Kai
Noch größtenteils in meiner Baseballuniform jogge ich den Flur entlang und betrete den abgedunkelten Raum so leise wie möglich. Max’ Geräuschmaschine übertönt meine Schritte, als ich zu seinem Bettchen eile.
Es geht ihm gut. Ich würde sogar sagen, es geht ihm besser als gut. Er schläft tief und fest in seinem kuscheligen Schlafanzug, in der kleinen Faust sein Lieblingskuscheltier, von dem ich Miller nicht mal was gesagt hatte.
Ich weiß nicht, warum ich ihr nicht gesagt habe, dass er ohne das fuchsförmige Schnullertuch nicht einschlafen kann, auch wenn ich froh bin, dass er so ruhig schläft. Zu behaupten, dass ich begeistert bin, wie gut sie anscheinend auch ohne meine Hilfe mit ihm zurechtkommt, wäre eine eiskalte Lüge.
Ich folge dem Lichtstreifen, der durch den Spalt unter der Tür zum Nebenzimmer fällt, und klopfe mit den Knöcheln dagegen.
»Komm rein«, sagt sie gerade laut genug, dass ich es hören kann.
Ich öffne die Tür und sehe sie mit gekreuzten Beinen auf der Matratze sitzen, den Blick auf den Fernseher gerichtet, auf dem stummgeschaltet Food Network läuft. Max’ Babyfon liegt neben ihr auf dem Nachttisch.
»Hast du überhaupt was davon, dir das anzusehen, wenn du den Ton ausgeschaltet hast?« Ich deute auf den Fernseher, aber Miller wendet den Blick nicht vom Bildschirm ab.
»Ohne Ton habe ich sogar viel mehr davon. Ich wollte nur sehen, wie sie die Frittata macht, und brauche keine Hintergrundgeschichte über die Hühnerfarm ihrer Urgroßmutter, die sie dazu inspiriert hat, dieses Gericht am ersten Schultag ihrer Kinder zuzubereiten.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest.«
Sie wirft einen kurzen Blick in meine Richtung und will gerade wieder der Frau auf dem Bildschirm zusehen, aber dann zuckt ihr Blick zu mir zurück, und sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Trägst du immer noch deine Uniform?«
»Ich hatte es eilig. Ich wollte wissen, ob mein Kind noch atmet.«
»Du hast den ganzen Abend über Nachrichten geschrieben. Entspann dich doch mal ein bisschen, Baseball-Daddy.« Sie konzentriert sich wieder auf den Bildschirm, aber dann runzelt sie die Stirn und sieht mich an. »Weißt du, bei dieser verklemmten Kontrollfreak-Attitüde weiß ich nicht, ob ich wirklich den ganzen Sommer lang auf Max aufpassen will.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Soll mich das etwa abschrecken?«
Sie kneift die Augen zusammen. »Dafür, dass du meinen Vater angeblich so sehr magst, scheinst du reichlich entschlossen zu sein, ihm das Leben schwer zu machen. Wenn du jeden so behandelst, der deinem Sohn für deinen Geschmack zu nahe kommt, dann werden alle Leute kündigen, die du nicht sowieso feuerst, und dann muss er sich schon wieder die Mühe machen, jemand Neuen zu suchen.«
Tja … Scheiße. Das ist unangenehm scharfsichtig.
