeopfert hat. Nein. Unseres. Ich verfluche Washington.« So beginnt die E-Mail einer amerikanischen Bekannten. Geschrieben noch vor der Pandemie.

Donnerstagnacht. Es ist erbärmlich spät, als ich mich an jene Zeilen erinnere. Ich bin hundemüde. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt ausgerechnet ein Buch mit dem Titel »Noch wach?«. Originalverpackt. Frenetisch gefeiert als »Schlüsselroman« eines streitbaren Autors.

Ich habe mir vorgenommen, über den Hype dieses Romans zu schreiben. Eigentlich töricht. Handelt er doch von Sujets, mit denen man nur verlieren kann: Berlin. Machtmissbrauch. Verrat. Medien. Politik. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen kokett unverschleiert. Seit Tagen Schnappatmung in der Szene. Nicht nur unter der Spree-Käseglocke.

Im Dämmerzustand fällt mir kein geistreicher Einstieg ein. Ich suche daher nach der E-Mail meiner Bekannten. Mein Rechner findet sie. Ich nehme das Buch in die Hand, zögere aber, die Schutzfolie aufzureißen.

Mein Blick schweift zurück auf den Bildschirm: »Ein einziger Fehltritt«, klagt sie, »und sie haben ­meinen Mann in die Gosse getreten. Aber er stand wieder auf. Wir hatten so viele neue Pläne. Wollten weg. Endlich. Und dann verliert er sein Gedächtnis. Wir sind jetzt an diese Scheißstadt gekettet.« Sie schildert die Diagnose. Frühes Stadium der Demenz, wahrscheinlich Alzheimer. Ihr Mann will die Ärzte nicht wechseln.

Fast 40 Jahre sind sie verheiratet. Alle Extreme einer Ehe. Leidenschaft und Zweckgemeinschaft. Viele sahen sie als »power couple«. Bewundert und beneidet. Sie liebten das Wechselspiel von Macht und Intrige. Kannten die Glätte des Parketts. Und lebten in der »Bubble« Washingtons. Bis diese sie ausspie. Wie abgenagte Knochen.

Die Mechanismen wiederholen sich. In fast allen Hauptstädten. Seit unzähligen Generationen. Emotionale Intelligenz weicht animalischen Instinkten. Hyäenenhaftes Gebaren. Einmal Blut gewittert, belässt man es nicht bei der Verwundung. Die politische Savanne kennt kein Mitleid. Die meisten sind dort freiwillig.

Rituale der Macht. Der Gier. Der Eitelkeit. So auch in Berlin. Irgendwann verpuffen sie. Und formen sich rasch wieder. Hydragleich. Zudem verhält es sich wie mit Elon Musks SpaceX-Raketen: Das Abheben wird als Erfolg bejubelt. Die Explosion ebenso.

Am Freitag rufe ich meine Bekannte in den USA an und frage sie, wie sich ihr Leben heute gestaltet.

»Wir haben Glück«, sagt sie. »Er scheint zufrieden. Mich erkennt er zwar nicht mehr, dafür den Augenblick. Und ich damit mein Leben.« Wie fern und unwichtig die vor Selbstbedeutung strotzende Hauptstadt dagegen sei. »Keiner vermisst ihn. Anfangs hat mich das getroffen. Heute freue ich mich für uns. Ist das herzlos?«

Gestern habe ich das Buch weggelegt. Ungeöffnet. Vielleicht ist es großartig geschrieben. Verzichtbar ist es allemal.

Ein Sittengemälde unserer Zeit. So preist der Verlag das Werk. Dem ist nichts hinzuzufügen.