Miller
Vor dem Stadion in Anaheim herrscht wohlorganisiertes Chaos. Die Ausrüstungsmanager überwachen das Beladen der Busse, während die Mannschaft nach dem Spiel duscht. Schreiende Fans halten Schilder und Trikots in die Höhe und hoffen darauf, ihren Lieblingsspieler zu Gesicht zu bekommen, bevor wir uns auf den Weg zum Flughafen machen.
Normalerweise sitze ich zu dieser Zeit schon im Bus, und Max schläft, aber er war krank, was seinen üblichen Tagesablauf völlig aus dem Takt gebracht hat. Ich bin total übermüdet, weil es harte Arbeit ist, sich auf einer Reise um ein krankes Kleinkind zu kümmern.
Ich gehe mit ihm beim Hintereingang der Umkleide auf und ab und wiege ihn, um ihn zu beruhigen, aber in den letzten Tagen hat sich herausgestellt, dass er sich, wenn es ihm richtig schlecht geht, nur von seinem Vater trösten lässt. Aber Kai hat heute Abend gespielt und gibt bestimmt gerade noch Interviews und macht Physiotherapie.
Mein Kopf hämmert. »Alles gut, Max. Pssst.« Ich streichle ihm den Rücken und drücke seinen Kopf leicht an meine Schulter, in der Hoffnung, dass er ein bisschen zur Ruhe kommt.
Aber keine Spur. Er heult verzweifelt auf, sein Schrei direkt neben meinem Ohr ist ohrenbetäubend laut. »Dadda«, schluchzt er mit eisblauen, rot umrandeten Augen und sieht sich panisch auf dem belebten Parkplatz um. »Dadda!«
»Ich weiß. Ich weiß, ich weiß. Er kommt bald.«
Er hört nicht auf und nimmt irgendwoher die erstaunliche Lungenkapazität, um noch lauter zu schreien.
Mein Vater wirft mir einen besorgten Blick zu, aber er muss dringend mit dem Rest des Trainerstabs Scouting-Berichte durchgehen, also behaupte ich, alles sei in Ordnung.
Jeder hat seine Aufgabe zu erfüllen, und das hier ist nun mal meine.
Aber ich habe keine Ahnung, was zum Teufel ich machen soll. Ich weiß, wie man mit Max spielt oder wie man herausfindet, ob er gerade müde ist, Hunger hat oder eine neue Windel braucht. Aber wie ich ihm helfen kann, wenn er krank und völlig fertig ist, das weiß ich nicht.
Ich verfüge offenbar nicht über die berühmte mütterliche Intuition, und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich meine eigene Mutter so jung verloren habe. Und zum ersten Mal macht es mir etwas aus, dass mir diese Instinkte fehlen.
Wenn ich etwas besonders gut kann, verspüre ich große Genugtuung, fühle mich dazugehörig und weiß, dass ich die Investition wert bin – ob es nun die Chefköche sind, die in mich investiert haben, indem sie mich für exklusive Praktika ausgewählt haben, oder auch mein Vater, der mich adoptiert und dafür viel aufgegeben hat.
Aber für Kai und seinen Sohn kann ich gerade überhaupt nichts tun.
Die Fans säumen den abgesperrten Bereich, der für die Mannschaft den Weg zum Bus frei hält, aber die meisten Jungs nehmen sich einen Moment Zeit, um ein paar Autogramme zu geben und sich bei den Fans zu bedanken, die so lange geblieben sind.
Sie starren mich an, als würden sie denken, ich hätte keine Ahnung, weil ich hier um elf Uhr abends mit einem schreienden siebzehn Monate alten Kind herumrenne, und damit haben sie vollkommen recht. Jeder sieht sofort, dass ich nicht das bin, was er gerade braucht. Ich werde immer unsicherer.
