Der Vorhang fällt. Im Theater rührt sich noch keine Hand zum Applaus. Premierenabend eines Klassikers von Shakespeare. Neu inszeniert, hoch emotional und experimentell. Das Bühnenbild eine einzige Provokation. Sekunden vergehen. Das Publikum scheint den Atem anzuhalten.
Plötzlich Ovationen. Die meisten erheben sich von ihren Plätzen. Nun aber auch vereinzelte Buhrufe. Laut, wütend. Ich frage mich, was in dem Augenblick davor in den Köpfen der Schauspieler vorgegangen sein mag. Dieser Moment der Ungewissheit.
Ich fühle mich in eine andere Zeit zurückgeworfen. In die Gemütslage und Handlungsmuster eines Politikers am Wahltag. Immer ein Bühnenstück, meistens ein Drama. Mit einem maßgeblichen Unterschied: Der letzte Akt entzieht sich der Kontrolle. Es ist, als glitte eine detailverliebte Inszenierung plötzlich ins Anarchische. Die Regie wird abgegeben. In die Verantwortung der Wähler. Gänzlich.
Auch hier scheint für eine kurze Spanne die Zeit stillzustehen. Der Kontrast des politischen Geschäfts zur Welt der Kreativen mag im Ausmaß der inneren Leere liegen. So war es jedenfalls bei mir. Trotz monatelangen, zehrenden Wahlkampfes will sich keine Zufriedenheit einstellen. Stattdessen die Gewissheit: Der erste Akt des nächsten Dramas wird in nur wenigen Stunden beginnen. Das Perpetuum mobile politischen Theaters.
Am Nachmittag des Wahltages sickern die Prognosen durch. Parteiführung, Abgeordnete und große Redaktionen wissen längst Bescheid, während die Bevölkerung noch im Unklaren gelassen wird. Was um 18 Uhr, dem Zeitpunkt der Schließung der Wahllokale, allen als ein überraschendes Ergebnis präsentiert wird, ist über Stunden bereits von Medien und Spitzenpolitikern absorbiert. Die nächste Regiearbeit hat schon begonnen. Die Protagonisten verteilen sich auf mehrere Bühnen. Darunter Fernsehstudios und Wahlpartys in den Parteizentralen.
Dort ist – soweit es keine krachende Niederlage gegeben hat – eine möglichst glaubwürdige schauspielerische Leistung abzugeben. Das Spektrum reicht von Zuversicht bis Triumph. Es beginnt das reflexhafte Dehnen der Wahrheit. Wer sich dagegen wehrt, riskiert die Isolation innerhalb der Partei. Die Gäste sind mehrheitlich Mitglieder. Manche karrierebewusst. Andere seit Jahren desillusioniert, aber professionell fröhlich. Alle vereint das Wissen um die begrenzte Halbwertzeit von sogenannten Wahlsiegern. Dazwischen Hauptstadtkorrespondenten, die wie Trüffelschweine die Witterung nach Spaltpilzen aufnehmen. Es ist nicht schwierig, diese zu finden. Denn jeder Wahltag hinterlässt Enttäuschte und Neider in den eigenen Reihen. Auch – und gerade – bei den Gewinnern.
Daraus wird sich irgendwann der zweite Akt nähren. Noch am Abend startet das Geschacher um die besten Rollen.
Bayern wählt am 8. Oktober einen neuen Landtag.
Breitbeinig wird auch das mäßigste Ergebnis zum Erfolg erklärt werden. Routiniert und machtbewusst.
Ein Bewusstsein, das auch die Endlichkeit von Macht umfassen sollte. Deren Tektonik verschiebt sich bereits in der Stunde des Wahlsieges. Wohin, ist niemals völlig klar. Bis jemand aus den eigenen Reihen den Sturz initiiert.
Im Theater treten die Schauspieler ab. Sie wirken erfüllt, sie können ihre Rollen abschütteln. Macbeth will man nicht ins reale Leben übertragen.