Es fuchst mich, dass sie mich gleich am ersten Tag derart zur Rede stellt. »Wenn er dir ach so wichtig ist, wo hast du dann die ganze Zeit gesteckt? Ich spiele seit anderthalb Jahren für ihn und habe dich noch nie gesehen. Ich dachte, seine Tochter wäre noch ein Kind.«
»Ich bin nicht da, gerade weil er mir wichtig ist.«
Ich nicke, als würde ich genau verstehen, was sie da sagt. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Emmett Montgomery würde jederzeit seine Wohnung, seine Träume und auch seine Karriere aufgeben, um in meiner Nähe zu leben. Aber durch meine Arbeit bin ich niemals lange an einem Ort, also sehen wir uns ein paarmal im Jahr während der Auswärtsspiele. Jetzt habe ich zum ersten Mal, seit ich erwachsen bin, mal längere Zeit am Stück frei, und er hätte mich gern in seiner Nähe. Und ich schulde ihm was. Wenn du also bitte damit aufhören könntest, mir das Begleichen meiner Schuld so schwer zu machen?«
»Was meinst du damit, dass du ihm was schuldest?«
Sie winkt ab. »Vielleicht können wir uns ja irgendwann mal morgens zusammen betrinken, dann erkläre ich es dir gern.« Miller nimmt ihr Handy vom Nachttisch und hält es mir vor die Nase. »Sieh dir dieses Video von Max an. Guck doch mal, wie er sich freut.«
Das Video auf dem Handydisplay zeigt meinen Sohn, der übermütig auf der Couch herumtobt und auf den Fernsehbildschirm zeigt, wo ich gerade meinen Wurf mache. Er war noch nie bei einem meiner Spiele. War es heute das erste Mal, dass er mich spielen gesehen hat? Mir tut die Brust weh, als er immer wieder »Dadda« ruft, während er mir dabei zusieht, wie ich etwas mache, das ich mein ganzes Leben lang geliebt habe. Und dann, am Ende des Videos, kuschelt er sich an sein neues Kindermädchen.
Mir ist, als würden mir die Gesichtszüge entgleisen, und zugleich wird mir ein bisschen übel. Noch nie hat er jemanden so schnell ins Herz geschlossen, und noch nie habe ich gesehen, wie er sich an eine Frau kuschelt.
Es macht mir eine Scheißangst.
Miller hat mich heute Morgen ziemlich erschreckt. Aber noch viel mehr erschreckt mich die Frage, wie Max wohl in zwei Monaten reagieren wird, wenn sie wieder aus seinem Leben verschwindet, wenn er sie schon am ersten Tag so lieb gewonnen hat.
Sie blättert durch die Fotos, die sie heute von ihm gemacht hat. Auf sämtlichen Bildern strahlt Max übers ganze kleine Gesicht. Als sie mit ihrer Diashow fertig ist, drehe ich mich wortlos um und will zurück in mein Zimmer.
»Das ist alles?«, fragt sie.
Ich bleibe stehen. »Was willst du noch von mir hören?«
»Ich weiß nicht. Wie wäre es mit Danke, Miller. Es wundert mich nicht, dass mein Sohn dich jetzt schon liebt, denn offenbar kann man mit dir wirklich gut auskommen? Oder du könntest versuchen, mich besser kennenzulernen. Irgendwas in der Art.«
»Ich will dich nicht kennenlernen.«
Was soll das auch bringen, wenn sie bald abreist?
Sie zuckt zusammen. »Ist dein beschissenes Sozialverhalten erst mit der Vaterschaft gekommen, oder wurdest du so geboren?«
Ich sage nichts und lehne mich mit der Schulter gegen die Tür zwischen unseren Zimmern.
»Dir ist schon klar, dass du das eigentliche Problem bist, oder? Mit deinem Sohn ist alles ganz entspannt.«
Auch jetzt sage ich kein Wort.
Mir ist völlig bewusst, dass ich das Problem bin, das muss mir niemand sagen. Ich weiß, dass ich an einem übermäßigen Beschützerinstinkt leide und Max ganz einfach zu handhaben ist. Aber neben meinem Bruder ist er nun mal alles an Familie, was ich habe.