Noch vor sieben Wochen wollte ich den Sommer damit verbringen, an neuen Rezepten zu arbeiten und in der Küche wieder in die Spur zu kommen, aber jetzt denke ich an nichts anderes als daran, dass ich Max helfen will, sich besser zu fühlen. Ich weiß, dass es ihm nicht gut geht, das sieht man ihm deutlich an. Er hat Halsweh, und seine Nase läuft ununterbrochen. Aber ich bin nicht Kai, und Max wird sich nicht beruhigen, bis sein Vater hier ist.
Mein Kopf pocht so heftig, dass ich mich einfach nur noch in ein Bett fallen lassen und ein paar Stunden schlafen möchte. Endlich kommt Kai, die Cap mit dem Schirm nach hinten gedreht und ohne Brille. Zu meinem Ärger sieht er ebenso gut aus, wie ich mich beschissen fühle.
Beim Schrei seines Sohns kommt er sofort auf uns zu.
»Komm her.« Kai nimmt mir Max ab und wippt auf und ab, um ihn zu beruhigen. »Alles gut«, flüstert er. »Alles ist gut, kleiner Käfer. Ich bin da.«
Max’ Wehklagen verebbt zu einem Schniefen. Leise weinend schmiegt er sich an die Schulter seines Vaters.
»Hat er denn gar nicht geschlafen?«, fragt mich Kai. Es klingt schroff.
Ich schüttle nur den Kopf, zu müde, um zu antworten, und zu beschämt, weil ich nicht helfen konnte.
Kai seufzt. Er hat drei Nächte lang nicht richtig geschlafen. Er ist nicht nur genauso erschöpft wie ich, sondern fühlt sich wahrscheinlich schuldig, weil er seinen kranken Sohn mit auf eine anstrengende Reise schleppt. Dazu kommt, dass er heute Abend nicht gut geworfen hat. Sie haben am Ende wegen einem seiner Würfe verloren.
Kai sieht mich an, und ich spüre, wie sehr er sich danach sehnt, mich an sich zu drücken. Ich wünsche mir, dass er es tut. Am liebsten würde ich meine blöden Regeln vergessen und mich in seine Arme sinken lassen. Ich könnte seinen Trost gerade gut gebrauchen. Tatsächlich werde ich so langsam süchtig danach.
Doch ehe ich etwas sagen kann, klopft ihm einer der Medienkoordinatoren des Teams auf die Schulter.
»Du machst wohl Witze«, sagt Kai, der weiß, was der Mann von ihm will, noch ehe er ein Wort sagt. »Mein Kind ist krank. Lass mich einfach in den verdammten Bus steigen.«
Er ist wirklich fertig – Kai flucht praktisch nie in Gegenwart seines Sohns.
»Tut mir leid, Ace.« Der Koordinator wirkt ein bisschen erschrocken. »Du bist den Fans schon nach deinen letzten beiden Spielen ausgewichen. Leider muss ich darauf bestehen, dass du heute Abend noch deine Runde drehst.«
Kais Blick ist mörderisch, und ich habe Mitleid mit dem armen Pressesprecher, der nur versucht, seine Arbeit zu machen.
Ich strecke die Hände aus. »Soll ich ihn nehmen?«
»Nein.« Ich bin nicht überrascht über seine abweisende Antwort. Er ist schon seit Tagen gereizt, und vielleicht verdiene ich es ja auch, dass er von mir genervt ist. Ich war ihm keine große Hilfe.
Kai streift sich die Jacke von den Schultern und deckt seinen Sohn damit zu. »Das ist doch einfach nur Blödsinn«, murmelt er, und dann setzt er ein Lächeln auf und steuert auf die Horde Fans zu, deren Lärmpegel vor Aufregung immer höher wird, je näher er ihnen kommt.
Der arme Koordinator grinst mich verlegen an, bevor er weitere Spieler anspricht, damit sie ihre Fan-Runden drehen. Zu seinem Glück reagiert keiner von ihnen so gereizt wie Kai.
