Bruce Springsteen on Tour. Mit seiner legendären E Street Band. Das riesige Fußballstadion ist zum Bersten gefüllt. Der Altersdurchschnitt ist ein halbes Lichtjahr von der Generation Z entfernt. Ich singe alle Songs des Drei-Stunden-Marathons mit. Zum wachsenden Ärger meiner Nachbarn. Jedes Lied löst eine Erinnerung aus. An einen Ort, eine Emotion, einen Verlust. Glück und Niederlagen. Über eine Zeitspanne von fast 40 Jahren.
Bis heute kann ich mir weder Witze noch Gedichte merken. Aber jede Textzeile der Alben vom »Boss«. Selbst von B-Seiten der alten Singles.
Ich war 15, als ich ihn das erste Mal hörte. Eine Dorfkirchweih in der Nähe von Rosenheim. Wenige Tage vorher hatte ich mich über beide Ohren in ein etwas älteres Mädchen verliebt. Sie ahnte höchstens meine Schwärmerei, willigte aber ein, mich am Autoscooter zu treffen. Ich hatte mich zehn Minuten verspätet, weil ich ihr noch fünf Plastikblumen vom Schießstand mitbringen wollte. Das Luftgewehr war die Verlängerung meiner Nervosität. Klägliche zwei Rosen. In schauerlichem Gelb und Violett. Als ich mit weichen Knien am Fahrgeschäft ankam, knutschte die Angebetete bereits mit dem Bully aus der Parallelklasse. Der war einmal sitzen geblieben und einen Kopf größer als ich.
Aus den Lautsprechern dröhnte »It’s Raining Men«. Ein Dauerbrenner, den ich bis heute verabscheue. Traumatisiert, nennt man das wohl. Ich setzte mich auf eine Bierbank. Allein mit meiner Kränkung und den Rosen.
Als es keine Männer mehr regnen wollte, schrie plötzlich jemand »Born in the USA« aus den Boxen. Es löste etwas in mir aus. Absurd. Ein Lied, von dem ich kein Wort verstand und das eigentlich eine bittere Abrechnung mit dem Vietnamkrieg ist, tröstete mich, schuf einen befreienden Trotz.
Die Plastikblumen landeten auf der Autoscooterbahn. Der Bully, mittlerweile am Steuer, fuhr natürlich drüber. Es war mir egal.
Am nächsten Tag machte ich mich nach der Schule auf zum nächsten Plattenladen. Ein Sehnsuchtsort verpickelter Teenagerträume in den Achtzigerjahren. Der Titel war ausverkauft. Stattdessen nur eine sündhaft teure Box von Bruce Springsteen: »Live/1975–85«. Vielleicht eine der bedeutsamsten Investitionen meines jungen Lebens. Das Taschengeld war freilich beim Teufel.
Frühjahr 2018. Ein Reitturnier in Florida. Meine Tochter kämpfte sich gerade durch den Parcours. Ich lehnte an einem Holzzaun am Rande der Arena. Neben mir ein amerikanisches Paar. Anerkennende Worte. Ich brummelte etwas zurück. Schaute aber doch auf, da die Stimme des Mannes vertraut klang.
Springsteen.
Eines seiner Kinder ritt auf demselben Turnier.
Ich erstarrte. In einem anderen Leben war ich nicht leicht zu beeindrucken gewesen. Wenigstens nicht allein durch Prominenz. Hatte immer Worte für die Wichtigen dieser Erde gefunden. Nun waren meine Knie weicher als damals auf der Kirchweih.
Ich fasste mir ein Herz, sprach ihn an. Stotternd:
»Danke.«
»Für was, mein Freund?«
»Für deine Treue.«
»Wie bitte? Ich kenne dich doch gar nicht.«
»Das musst du auch nicht.«
Ich hätte mich ohrfeigen können für die Banalität des Dialogs. Wie oft hatte ich mir ausgemalt, was ich mit ihm diskutieren wollte. Abends war ich doch ein bisschen stolz.
Zurück im Stadion. Mir laufen die Tränen herunter. Ich bin dankbar für diesen Wegbegleiter eines verrückten Lebens.
Und denke an den Bully aus der Parallelklasse.
»When your best hopes and desires
are scattered through the wind
And hard times come, and hard times go
[…]
Bring on your wrecking ball«
(Wrecking Ball, 2012)