Miller stößt einen müden Seufzer aus, als hätte sie die Nase voll von mir. »Du willst also nicht antworten? Cool. Brauchst du sonst noch irgendwas?« Sie deutet auf meine Schulter. »Musst du noch irgendein Work-out machen oder so, ehe ich Feierabend mache?«
»Nein, ich bin für heute fertig.«
Die Lüge geht mir leicht über die Lippen. Ich werde dafür bezahlen, dass ich heute Abend bis ins achte Inning hinein auf dem Feld war, ohne mich danach um Schulter, Ellbogen oder Handgelenk zu kümmern. Ich hätte noch eine Runde schwimmen oder für eine Stunde in den Trainingsraum gehen sollen, wo sie mich durch einen Haufen Dehnübungen gejagt hätten. Stattdessen bin ich in den ersten Bus gestiegen, der die Arena verließ, ohne mich auch nur umzuziehen.
Miller lacht, aber es klingt überhaupt nicht belustigt. »Himmel, endlich sagst du was, und dann ist es so ein Blödsinn.«
Dumm von mir, sie über meine Routine nach dem Spiel anzulügen. Sie ist die Tochter eines Baseballtrainers.
Sie steht auf und reicht mir das Babyfon. »Ich hatte echt vor, diesen Sommer die verdammte Mary Poppins zu geben, aber ich werde mich auf keinen Fall zwei Monate lang mit dir rumärgern.« Lässig schnappt sie sich ihre Sachen. »Max ist toll, aber du …« Sie schüttelt den Kopf.
Was macht sie da? Was denkt sie, wo sie hingeht? Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie Mist baut, damit ich sie feuern kann, aber jetzt geht sie von sich aus.
Ich denke an den kleinen Jungen im Zimmer nebenan, der tief und fest schläft, nachdem er den Tag mit dem Mädchen verbracht hat, das jetzt meinetwegen gehen will.
Rasch verstelle ich ihr den Weg. »Wohin gehst du?«
»So weit weg von dir, wie ich nur kann. Anfangs fand ich die Nummer mit dem überfürsorglichen alleinerziehenden Vater ja irgendwie heiß, aber jetzt …« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Nein, das ist mir zu anstrengend.«
Sie will um mich herum zur Tür gehen, aber ich blockiere den Ausgang.
»Bitte geh mir aus dem Weg.«
»Wohin gehst du?«, frage ich erneut. »Es ist schon spät.«
Sie wirft den Kopf zurück, als wolle sie sich sammeln. »Ich muss noch packen, damit ich morgen nach Chicago fahren kann.«
»Oh.« Das ist ein gutes Zeichen. Sie ist auf dem Weg zurück in meine Stadt. »Also sehen wir uns dann am Sonntag? Bei mir zu Hause?«
Sie lacht leise, es klingt gereizt. »Erst wolltest du nicht, dass ich auf deinen Sohn aufpasse. Jetzt willst du es auf einmal doch. Entscheide dich, Rhodes. Was willst du?«
Verdammt gute Frage. Glaubt sie denn, ich wüsste das? Ich will, dass Max in Sicherheit ist. Am liebsten will ich es sein, der dafür sorgt, aber ich kann nicht 24 / 7 bei ihm sein. Ich will, dass er glücklich ist. Aber ich will nicht, dass ihm das Herz gebrochen wird, wenn diese Frau in zwei Monaten wieder geht.
Ich nehme meine Cap ab und fahre mir frustriert mit der flachen Hand übers Haar, bevor ich sie wieder aufsetze, den Schirm nach hinten gedreht. »Ich weiß es nicht, Miller.«
»O mein Gott.« Sie wirft die Hände in die Luft. »Ich bin so was von fertig mit dir. Geh weg.«
Sie will sich an mir vorbeidrängen. Ohne nachzudenken, versuche ich, sie aufzuhalten, aber sie bewegt sich in die eine Richtung und ich mich viel zu schnell in die andere, und irgendwie landen meine Hände nicht wie geplant auf ihren Oberarmen, sondern auf ihren Brüsten.
Wir beide erstarren.
