XXIX

Los Angeles. Ich bin auf dem Campus der UCLA, der University of California. Vielleicht das schönste Universitätsgelände in den Staaten. Ich ziehe mich gern zum Ordnen unsteter Gedanken hierher zurück. Auch zum Schreiben. Atmosphärisch einer der wenigen Orte, wo Innovation und Gelassenheit in keinem Spannungsverhältnis stehen. »Inspirierend« wäre wahrscheinlich der abgedroschene Begriff.

Ich sitze auf einer Bank. Ein strahlender Morgen. Nur legt sich über die Makellosigkeit des Himmels seit Jahren ein unsichtbarer Schatten. Negiert und gefürchtet. Er materialisiert sich schließlich in den Feuersbrünsten an der Westküste. Dann entzieht er sich wieder der Wahrnehmung. Stattdessen der immerblaue Himmel am Pazifik. Die morbide Schönheit des Klimawandels.

Mein Vater – Dirigent, Apokalyptiker und Umwelt­aktivist – hat gern auf den korrespondierenden Zauber von Schönheit und Entsetzen verwiesen. Einige Werke großer Komponisten (etwa Wagners »Tristan und Isolde«, Mozarts »Don Giovanni« oder die ­6.  Sinfonie von Mahler) vereinen diesen vordergründigen Gegensatz. Mir ist er gelegentlich in Afghanistan begegnet.

Um der emotionalen Gewalt dieser Erkenntnis zu entgehen, flüchtete mein Vater. Zurück in die Kindheit. In die Nostalgie scheinbar unberührter Natur. Weitgehend ohne Zerstörungen. Er verklärte diesen Teil seiner Jugend. Einen anderen verdammte er. Es war der Teil, den er mit Menschen verband. Insbesondere mit seinen Eltern. Hier fühlte er sich seiner kindlichen Erfahrung beraubt.

Ich muss wieder an das Schreiben des Lesers denken, der über den Tod seiner Mutter trauerte (S. 63). Dort findet sich ein nicht selten bemühter und doch bemerkenswerter Satz. Er habe mit seinen beiden Eltern auch seinen »Kinderstatus« verloren.

Ich habe diese Erfahrung noch nicht machen müssen. Nur mein Vater, der Musiker, ging viel zu früh. Aber der Gedanke streift eine dumpfe Urangst.

»Du bist nun allein.«

In den Untiefen des Bewusstseins abgelegt. Schlummernd. Gelegentlich geweckt durch literarische Figuren. Oliver Twist. Tom Sawyer. Krabat. Waisenkinder zwischen Buchdeckeln. Ist man ihnen als Kind begegnet, verlassen einen diese Verlassenen nie.

Verlassenwerden. Die Normalität für jedes Kleinkind, wenn ein Elternteil aus der Tür geht. Hilflosigkeit. Erste Verlusterfahrung. Sie erwächst bei vielen mit den Jahren zur Lebenskränkung. Wir lernen, damit umzugehen, aber allzu selten sie zu akzeptieren.

Irgendwann zwingen wir uns aus dem kindlichen Gemüt. Empfinden es vielleicht als Befreiung. In unseren scheinbar stärksten Jahren schaffen wir uns aber häufig nicht mehr als einen Verdrängungsraum. Und vergessen wir die Aufarbeitung kindlicher Traumata.

Bis uns die Gegenwart eine Trennung verschafft. Einen Verlust. Eine geliebte Person geht. Aus der Tür. Aus dem Leben. Für immer. Dann werden wir in die kindliche Gefühlswelt zurückgeschleudert und driften haltlos zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Bis uns der Ratschlag ereilt, sich mit der eigenen Kindheit auseinanderzusetzen. Allzu oft gewinnt der Abwehrreflex. Oder der Hochmut, sich selbst gewachsen zu sein. So auch bei mir. Zu lange. Stellt man sich schließlich doch, dann nicht selten auf einem ansehnlichen Scherbenhaufen.

Auf dem Universitätsgelände sind heute auffällig viele Familien. Fast alle Opfer der Merchandise-­Maschinerie der UCLA. T-Shirts, Baseballkappen, Taschen. Eine Logo-Parade nach der anderen turnt an meinem Tisch vorbei.

Dann saust ein Kind um die Ecke. Kauert sich hinter mir ins Gebüsch. Minuten später wird es von der achtköpfigen Verwandtschaft entdeckt. Gewiss drei Generationen. Großes Gequietsche. Applaus dem Sieger des Versteckspiels. Triumphaler Abmarsch auf den Schultern des Großvaters.

Es gibt die Momente, in denen man fast euphorisiert der Kindheit wiederbegegnet. Auslöser mögen eine Albernheit, ein Buch, ein Film oder herumtobende Kinder sein. Manchmal nur ein bestimmter Geruch oder ein Geräusch. Für einen Augenblick sind die Lasten unserer Gegenwart nicht spürbar. Zukunftsängste und Vergangenes ausgehebelt.

Es hat etwas Versöhnliches.