Am Morgen einer Konferenz in Österreich. Plötzliche Unruhe im Publikum. Geflüster. Die Handys werden aus den Taschen geholt, zum Nachbarn gereicht. Ich versuche, die Gesichter zu lesen. Schwierig, da ich gleichzeitig ein Podium über die Potenziale künstlicher Intelligenz moderiere. Unsere Diskussion droht, kläglich vor dem abgelenkten Auditorium zu versanden.
Erst später erfahre ich, es ist der Moment, da weltweit mittels »Breaking News« über einen mutmaßlichen Putschversuch in Russland berichtet wird. Der ehemalige Koch des russischen Präsidenten begehrt auf. Mit Söldnern und einem Marsch nach Moskau. Die Konstellation ist unübersichtlich. Heftige globale Implikationen sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auszuschließen.
Die Nachrichtenlage weckt etwas in mir. Etwas tief Schlummerndes, das ich seit Jahren zu versiegeln suche. Mit allen denkbaren Sperren und Schlössern. Ein Wiederaufleben gilt es zu unterbinden. Unbedingt. Dauerhaft. In Anlehnung an die sieben Siegel in der Offenbarung des Johannes habe ich schon vor Jahren dieses biblische Bild der Einhegung genutzt. Ziemlich pathetisch. Anfangs verglich ich die unterdrückten Elemente sogar mit den apokalyptischen Reitern.
Es sind die Elemente der Charakterformung eines Politikers. Oder seiner Umformung. Befindlichkeiten, die einen nie völlig verlassen, wenn man sich einmal auf dieses Geschäft eingelassen hat. Zumal auf Spitzenebene.
In politischen Großwetterlagen drängen sie nach oben. Unvermittelt. Sie ringen um Beachtung. Das Ausmaß ihrer Beherrschung entscheidet über Karrieren. In beide Richtungen.
Die Elemente sind Aufmerksamkeitsstreben, Gefallsucht, Misstrauen und Skrupellosigkeit. Alle zu einem gewissen Grad miteinander verschränkt. Alle mit einem Lächeln dargeboten, Gelassenheit ausstrahlend. Verkniffenheit würde entlarven. Ebenso zur Schau getragener Ehrgeiz.
Das typische politische Reaktionsmuster in einem Satz: Welche andere lächelnde Gestalt sollte ich in kürzester Zeit aus dem Weg räumen, um mir maximale Aufmerksamkeit und Genugtuung zu sichern?
Selbst nach Jahren der Entwöhnung können diese Elemente noch ihre Sogwirkung entfalten. Sind es doch meist allzu menschliche Empfindungen. Gleichwohl gespenstisch. Dabei weiß man längst, wie flüchtig die erhofften Ziele sind. Tausendfach beschrieben. Hundertfach selbst erlebt. Ich müsste also gewappnet sein.
Bis ein ORF-Reporter an mich herantritt. Ob ich als ehemaliger Verteidigungsminister nicht ein Interview geben wollte. Zur Lage in Russland. Mein erster Gedanke: Du kannst mich mal. Die Zeiten sind vorbei.
Ein Wimpernschlag später: Wer sonst würde bei dieser Konferenz vor der Kamera stehen? Wird jemand die Nachrichtenlage zu seinem eigenen Vorteil nutzen? Kann ich dem Journalisten vertrauen? Wie offen darf ich sein, ohne mir potenziell zu schaden? Die alten Reflexe. Peinlich egozentrisch. Ein Siegel scheint gebrochen.
»Gerne. Wann?«
30 Minuten später gebe ich das Interview. Die erfahrene Aufmerksamkeit hinterlässt die wärmende Illusion von Bedeutung.
Sie erkaltet schnell.
Auf dem Weg vom Konferenzzentrum zum Mittagessen laufe ich hinter zwei Teilnehmern, die mein Interview mitverfolgt haben.
»Routinierter Hund«, sagt der eine.
»Mag sein, aber ziemlich inhaltsleer.«
Ich verarbeite meine Kränkung, indem ich an eine neuere Variante der eloquenten Substanzlosigkeit denke. Der uneitle politische Grübler:
»Ich will dieser höchst komplexen Materie, die so viele Menschen im Tiefsten ihres Herzens bewegt, erst inhaltlich nähergekommen sein, bevor ich zu einer verantwortungsvollen Entscheidung gelangen dürfte.«
So hätte der unvergessene Loriot es formuliert. Feixend. Die Varianten sinnentleerten, rhetorischen Zeitgewinns sind unendlich. Aber eventuell Börne-Preis-würdig.
Uneitelkeit kann sehr eitel gepflegt werden. Die jüngere Vergangenheit ist nicht arm an prominenten Beispielen. Gerade in den Hauptstädten.
Mein Kopf dreht sich. Die letzte Stunde wirkte wie ein schlechter Traum. Eine kurze Rückkehr zu den verbannten Elementen.
Gelegentlich mag ein apokalyptischer Reiter die Oberfläche durchstoßen. Oder ein weniger spektakuläres Pendant. Aber kein Lamm in Sicht, das die restlichen Siegel sprengt.
Draußen. Für immer. Gott sei Dank.