Millers Blick wandert zu meinen Händen hinunter und dann wieder hoch in mein Gesicht. Eine Weile sagt sie gar nichts, dann räuspert sie sich. »Willst du sie die ganze Nacht dort lassen, oder …«
»Scheiße.« Hastig nehme ich die Hände weg, lasse sie hängen und balle sie zu Fäusten, als wolle ich sie daran hindern, noch mal nach Miller zu greifen. Denn verdammt noch mal, sie hat sich echt gut angefühlt. Mir ist, als stünden sämtliche Nervenenden in Flammen. Ich hatte schon fast vergessen, wie köstlich sich das Gewicht von Brüsten in meinen Händen anfühlt. Meine Finger kribbeln, als sie sich wieder daran erinnern.
O Gott. Wie verdammt erbärmlich ist es bitte, dass ein versehentlicher Griff an zwei Brüste sexuell gesehen das Aufregendste ist, was seit neun Monaten in meinem Leben stattgefunden hat?
»Willst du sie noch mal anfassen?«, fragt Miller, und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich sie beim Nachdenken und Fantasieren die ganze Zeit angestarrt habe. »Wenn dich das Anfassen meiner Brüste verdammt noch mal entspannt, dann bitte, nur zu.«
»Tut mir leid … Ich … Es war ein Versehen.«
»Du tust so, als hättest du noch nie Titten berührt. Du hast ein Kind. Ich hoffe, du durftest in der Nacht, in der du den Kleinen gezeugt hast, welche anfassen.«
»Ich bin sicher, dass ja, es ist nur … Entschuldigung.«
Millers Miene wird sanfter, und sie versucht nicht mehr, zur Tür hinaus zu fliehen, aber mit einem Mal fühle ich mich wie ein gruseliger alter Freak, der sie begrapscht hat und jetzt nicht gehen lassen will.
Ich trete beiseite, um ihr den Weg frei zu machen, und sie geht wortlos an mir vorbei.
»Sehen wir uns in Chicago?«, frage ich verzweifelt.
Miller hält einen Moment inne, bevor sie sich wieder umdreht. »Kai«, sagt sie, ihre Stimme ist ganz sanft, und schon am Tonfall erkenne ich, dass mir ihre Antwort nicht gefallen wird. »Ich habe diesen Sommer viel zu tun, und es steht einiges an, was für mich sehr, sehr viel Stress bedeutet. Ich kann deinen Stress nicht noch obendrauf gebrauchen. Ich dachte, ich könnte meinem Vater den Gefallen tun, ich wollte es gern für ihn tun, aber ich glaube nicht, dass es klappt.« Sie lächelt mir zu – beschwichtigend. »Du hast ein großartiges Kind. Ich hoffe für euch beide, dass du bald lernst, alles ein bisschen lockerer zu sehen.«
Scheiße.
Mit einem Mal würde ich sie gern so vieles fragen. Was für ein Stress sitzt ihr im Nacken? Was kann ich tun, um ihre Meinung zu ändern?
Und ich denke an Monty.
Himmel, mein Bruder hatte recht, ich bin ein grantiges Arschloch. Denn wer, wenn nicht ein grantiges Arschloch, würde ausgerechnet Monty so blöd in die Suppe spucken? Er war so gut zu mir und meiner Familie, und er wollte so gern den Sommer mit seiner Tochter verbringen.
Und mein Sohn. Scheiße. Mein Sohn mochte sie.
Wie viele Nächte habe ich wach gelegen und mir Sorgen gemacht, weil er unter lauter Männern aufwächst? Zum ersten Mal in seinem Leben mochte er eine Frau sofort gern, hat sich mit ihr wohlgefühlt, und dann jage ich sie davon mit meiner Blödheit.
Ich beobachte, wie Miller den Flur hinuntergeht, sehe, wie sie in den Aufzug steigt, und frage mich, wie es sein kann, dass ich sie noch vor wenigen Stunden zum Teufel gewünscht habe … und mir jetzt, da sie weg ist, verzweifelt wünsche, sie würde bleiben.