XX

Ein Leser dieser wöchentlichen Betrachtungen schreibt mir über den Tod seiner Mutter. Er habe nun beide Eltern verloren. Und damit auch einen »wertvollen Rückzugsort und Ort des Verständnisses«.

Die Sätze berühren mich.

Seine Trauer wird offenbar verstärkt durch das Glück, einen solchen Ort gehabt zu haben. Ausnahme oder Regel in unserer heutigen Gesellschaft?

Der Gedanke ruft mir zwei Erlebnisse ins Gedächtnis, die mir einmal wichtig waren. So wichtig, dass ich sie aufgeschrieben und sogleich wieder vergessen hatte.

Es dauert, bis ich die alten Notizbücher erfolgreich geflöht habe.

»Willkommen in unserem Rückzugsort!«, tönte der deutsche Gastgeber eines Abendessens vor mehreren Jahren in London. Eine stattliche Villa in Notting Hill.

Seiner Frau kam ein eher abschätziges »Ach ja?« über die Lippen. Unüberlegt. Sie erschrak. Lachte verunsichert.

»Ich meinte natürlich den Rückzugsort.«

Betretenes Schweigen unter den ­Eingeladenen. Die zwei Kinder des Hauses drehten sich mit Schei­benwischergeste zum Fenster.

Später. Das Dinnergespräch erwies sich als schwergängig. Kaum überraschend. Und erfuhr seinen Todes­stoß, als einer der Gäste sagte: »Ihr habt euch aber einen wirklich schönen Rückzugsort geschaffen.«

Und an die Kinder gewandt: »Geht es euch nicht auch so?«

»Wie?«, fragte die Tochter.

»Ankommen. Geborgenheit. Familie. Und all das in bezaubernder Umgebung.«

Die Gastgeber wirkten nun extrem angespannt.

Der Gast legte nochmals nach. Seine Gattin, die neben mir saß, versuchte, ihn mit einem Fußtritt zu erreichen. Erfolglos. Ihr Schuh landete im ­Niemandsland unter dem Tisch.

»Na, immerhin euer Vater empfindet es doch so. Als Rückzugsort.«

»Ja, wenn er denn mal nach Hause kommt. Um sich zurückzuziehen. Von uns.« Der Tonfall der Tochter legte Abgründe nahe.

Fröhlicher wurde dieser Abend nicht mehr. Nach der Verabschiedung stand ich in der Garderobe und hörte den Vater lautstark mit seinem Sohn argumentieren.

»Verstehst du nicht? Um dieses Haus zu ermöglichen, war das alles notwendig.« Ein Funke Selbst­gerechtigkeit. Er drohte, die Familie in Brand zu setzen.

»Vielleicht wären wir in einer Wohnung glücklicher geworden«, sagte der Sohn.

Jahre vergehen. Ein Treffen mit einem nahen Freund. Ich war übernächtigt und erschöpft. Er meinte, ich würde die Monotonie eines zerrupften Duracell-Hasen ausstrahlen. Merkt man sich. Eines der kreativeren Komplimente jener Tage. Seine Stimmlage changierte zwischen Mitleid und Vorwurf.

»Kommst du denn jemals zur Ruhe?«

Ich bejahte. Überzeugungslos. War natürlich nicht wahr.

Unser Gespräch kreiste nur um uns selbst. Um unsere Rückzugsorte. Geografische, wie das Elternhaus. Oder rein innerliche. Sie halfen, Erinnerungen an reale Plätze zu überwinden. Kalenderspruch­stimmung bei schlechtem Wein.

Bis er die Frage stellte, ob es hierauf wirklich ankäme. Oder nicht vielmehr, unseren Nächsten einen Ort des Verständnisses zu bieten.

Unvermittelt stand ich wieder in der Garderobe in Notting Hill.