Weitere Spieler schließen sich an. Ich beobachte Kai, der mit seinem hübschen Lächeln die Fans begrüßt und mit der freien Hand Autogramme gibt. Es gibt auch eine Menge männliche Fans, die ihn anhimmeln, aber ich sehe nur die Frauen. Frauen, die den kleinen Max in seinen Armen anstrahlen. Frauen mit Schildern, auf denen sie schamlos verkünden, wie gern sie dem alleinerziehenden Vater des Teams die Frau ersetzen würden.
Ich hasse sie alle, und es ist mir egal, wie kindisch das klingt.
Ich will nicht daran denken, dass er irgendwann eine Frau kennenlernen wird, die keine Angst vor Verbindlichkeit hat und genau das ist, was er sucht. Dass diese Frau seine Familie vervollständigen wird.
Und ich hasse es zu wissen, dass nicht ich diese Frau sein werde, weil ich nur ein Sommerflirt auf der Durchreise bin.
»Millie«, ruft mein Vater und winkt mich zum Mannschaftsbus hinüber. »Bist du okay? Du siehst aus, als wärst du krank.«
Genau so fühle ich mich auch, Dad.
Er legt den Handrücken an meine Stirn. »Fieber scheinst du nicht zu haben.«
»Ich bin einfach nur völlig erschöpft.«
»Warum setzt du dich für diesen Flug nicht zu mir nach vorn, damit du dich ausruhen kannst?«
»Nein, alles gut. Kai hat gerade ein Spiel hinter sich, ich lasse ihn jetzt nicht mit einem kranken Baby allein.«
»Nun, mein Baby ist auch krank, und ich mache mir Sorgen.«
Ich stoße ein halbherziges Lachen aus. »Ich bin fast sechsundzwanzig, Dad.«
»Und du wirst immer mein Baby sein.«
Dieser Mann ist ein wandelnder Gegensatz. Groß und gebaut wie ein Panzer, mit Tattoos übersät … und der sanfteste Typ, den ich kenne.
»Na komm.« Er geht auf den Bus zu. »Wir müssen zum Flughafen.«
Instinktiv sehe ich noch mal zu Kai rüber. Er spricht gerade mit einer Frau. Sie hat langes rotbraunes Haar und ist natürlich wunderschön. Auf ihrem Trikot steht sein Name. Er sagt etwas zu ihr, und sie wirft lachend den Kopf zurück, streicht sich das Haar hinters Ohr und sieht ihn unter gesenkten Wimpern an.
Ich kenne diesen Blick. Ich habe ihn selbst schon so angesehen.
Jetzt bin ich nicht nur müde, sondern auch wütend.
Sie gibt ihm einen Stift, dreht sich um und wirft ihr Haar zur Seite, damit er ihr Trikot signieren kann, und als er fertig ist, sollte man meinen, dass er weitergeht. Aber nein, er bleibt stehen und plaudert noch ein wenig mit ihr. Sie deutet auf Max, der inzwischen endlich ruhiger geworden ist, und was auch immer sie sagt, zaubert ein Lächeln auf Kais Gesicht. Ein Lächeln, das sonst im Normalfall mir gilt.
Und dann drückt sie ihm ein Stück Papier in die freie Hand – ihre Nummer, zweifellos. Mein Blut beginnt zu kochen.
Ich darf nicht besitzergreifend sein, ich habe nicht das Recht dazu, aber ich kann nicht anders. Ich bin völlig aufgewühlt. Diese Frau weiß nichts über ihn.
Sie weiß nicht, dass er seinen Bruder großgezogen hat oder dass er sich fast zur Ruhe gesetzt hätte, als er von einem Tag auf den anderen alleinerziehender Vater wurde. Sie weiß nicht, wie er schmeckt oder dass bei intensiven Küssen seine Brille beschlägt.
