Ich bin zu Besuch bei einem Bekannten. Er hatte die letzten zwei Jahre fast ausschließlich in Krankenhäusern verbracht. Nun ist er zu Hause, wirkt fröhlich und überrascht, mich zu sehen.
Vor einigen Wochen war ich seiner Frau begegnet, einer alten Studienfreundin. Sie fragte mich, ob ich einmal vorbeikommen könnte. Auf meine Frage, wie es ihm ginge, wich sie aus.
Er sitzt im Garten. Eine Infusion im Arm.
»Danke für deine Zeit.«
»Für dich immer.« Stimmt nicht ganz, diese Beziehung hatte ich zu sehr schleifen lassen.
Er weiß es und lächelt nur.
»Wie hast du das durchgestanden?«
»Am Anfang war es die Hölle. Irgendwann habe ich gelernt, mich nur auf die Gegenwart zu konzentrieren. Seitdem bin ich ein veränderter Mensch.« Seine Frau rollt mit den Augen. Aber sie stimmt ihm zu: »Manche Gurus nennen das gerne etwas pathetisch ›das Hier und Jetzt‹.«
Er fährt fort: »Es hat mir Schritt für Schritt die Ängste genommen. Vor dem Befundmarathon. Zunächst ein Hangeln von einer Angst zur nächsten. Dann habe ich begriffen, welche Kraft in jedem Augenblick liegen kann.« Plötzlich hätte er einem Krankenzimmer mehr als nur zweckmäßige Kälte abgewinnen können. Selbst eine empathielose Arztvisite wäre so erträglich geworden.
Wir sprechen über Zeit, Zeitvergeudung.
»Wie viel Zeit bleibt dir noch?«
»Die Frage ist mir mittlerweile gleichgültig.«
Es fällt mir schwer, ihm zu glauben. Trotzdem strahlt er diese Gewissheit aus.
Vor Kurzem hatte mich jemand auf den Zeitrahmen von Gegenwart hingewiesen. In der Neurowissenschaft gibt man ihr maximal drei Sekunden. Die Dauer subjektiver Gegenwart.
Dem Künstler Jochen Gerz wird ein entlarvender Satz zugeschrieben: »Gegenwart hält man für selbstverständlich und weiß am allerwenigsten darüber.« Wahrscheinlich hat er recht.
Im Alter von sechs bis acht Jahren können Kinder die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klassifizieren. Unser späteres Leben wird häufig nur von Gedanken über Vergangenes und Kommendes überlagert. Wie oft wünscht man sich einen Moment zurück, um etwas ungeschehen zu machen, nochmals zu erleben. Oder hofft auf ein Ereignis, das gewiss so nie eintreten wird. Man steht am Sterbebett oder Grab eines anderen und ersehnt diese Augenblicke. Und jongliert nur mit Illusionen.
Mein Bekannter sagt noch etwas Bemerkenswertes: »Es hilft mir auch im Umgang mit anderen. Ich sehe mich nicht mehr mit den Augen meiner Gegner. Die Lust, jemanden an seine Vergangenheit zu erinnern, ist oft nichts anderes als Gegenwartsbewältigung im eigenen Leben.«
Ich freue mich über seine Gelassenheit, den Frieden, den er mit sich und seinen dunklen Kapiteln gemacht hat.
Für einen Wimpernschlag, vielleicht drei Sekunden, fühle ich mich selbst gegenwärtig. Bis mich die Gedanken an Zukünftiges herausreißen. Gnadenlos in ihrer Wirkung und Unwirklichkeit.
Eine Woche später ruft mich seine Frau an. Sie weint.
Die Behandlungen würden endlich wirken.
Die Ziellinie des Befundmarathons scheint nahe.
Zumindest für sie.
Er hat sie längst durchlaufen.