Ich weiß, ich weiß. Er ist absurd attraktiv und außerdem Profisportler. Und ich weiß, dass es auch auf andere Frauen attraktiv wirkt, dass er alleinerziehender Vater ist, nicht nur auf mich. Aber er ist nicht verfügbar.
Oder?
Seit wann bin ich eifersüchtig? Ich habe mich noch nie zuvor jemandem verbunden genug gefühlt, um eifersüchtig zu sein.
Und warum sehe ich auf einmal diese rothaarige Frau als Max’ neue Mutter vor mir?
Ich wette, sie wüsste, wie man ihn beruhigen kann, wenn er krank ist. Bestimmt hätte sie es eben auf dem Parkplatz geschafft, ihn zu trösten. Sie ist wahrscheinlich Anwältin oder Ärztin. Schlimmer noch, sie ist wahrscheinlich Kinderärztin , die tausend Strickjacken besitzt und aus einer riesigen Familie stammt, die die beiden mit Handkuss in ihrer Herde willkommen heißen würde.
Kai ist ein Familienmensch. Ganz bestimmt hätte er gern eine große Familie für seinen Sohn.
Gott, sie ist perfekt. Ich hasse sie so sehr.
Deshalb brauche ich Freundinnen. Ich kann meinem Vater unmöglich mitteilen, wie sehr ich Kais rothaarige zukünftige Frau hasse, oder dass die beiden meine Jungs sind und ich nicht bereit bin, sie zu teilen, auch wenn ich schon bald die Stadt verlassen werde.
Also schreibe ich der einzigen Freundin, die ich habe.
Ich: Kais zukünftige Frau ist umwerfend. Ich hasse sie. Sie hat rote Haare, und ich bin kurz davor, deswegen alle Rotschöpfe zu hassen.
Kennedy: Ich habe rote Haare.
Ich: Ich weiß. Deshalb warne ich dich vor. Aber wenigstens versuchst du nicht, den Mann zu verführen, mit dem ich schlafe, indem du ihn bittest, dein Trikot zu signieren oder ihm Erziehungstipps gibst, die bestimmt ganz fantastisch sind, während du ihm völlig beiläufig einen Zettel mit deiner Telefonnummer in die Hand drückst.
Kennedy: Oha. Bist du eifersüchtig auf die Fans?
Ich: Ich bin nicht eifersüchtig. Aber ja.
Kennedy: Warum das? Du und Ace, ihr schlaft doch nur miteinander, oder?
Ich: Genau.
Kennedy: Ich muss noch den Trainingsraum fertig aufräumen, aber sitzen wir gleich im Flieger nebeneinander? Wir könnten auf dem Flug nach San Francisco über all deine verwirrenden Gefühle reden.
Ich: Geht heute nicht, Max geht es nicht gut. Aber lass uns doch morgen essen gehen oder so.
Kennedy: Abgemacht. Aber warte mal. Hast du etwa meine Nummer in deinem Handy gespeichert? Ich fühle mich geehrt, Miss Ungebunden.
Ich: Ja.
Ich: Du weißt, was das bedeutet, oder? Wir sind jetzt in einer festen Beziehung.
Kennedy: OMG . Bin ich deine erste?
Ich: Du hast mich quasi beziehungs-entjungfert, Kennedy Kay.
Kennedy: Doppelt geehrt.
Ich werfe Kai und seinem Sohn noch einmal einen langen Blick zu. Er unterhält sich immer noch mit dieser Frau, und bevor ich den Blick abwenden kann, dreht er sich um und sieht, wie ich ihn anstarre. Wie versteinert erwidert er meinen Blick, während sie weiter auf ihn einredet, und unser Blickkontakt wird erst unterbrochen, als ich ihm irgendwann verständnisvoll zulächle und mich dem Bus zuwende.
Ich will es nicht verstehen, aber ich verstehe es trotzdem: Kai wird irgendwann eine Frau kennenlernen, die bereit ist, sich mit ihm niederzulassen, und wir wissen beide, dass das nicht ich sein werde.